Das Opfern ist nichts spezifisch Islamisches, es kommt in vielen Religionen und Traditionen vor. Warum es ein menschliches Bedürfnis ist, erklärt Ali Mete.
Allah hat den Menschen erschaffen, damit er ihm diene, heißt es im Koran.[1] Die Hingabe zu Gott ist also etwas Angeborenes, Natürliches. Hingabe muss nicht gelernt, sondern (wieder)entdeckt werden. Denn sie ist Teil der menschlichen Natur (Fitra).[2]
In diesem Sinne ist die Geschichte der Menschheit die Geschichte einer Suche – nämlich der Suche nach Religion bzw. nach der Nähe zu Gott. Daher ist es nur allzu verständlich, dass diese Suche nicht nur im Koran, sondern auch in den Texten anderer Religionen ihren Niederschlag findet. Vor allem die Religionswissenschaften und die Anthropologie haben gezeigt, dass es keine Menschen gibt, die nicht glauben bzw. in irgendeiner Form religiös denken und handeln würden – angefangen von ‚primitivsten’ Völkern bis hin zu modernen Gesellschaften.[3] Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die vielbeschworene Entsakralisierung bzw. das Verschwinden alles Religiösen im Zuge von Aufklärung und Modernisierung nie stattgefunden hat. Der Versuch, Religion aus dem Leben zu verbannen, ist gründlich fehlgeschlagen.
In vielen Religionen spielen Gottesdienste bzw. religiöse Traditionen eine wichtige, ja sogar essenzielle Rolle. Sie sind ein unentbehrlicher Teil des Glaubens. Einer dieser in nahezu allen Religionen anzutreffender Gottesdienst ist das Opfern (Kurbân). Der Koran bestätigt das: „Allen Völkern gaben wir Opferriten, damit sie Allahs Namen über dem Vieh aussprächen, mit dem wir sie versorgten. Und euer Gott ist ein einziger Gott. Darum seid ihm ergeben! Und verkünde denen frohe Botschaft, die sich (vor Allah) demütigen.“[4]
In den monotheistischen Religionen wird das erste Opfer Kain und Abel (Kâbîl und Hâbîl) zugeschrieben. Im Alten Testament wird berichtet, Gott habe das Opfer Abels, welches Abel aus den Erstgeborenen seiner Herde aussuchte, angenommen, während er Kains Opfergabe, die aus „Früchten des Ackerbodens“ bestand, nicht beachtete. Aus Neid tötete später Kain seinen Bruder Abel.[5]
Im Koran wird die Erzählung folgendermaßen wiedergegeben: „Und verkünde ihnen der Wahrheit gemäß die Geschichte der beiden Söhne Adams, als sie ein Opfer darbrachten. Angenommen wurde es von dem einen von ihnen, aber nicht von dem anderen. Er sprach: ‚Wahrlich, ich schlage dich tot!’ (Der andere) sprach: ‚Siehe, Allah nimmt nur von den Gottesfürchtigen an.’“[6] Sowohl in der Bibel als auch im Koran wird das Opfer Abels angenommen, da er aus reinen Glauben und mit Gottesfurcht (Takwâ) opfert. Am deutlichsten kommt dies in folgendem Vers zum Ausdruck: „Weder ihr Fleisch noch ihr Blut erreicht Allah, jedoch erreicht Ihn eure Frömmigkeit/Takwâ…“[7]
Der Gedanke und die Praxis des Opferns sind jedoch nicht nur auf Religionen beschränkt, die einen göttlichen Ursprung haben. Schon im alten Mesopotamien wurde eine vielfältige Opfertradition gepflegt. Das kleinasiatische Volk der Hethiter opferten Tiere oder Nahrungsmittel, um die Götter um Hilfe zu bitten. Im Schintoismus wird geopfert, um die den Zorn der Verstorbenen zu besänftigen. Im Hinduismus hingegen ist das Opfern eines der Weg zur Errettung.[8] Ausgehend von diesen wenigen Beispielen lässt sich sagen, dass die Praxis des Opferns zugunsten eines höheren Wesen oder des Schöpfers, mit dem Ziel sich ihm zu nähern, einem religiösen/natürlichen Bedürfnis entspricht.[9]
In den Religionen göttlichen Ursprungs ist das Opfern eine wichtige Form des Dienstes an Gott. Um die Vielgötterei (Schirk) zu unterbinden, ist es in diesen Religionen ausschließlich erlaubt, im Namen des einzigen Gottes zu opfern. Auch wenn es einen Wandel und Unterschiede in der Praxis gab und gibt, haben diese Religionen weitgehend gemeinsam, dass sie durch das Opfern dieselben Ziele verfolgen: die Bezeugung der Einheit Gottes (Tawhîd), die Förderung der Frömmigkeit (Takwâ) und der Beweis der Ergebenheit (Islâm).
Das Opfern lässt dem Menschen erneut bewusst werden, dass es nur Allah ist, der ihn versorgt und Herr über Leben und Tod ist. Alles, was gelebt hat, lebt und leben wird, wird zu ihm zurückkehren, wie es im Koran heißt: „Sprich: ‚Siehe, mein Gebet, mein Gottesdienst, mein Leben und mein Tod gehören Allah, dem Herrn der Welten.’“[10]
Dies verdeutlicht am besten der Prophet Abraham (a). Zu Opfern bedeutet im islamischen Sinne deshalb auch, das Erbe des Propheten Abrahams (a) anzutreten. Er war es, der, nachdem es ihm im Traum befohlen wurde, bereit war, seinen einzigen Sohn Ismael (a) als Zeichen seiner Ergebenheit zu opfern. Im Koran heißt es zur Erzählung Abrahams (a): „Fürwahr, dies war eine offensichtliche Prüfung! So lösten Wir ihn durch ein großes Schlachtopfer aus und bewahrten sein Ansehen unter den nachfolgenden (Generationen). ‚Friede sei mit Abraham!’ So belohnen Wir die Rechtschaffenen.“[11]
[1] Sure Zâriyât, 51:56
[2] „So richte dein ganzes Wesen aufrichtig auf den wahren Glauben, gemäß der natürlichen Veranlagung (Fitra), mit der Allah die Menschen erschaffen hat. Es gibt keine Veränderung in der Schöpfung Allahs…“ (Sure Rûm, 30:30)
[3] Vgl. Mircea Eliade, vor allem: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Anaconda Verlag, Köln 2008
[4] Sure Hadsch, 22:34
[5] Elberfelder Bibelübersetzung, Altes Testament, Genesis, 4,3-8
[6] Sure Mâida, 5:27
[7] Sure Hadsch, 22:37
[8] Türkiye Diyanet Vakfı İslâm Ansiklopedisi (Islam-Enzyklopädie der Türkischen Diyanet Stiftung), “Kurban”, Ankara 2002, Bd. 26, S. 434
[9] S. G. F. Brandon, A Dictionary of Comparative Religion, London 1970, S. 545
[10] Sure An’âm, 6:162
[11] Sure Saffât, 37:106-110