Es ist nicht lange her, da wurden Flüchtlinge mit Beifall empfangen. Jetzt von einem rechten Mob. Hat die Kölner Silvesternacht alles verändert? Der Sozialpädagoge Samy Charchira kommentiert die aktuelle Debatte.
Schaute die Welt in den vergangenen Wochen auf Deutschland, so könnte sie den Eindruck gewinnen, dass bei uns die Anarchie ausgebrochen ist oder der Ausnahmezustand verhängt wurde. Denn unsere Medien lieferten dazu sehr schnell extrem verstörende Bilder: Blutüberströmte Frauen, die auf offener Straße von Horden von Männern attackiert werden oder uniformierte Polizeikräfte in hektischen Abwehrsituationen unter Blaulicht oder andere sehr martialische Bilder und Aufnahmen. Alles soll auf ein staatliches Versagen und einen Ausbruch von Gesetzeslosigkeit hindeuten. Dass die meisten dieser Bilder aus Ägypten, Ungarn oder anderswo stammen, erfährt man nur nach gründlicher Recherche. Doch die tendenziöse Berichterstattung funktioniert. Nun kommen ausländische Reporter nach Köln, Düsseldorf oder Berlin. Sie wollen wissen, wo sich das imaginäre „Maghreb-Viertel“ befindet und wo sich das angebliche Kollektiv von 1.000 junger Männer, die sich zu sexuellen Übergriffen auf Frauen verabreden, aufhält. Dass dies eine unfassbare Verzerrung der tatsächlichen Ereignisse ist, muss mühsam erklärt werden.
Was in der Silvesternacht in Köln geschehen ist, zeichnet sich nur allmählich ab. Was feststeht ist, dass unfassbar viele Frauen nicht nur bestohlen wurden, sondern auch Opfer von sexuellen Belästigungen und Übergriffen wurden. Die meisten Täter sind nicht bekannt und werden leider wohl nie zur Rechenschaft gezogen. Man kann nur erahnen, welche Kränkung das für alle Frauen darstellt und insbesondere für diejenigen Frauen, die diese Übergriffe am eigenen Leibe erfahren mussten – auch deshalb, weil Frauen in unserer Gesellschaft schon seit Jahrzehnten immer wieder Opfer sexueller Gewalt werden. Die Rate der Gewalt gegenüber Frauen in Deutschland liegt nach einer Studie der Europäischen Grundrechte-Agentur (FRA) bei empörenden 35 Prozent und somit über dem europäischen Durchschnitt. Bei jährlichen Brauchtumsfesten wie Karneval oder Oktoberfesten müssen mittlerweile Schutzräume und Security Points für Mädchen und Frauen eingerichtet werden. Eine Fokussierung auf die überfällige Debatte über Sexismus und sexuelle Gewalt in Deutschland wäre also eine logische Konsequenz der Ereignisse in Köln. Doch stattdessen debattieren wir pausenlos über die Herkunft der jugendlichen Verdächtigen, statt über die seit Jahren geforderte Verschärfung des Sexualstrafrechts. Als wäre es den Frauen wichtiger von wem sie belästigt oder erniedrigt werden.
Doch selbst zu den Tätern wissen wir erschreckend wenig. Nur einige Tage nach den beschämenden Ereignissen in Köln benannte die Polizei eine Zahl von Verdächtigen aus einer Gruppe von 1.000 Männern. Diese Zahl musste ständig korrigiert werden. Mitte Januar betrug die Zahl der Verdächtigen 21 Personen, unter ihnen auch Iraner, Syrer, ein US-Amerikaner und ein Serbe. Nur selten konnten die Verdachtsmomente erhärtet werden. Aktuell ermittelt die Kölner Polizei gegen 73 Beschuldigte, darunter auch Deutsche. Doch auch dieser Personenkreis dürfte in den nächsten Tagen, ähnlich wie in den letzten Wochen, kleiner werden. Die Ereignisse in Köln bleiben hinsichtlich ihres Ausmaßes bisher außerordentlich, die Problemstellung mit allein reisenden straffällig werdenden jungen Männern definitiv nicht. Denn diese Gruppen, darunter auch viele maghrebinischer Herkunft, sind länger bekannt.
Meistens kommen diese jungen Männer aus dem benachbarten europäischen Ausland. Sie haben dort in der Regel schon einige Jahre in der rechtlichen Illegalität verbracht und waren vom Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt und sozialer Versorgung ausgeschlossen. Sie wurden dort bereits straffällig, haben für sich keinerlei Perspektiven eröffnen können und verfallen nicht selten in Alkohol- und Drogenmissbrauch. Seit ca. 2 bis 3 Jahren halten sie sich nun in deutschen Großstädten auf und führen ihre Existenz nach ihrem bisherigen Verhaltensmuster weiter. Auf der Suche nach einer besseren Zukunft kommt eine neue Gruppe über die türkisch-griechische-Grenze hinzu. Sobald sie in Flüchtlingsaufnahmeeinrichtungen registriert werden, haben sie zwar eine Existenzgrundlage, doch keine Chance auf Anerkennung oder längerfristigem Aufenthalt. Die äußerst prekäre rechtliche und soziale Situationen dieser Jugendlichen und jungen Männer kann ihr Verhalten teilweise erklären, aber keineswegs entschuldigen oder gar rechtfertigen. Dass ihre Straffälligkeit geahndet werden muss, steht genauso außer Frage, wie die Tatsache, dass wir ihnen nicht tatenlos gegenüber stehen dürfen und wir uns mit ihnen auseinander setzen müssen. Dies haben wir bisher leider nur sehr unzureichend getan.
