Studie: „Jugendliche in der offenen Jugendarbeit“

Wiener Studie: Nährboden für islamfeindlichen Populismus

Anfang Oktober wurde die Wiener Studie „Jugendliche in der offenen Jugendarbeit“ veröffentlicht. Das Ergebnis: die Hälfte der muslimischen Jugend sei radikalisierungsgefährdet. Dass die Studie nicht repräsentativ ist und empirische Mängel aufweist, erklärt Soziologin Sümeyye Yilmaz für IslamiQ.

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Wien Meidling, ein sozialer Brennpunkt. © CC 2.0/ flickr/ Christian Kadluba

In der Sozialforschung ist bedauerlicherweise hin und wieder zu beobachten, dass sogenannte Auftragsforschungen dazu instrumentalisiert werden, politischer Meinungsmacht und populistischen Debatten den Nährboden zu bereiten. Noch erschütternder ist die Tatsache, dass ausgerechnet solche Auftragsforschungen, deren wissenschaftliche Objektivität ihrem Wesen nach ohnehin zu wünschen übrig lässt, eine ganze Reihe von empirischen Mängeln aufweisen.

Als Paradebeispiel hierfür kann die Anfang Oktober 2016 veröffentlichte und seither in den Medien heftig diskutierte Wiener Studie „Jugendliche in der offenen Jugendarbeit“ angeführt werden. Die im Auftrag des Rathauses (MA 13 der Stadt Wien) vom Wiener Forschungsbüro „think-difference“ durchgeführte Studie untersucht die Identitäten, Lebenslagen und Einstellungen von Jugendlichen in der offenen Jugendarbeit. Die Forscher setzten es sich zum Ziel, „die Häufigkeit und Ausprägungen von Abwertungen und Selbstaufwertungen der Jugendlichen empirisch zu untersuchen und mögliche Ursachen und Hintergründe zu durchleuchten.“ Dazu wurden in 30 Einrichtungen der städtischen Jugendarbeit insgesamt 401 Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren mit mehrheitlich (muslimischem) Migrationshintergrund befragt, die fast ausschließlich aus sozial schwächeren Milieus stammen.

Ergebnisse der Studie

Besondere mediale Aufmerksamkeit erfuhr vor allem das Ergebniss der Studie, wonach 53% der muslimischen Jugendlichen mindestens latent radikalisierungsgefährdet sind. Des Weiteren zeigen muslimische Jugendliche mit signifikanter Auffälligkeit stärkere Abwertungstendenzen bzw. eher rassistische, homophobe und antisemitische Einstellungen als andere Jugendliche. 27 % der Jugendlichen muslimischen Glaubens zeigen angeblich starke Sympathien mit „Jihadismus“, sind gewaltbejahend dem Westen gegenüber eingestellt und damit akut radikalisierungsgefährdet.

Obwohl die forschungsleitenden Fragestellungen und Hypothesen der Studie sehr allgemein auf die Identitäten, Lebenszielen, Sorgen und Bezugssystemen sowie Diskriminierungen und gruppenbezogenen Abwertungen ALLER befragten Jugendlichen gerichtet sind, konzentriert sich die Auswertung erstaunlicherweise im Besonderen auf die „Radikalisierungstendenz muslimischer Jugendlichen“. Letztere scheint sogar die alleinige Grundlage für fast alle Operationalisierungen zu sein. Die thematische Fokussierung auf die „Radikalisierungstendenz“, die sich im Verlauf der Studie entwickelt, erweckt den Eindruck, dass die Radikalisierungsgefahr muslimischer Jugendlichen von Anfang an die eigentliche Forschungsfrage der Studie dargestellt habe. Der Übergang zu diesem Themenschwerpunkt wäre nachvollziehbarer gewesen, wenn dieser in der Forschungseinleitung und Theorie der Studie ausführlicher und differenzierter vergegenständlicht worden wäre.

