Der Islam in Deutschland hat viele Gesichter. Wie das Verhältnis von „Mainstream-Muslimen“ und anderen Gemeinschaften aussieht und welche Chancen und Herausforderungen diese Heterogenität mit sich bringt, erklärt Ali Mete.
Muslime in Deutschland sind Teil der Umma. Genauso sind viele Teile der Umma in Deutschland vertreten. Deshalb ist die deutsch-muslimische Gemeinschaft nicht homogen, sondern viel heterogener als angenommen. Diese Heterogenität gilt als Reichtum, birgt allerdings auch Chancen und Herausforderungen. Im Folgenden soll umrissen werden, worin die Herausforderung im innermuslimischen Spannungsfeld zwischen „Mainstream-Muslimen“ und „umstrittenen muslimischen Gruppierungen“ besteht.
Der Mainstream-Islam in Deutschland ist sunnitisch, türkisch und hanafitisch geprägt [1]. Aufgrund des Zuzugs von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum wird gemutmaßt, dass der Islam in Deutschland arabischer werden wird. Inwieweit das zutrifft, ist derzeit offen.
Aus Sicht dieses Islams umstrittene Gruppen sind z. B. einige schiitische und alevitische Richtungen, mit denen der sunnitische Islam historisch, kulturell, politisch und nicht zuletzt theologisch einiges trennt. Hier bestehen jahrhundertealte Konflikte, die einem mehr oder minder stabilem Kompromiss zugeführt wurden. Weitestgehend undiskutiert hingegen ist das Verhältnis zu sogenannten liberalen Muslimen und der Ahmadiyya. Bei den ersteren handelt es sich lediglich um einige wenige Vereine, die aber die Gunst der Medien und Politik genießen. Die Ahmadiyya gibt es schon länger in Deutschland, sie ist aber erst seit kurzem im öffentlichen deutschen Islamdiskurs in Erscheinung getreten.
Der sunnitische Islam hat sich seit Beginn der Arbeitsmigration nach Deutschland erst in Moscheen, dann regionalen und bundesweiten Strukturen organisiert. Die größten sind die DITIB, Islamrat, VIKZ und ZMD. Diese sind jeder für sich, aber auch gemeinsam über den KRM, von der lokalen bis auf Bundesebene in Kontakt mit unzähligen gesellschaftlichen Akteuren. Unter ihren Mitgliedsgemeinden befinden sich etwa IGMG, ATIB und IGD, aber auch bosnienstämmige und sogar einige wenige alevitische und schiitische Gemeinschaften. Zusammen vertreten sie einen Großteil der Muslime in Deutschland – den Mainstream-Islam.
In den letzten Jahren sind zwei Tendenzen hinsichtlich der Organisation des Islams in Deutschland zu erkennen. Erstens kann eine Institutionalisierung muslimischer Angebote beobachtet werden. Dies bringt Differenzierung und Professionalisierung mit sich. Moscheen sind immer noch das Zentrum des muslimischen Gemeindelebens, können aber nicht (mehr) alle Bedürfnisse abdecken, allein schon, weil ihr Wirkbereich lokal begrenzt ist. Daher werden bereits bestehende Einrichtungen (z. B. Hadsch-Reisebüros, Hilfsorganisationen, Bestattungsdienste, aber auch Jugend- und Bildungsarbeit) ausgebaut, jedoch auch neue Aufgabengelder wie „Wohlfahrtsarbeit“ und „Seelsorge“ angegangen.
Eine Folge dieses Trends zur Institutionalisierung ist zweitens der Anspruch anderer „muslimischer“ Gemeinschaften als alternative Vertreter des Mainstream-Islams oder als zusätzliche Akteure des Islamdiskurses akzeptiert zu werden. So der zweitweise erhobene Anspruch sogenannter liberaler Muslime, die in Deutschland keine einzige Moschee unterhalten. Dies ist nicht zuletzt eine Entwicklung, die zurückgeht auf die mehr oder minder verdeckte staatliche Förderung bestimmter Gruppen, wie dies in an der Besetzung der Deutschen Islam Konferenz (DIK), aber auch vieler anderen Gremien abzulesen ist. Frei nach dem Motto „ohne Mainstream-Muslime kann man nicht, nur mit ihnen möchte man nicht“ werden Schiiten, Aleviten, Liberale und Ahmadiyya, die außerhalb des KRM agieren, mit ins Boot geholt.
Im Grunde spricht aus muslimischer Sicht nichts dagegen, dass im gesellschaftlichen Diskurs gemeinsame Interessen eben gemeinsam verfolgt werden. Hierbei muss der Partner nicht einmal muslimisch sein, wie man am Beispiel guter Kooperationsprojekte mit den Kirchen sieht. Allerdings sind hierbei die Bereiche der Deutungshoheit über die jeweils eigene Religion recht klar abgesteckt, im Vordergrund steht die jeweils aus den eigenen Quellen gerechtfertigte Praxis.
Dies gilt jedoch nur eingeschränkt für das Verhältnis zwischen Sunniten auf der einen Seite und Schiiten, Aleviten, Liberale und Ahmadiyya auf der anderen. Die Gründe hierfür sind vor allem theologischer Natur, jedoch kaum eindeutig und abschließend diskutiert. Daher sollen die folgenden, verkürzten Aussagen über diese Gruppierungen lediglich als Diskussionsbasis verstanden werden.
Schiiten erheben den Anspruch, die wahren Erben des Propheten zu sein, welche sich in der Linie der 12 Imame fortsetzt[2]. Sie verehren den vierten Kalifen Ali (r) und betrachten die drei Kalifen davor als unrechtmäßig. Dies sind nur zwei Beispiele für historisch/theologische Interpretationen, durch die Schiiten sich aus der weitgefassten „Ahl as-Sunna wa al-Dschamâa“, der „Gemeinschaft der Sunna (des Propheten) und Gemeinschaft“ ausschließen, so jedenfalls die muslimisch-sunnitische Mehrheitsmeinung.