Für den zunehmend aggressiv geführten gesellschaftlichen Disput zur Flüchtlingssituation waren die Ereignisse von Köln ein gewaltiger Beschleuniger. Von den Opfern war längst keine Rede mehr, stattdessen erlebten wir krampfhafte Versuche der Konfessionalisierung und Ethnisierung. Sehr schnell wurden die Täter in einem fiktiven „Maghreb-Viertel“ verortet und ihre Taten mit Herkunft, Kultur und Religion erklärt. Ein neues Feindbild von dem „arabischen bzw. maghrebinischen Mann“ war konstruiert; in gerade mal zwei Wochen. Getrieben vom Damoklesschwert der „Lügenpresse“ konnten sich selbst große und seriöse Medien diesem Sog offensichtlich nicht entziehen und verbreiteten dieses neue Feindbild in rasender Geschwindigkeit. Dies hat den medialen Blick auf unser Land in der Welt erheblich geschadet und wurde zu Wasser auf den Mühlen populistischer und rechtsradikaler Gruppen. Für diese Gruppen war es der Beweis für eine gescheiterte Flüchtlingspolitik. Sehr schnell fiel bei vielen die Maske des vermeintlich „besorgten Bürgers“ und in Echtzeit konnten wir verfolgen wie sich Gruppierungen rechter Gesinnung extrem radikalisieren. Nun erleben wir es wieder: Öffentliche Hassreden zu rassistisch-biologischen Reproduktionstheorien, Forderungen nach einem Schießbefehl für deutsche Polizisten auf Flüchtlinge, die Verteidigung der „Mannhaftigkeit“ des deutschen Mannes und etliche zu tief rassistische und verfassungsfeindliche Forderungen und Parolen, die an eine längst geglaubt überwundene Zeit erinnern.
Vergessen waren nicht nur die Opfer der Ereignisse, sondern auch die Millionen Bürger unseres Landes, die sich tagtäglich und ehrenamtlich für ihre Mitmenschen einsetzen und unsere Werte und Ideale aufs Neue verteidigen. Mit Hilfe einer umstrittenen Berichterstattung der letzten Wochen, einer im Netz organisierten „Postingwelle“ und fragwürdigen Kundgebungen stilisierte sich eine immer radikal werdende Minderheit zur vermeintlichen Meinungsführerschaft und setzte so Politik, Polizei, Medien und Zivilgesellschaft unter Druck. Mit erschreckendem Erfolg.
Im Zentrum der Debatte steht plötzlich die deutsch-maghrebinische Gemeinde in Deutschland, die hier seit mehr als einem halben Jahrhundert im Einklang mit ihrer Stadtgesellschaft lebt und nun für dieses neue Feindbild herhalten soll. 50 Jahre des Vertrauens auf die gemeinsamen Werte, Solidarität und friedliches Miteinander sollen plötzlich vergessen sein. In jedem Fall wird dieses Vertrauen nun auf eine harte Probe gestellt und ist erheblich tangiert. Die Gemeinde fühlt sich nun in Sippenhaft genommen und unter Generalverdacht gestellt. Seit Köln wird sie auf ihre Herkunft, Kultur und Religion reduziert. Dass sie mit den Verdächtigen in Köln und den straffälligen Jugendlichen anderswo – außer dem sprachlichen Hintergrund – nichts gemein hat, ist scheinbar vielen egal.
Die Konsequenzen lassen nicht lange auf sich warten: Gewalttätige Bürgerwehren patrouillieren auf der Suche nach nordafrikanisch stämmigen Männern, aggressive Rockerbanden machen Jagd auf sie und ganze Bevölkerungsgruppen bewaffnen sich. Migranten werden wieder auf offener Straße angegriffen und der Einlass in öffentliche Einrichtungen wird gar nicht oder nur unter Auflagen gewährt. Flüchtlinge werden auf offener Straße vom pöbelnden Mob bedroht und die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsheime steigt merklich. Selbst die Polizei scheint in diesen Sog zu geraten und sieht sich mit Vorwürfen von übertriebener Polizeigewalt und racial profiling in Clausnitz, Düsseldorf und anderer Orts konfrontiert.
Die Ereignisse der letzten Wochen sind nicht nur brandgefährlich, sondern auch ein herber Rückschlag für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Wir tun gut daran, uns nicht auseinander dividieren zu lassen, denn die freiheitlichen und egalitären Werte unserer Republik sind ein hohes Gut und können von uns nur gemeinsam vereidigt werden. Was wir jetzt dringend benötigen, sind besonnene Lösungsansätze im Umgang mit straffälligen allein reisenden jungen Männern und eine konstruktive gesellschaftliche Debatte über Sexismus und sexualisierte Gewalt gegen Frauen, denn mit Stigmatisierung, Ressentiment und Polarisierung lassen sich keine der Probleme lösen. Das kann uns nur gelingen, so wie es uns bisher immer gelungen ist: gemeinsam, solidarisch und in Rechtstaatlichkeit.