Folglich ist die theoretische Herleitung der Radikalisierungstendenz in der Studie sehr kurzschlüssig. Es ist deshalb weder übertrieben noch ungerechtfertigt zu behaupten, dass die Studie von populistischer Begriffsverwendung (z.B. radikal, antiwestlich) sowie von politisch motivierten – eurozentrischen, sogar ethnopluralistischen – Ansätzen Gebrauch macht. Daher stellt sich wieder die Frage, inwiefern eine solche Auftragsforschung objektiv betrieben werden kann.

Lobenswert ist jedoch, dass von den Studienleitern Kenan Güngör und Caroline Nik Nafs zumindest ein Punkt ganz offen und ehrlich klargestellt wird: die Studienergebnisse seien nicht repräsentativ für alle Wiener Jugendlichen. Leser der Studie kann dies möglicherweise zwar beruhigen, von den Rezipienten der Massenmedien ist eine solche Reaktion aber nicht unbedingt ebenfalls zu erwarten. Denn die Darstellung in den Medien und Pressemitteilungen legt nahe, dass die Ergebnisse repräsentativ für alle Jugendliche seien[1].

Wer wurde interviewt? 

Dass es der sowohl qualitativ als auch quantitativ ausgelegten Studie an Repräsentativität mangelt, zeigt bereits die Auswahl der Befragten. Es wurden Jugendliche interviewt, die von vornherein als „betreuungsbedürftig“ eingestuft werden können. Denn die offene Jugendarbeit richtet sich in erster Linie an Jugendliche, die aufgrund ihrer persönlichkeitsbezogenen Verunsicherungen und alltäglicher Orientierungslosigkeit keine gefestigte Identität aufweisen. – wie es vielleicht Jugendliche anderer Bewegungen  können. Damit stehen sie also nicht stellvertretend für die Mehrheit der Jugendlichen.

Darüber hinaus wurden Jugendliche befragt, die aus sozial eher schwächeren Milieus stammen. Das bedeutet, dass bereits eine Dominanz solcher soziodemografischen Merkmale herrscht, die im Allgemeinen positiv mit Vorurteils- und Abwertungstendenzen sowie Diskriminierungserfahrungen korrelieren (z.B. Bildungsniveau, beruflicher Status, sozial schwache Herkunftsfamilie). Daher ist nicht weniger die Rede von einem willkürlich hergestellten Zusammenhang zwischen Abwertungstendenzen und befragten Jugendlichen hauptsächlich muslimischen Glaubens. Wenn ostdeutsche Jugendliche „bio-deutscher“ Herkunft aus ähnlichen sozialen Verhältnissen zu gruppenbezogenen Abwertungstendenzen befragt würden, wären vermutlich ebenfalls vorhersehbare Ergebnisse zu erwarten – diese wären allerdings in die entgegengesetzte Richtung gepolt.

Die Kategorien der Studie sind problematisch

Die Indexbildungen der Studie sind ebenfalls sehr problematisch. Die Hauptkategorien der Studie bilden sozialwissenschaftlich nicht ausreichend begründbare Bewertungen , wie z.B. Abwertungstendenzen. Dabei werden untergruppenbezogener Abwertung im engeren Sinne negative Einstellungen gegenüber geschlechtsspezifischer Diskriminierung, Rassismus, Homophobie und religiöse Abwertung verstanden. Nicht unstrittig sind auch die Items, welche die Abwertungstendenzen erfassen sollen – beispielsweise „Autoritarismus“. Pauschalisierende Fragen zu absoluter Meinungs- und Demonstrationsfreiheit lassen, gerade in Zeiten des erstarkenden Rechtsradikalismus, der nicht zuletzt den Nährboden für Brandstiftungen in Flüchtlingsheimen und Angriffe auf Moscheen bereitet, die Antworten vorausahnen. Tatsächlich fielen die Antworten auf diese Fragen, wie auch erwartet, „weniger demokratisch“ aus.