Die Zuordnung von Aleviten zum Islam wird dadurch erschwert, dass viele alevitische Gruppierungen zwar an Allah und den Propheten Muhammad (s) glauben, aber diesen im Glaubensbekenntnis noch den vierten Kalifen Ali (r) hinzufügen. Zudem leben viele Aleviten nicht nach den Ge- und Verboten des Islams. Es muss also gefragt werden, ob und welche Aleviten überhaupt Muslime sind bzw. sich als solche sehen.
Sogenannte liberale Muslime ließen sich dem sunnitischen Mainstream-Islam zuordnen, wenn sie nicht Positionen vertreten würden wie: „Die theologische Basis für die Repräsentanz von liberalen Muslimen und Musliminnen in Deutschland lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: die Schahâda – das islamische Glaubensbekenntnis. (…) Bei allem, was über diesen Kern hinausgeht, darf dogmatische und kulturelle Einheit weder Ziel noch Voraussetzung sein.“ [3]
Damit wird so ziemlich alles negiert, was – nicht umsonst – Kernbestand koranisch verankerter und gewachsener islamischer Lehre ist.
Die Ahmadiyya ist seit 2013 „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ und seitdem verstärkt im öffentlichen Islamdiskurs vertreten. Sie bezeichnet sich als „größte islamische Gemeinde der Welt“ und „eine der größten Gemeinden unter den organisierten Muslimen“ in Deutschland. Die Ahmadiyya glaubt, „infolge göttlicher Berufung“ entstanden zu sein. Ihr Begründer Mirza Ghulam Ahmad sei der von allen Religionen erwartete Messias und Mahdi [4]. Vor allem die Frage, ob und inwiefern der Begründer der Ahmadiyya als Prophet angesehen wird, spaltet die Meinungen über die Ahmadiyya. Die Mehrheit der Muslime sieht sie nicht als Muslime, was der Zusammenarbeit mit Sunniten, aber auch Schiiten Grenzen setzt.
Es bestehen also teilweise gravierende theologische Differenzen. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, denn Differenzen müssen in einer pluralistischen Gesellschaft ausgehalten werden. Die Kernfrage lautet: Inwieweit beeinträchtigen diese Unterschiede das gemeinsame Handeln als Muslime? Denn als solche werden diese Strömungen in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Das wiederum darf man einem religionsneutralen Staat nicht verübeln. Für ihn ist Muslim, wer sich als solcher definiert.
Die Herausforderung auf sunnitischer Seite besteht darin, einerseits sein – weit gefasstes – theologisches Profil nicht zu verlieren und andererseits die Chance auf das gemeinsame Wirken in der Gesellschaft nicht zu verspielen. Dass diese Herausforderung nicht offensiv und öffentlich angegangen wird, zeugt von einer pragmatischen Haltung. Man möchte das gemeinsam Erreichte nicht durch heraufbeschworene Diskussionen gefährden. Diesem Gedanken folgend haben sich etwa im Rahmen der Schura Hamburg, der Schura Niedersachsen und im Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen (IRH) Gemeinden des sunnitischen Mainstream-Islam und schiitische bzw. alevitische Gruppen zusammengeschlossen. Die IRH, deren stellvertretender Vorsitzender Ünal Kaymakçı Schiit ist, „stellt sowohl hinsichtlich der Herkunft der Muslime (d. h. Muslime aus allen muslimischen Herkunftsländern) als auch hinsichtlich ihrer Fiqh-Schulen/Rechtsschulen (Sunniten und Schiiten) die Vielfalt der Muslime in Hessen dar.“ [5]
Zu ihren Tätigkeitsbereichen gehören u. a. islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, Imamausbildung, Lehrerausbildung, Bestattungswesen, Medienarbeit. In Schura Hamburg und das schiitische Islamische Zentrum Hamburg (IZH) organisieren gemeinsam seit fünf Jahren die „Einheitskonferenz“, auf der über gesellschaftlich relevante Themen diskutiert wird.
Trotz gemeinsamer guter Projekte gibt es auch Stimmen, die das Ausblenden von teils großen Unterschieden, mehr noch die gemeinsame Agitation, als stillschweigende „Legitimierung“ dieser umstrittenen Gemeinschaften betrachten. Wenn man nicht aufpasst, wird man früher oder später seine eigenen roten Linien übertreten, so jedenfalls die kaum öffentlich geäußerte Befürchtung.
Wie tragfähig dieses spannungsreiche Verhältnis ist, wird in verschiedenen Bundesländern erprobt. Spätestens, wenn es um die konkretere Zusammenarbeit beim islamischen Religionsunterricht, die Ausbildung von muslimischen Theologen und Pädagogen oder die Wohlfahrtsarbeit geht, wo Bund und Länder ein großes Interesse an einheitlichen Vertretungen haben, werden die Diskussionen um die Grenzen der theologischen Dehnbarkeit und der pragmatischen Zusammenarbeit ausdiskutiert werden müssen.
[1] Aufgrund des Zuzugs von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum wird gemutmaßt, dass der Islam in Deutschland arabischer werden wird. Inwieweit das zutrifft, ist derzeit offen.
[2] http://igs-deutschland.org/die-igs/satzung (16.12.2015)
[3] http://www.lib-ev.de/index.php?c=31 (17.12.2015)
[4] http://www.ahmadiyya.de/ahmadiyya/einfuehrung/ (17.12.2015)
[5] http://www.irh-info.de/index.php?kon=profil&kpf=profsd&zeige=selbstdarstellung (17.12.2015)