Zudem sind die Dimensionen der Radikalisierungsgefährdung („Akzeptanz ideologischer Gruppengewalt“, „religiöser Fundamentalismus“, „antiwestliche Einstellungen“) äußerst polarisierend geprägt. Starke Dichotomisierungen und subjektive Bewertungen in seinen Kategorien liefern dem ethnopluralistischen Denkschema einen hervorragenden Ansatz, da anscheinend westliche Werte das „Maß aller Dinge“ sind. Denn diese spiegeln sich in den Items eins zu eins wider: Säkularismus („Religion ist eine private Sache“), Reformierung religiöser Gebote und Verbote („gemischt religiöse Ehen sind ok“) Auffassung einer „kontingenten“ Religion („Meine Religion steht über allen anderen Religionen“). Da es sich bei den befragten Jugendlichen jedoch um Angehörige der islamischen Religion handelt, die einen ganz anderen theologischen und ideengeschichtlichen Hintergrund hat, können westliche Werte in dieser undifferenzierten Weise keine gute Vergleichsgrundlage für die Befragung bilden.

Aufgrund dieser problematischen Annäherung – insbesondere im Hinblick auf das letztgenannte Item – versuchen die Studienautoren zumindest, den Wahrheitsanspruch und den Überordnungs- und Exklusivitätsanspruch voneinander zu unterscheiden. Doch dieser Versuch basiert wieder einmal nicht auf theologische Begründungen, sondern auf einer „individualistischen“ Auffassung der Religion, die – so wie die anderen Items auch – auf dem in der westlichen Welt vorherrschenden Religionsverständnis der Moderne  .

Vor allem die Operationalisierung des Indikators „Antiwestliche Einstellungen“ muss als äußerst fragwürdig betrachtet werden. Dabei handelt es sich den Autoren zufolge um „pauschalisierende Kritik an westlichen Mächten im Allgemeinen, insbesondere den Vereinigten Staaten von Amerika sowie Israel [handelt], welche diese als alleinige Verantwortliche für die Kriege und Krisen nicht-westlicher Länder und Völker darstellen“. Diese verallgemeinernde und dogmatische Begriffsverwendung stellt einen direkten Zusammenhang zwischen jeglicher Art von Systemkritik und Radikalisierung her. Nach dieser Definition wären selbst westliche Systemkritiker wie Noam Chomsky und Norman Finkelstein als „latent radikalisierungsgefährdet“ einzustufen, die womöglich neben antiwestlicher Einstellung auch „andere Narrativen der Radikalisierungsgefährdung“ aufweisen würden. Der versuchte Rückschluss von antiwestlichen Einstellungen auf die Radikalisierungsgefährdung von Jugendlichen ist außerordentlich pauschal und nicht nachvollziehbar. Außerdem zeigt die Wortwahl der Autoren, wie weitläufig Antisemitismus  aufgefasst wird, wenn darunter unter anderem Anti-Amerikanismus verstanden wird.

Folgen einer unzureichenden Studie

Die Reaktionen auf die Veröffentlichung, etwa im Rahmen der Sendung „Talk im Hanger-7“ zeigen, wie solche methodisch fragwürdigen und keineswegs repräsentativen Studien dazu verwendet werden, ausschließlich Jugendliche muslimischen Glaubens zum Gegenstand der Radikalisierungsdebatte zu machen. Der Titel der oben erwähnten Talksendung reflektiert bereits die stimmungsvergiftenden Diskussionen, die nicht-repräsentative, aber vom Mainstream gerne als repräsentativ wahrgenommenen Studienergebnisse auslösen können: „Radikale Jugend: Wie gefährlich sind unsere Muslime?“.

Schließlich muss der Laie letzten Endes davon ausgehen, dass dieser lebenswichtige Diskurs über die Radikalisierung von Muslimen auf hieb- und stichfesten Ergebnissen sozialwissenschaftler Forschung beruht.

 

[1] Siehe: http://diepresse.com/home/panorama/wien/5102697/Radikalisierung_Junge-Muslime-in-Wien-oft-gefaehrdet, Stand: 24.10.2016

 

Leserkommentare

Manuel sagt:
Ja schon klar, wenn einem eine Studie nicht passt, dann muss man natürlich sofort versuchen diese schlecht zu machen. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung kam 2013 zu ähnlichen Ergebnissen und hat sogar sechs Länder verglichen. Wie wäre es, mal lieber anzufangen einmal eine Debatte über den innerislamischen Rassismus, Antisemitismus und Homophobie zu starten, statt ständig mit dem Finger auf andere zu zeigen und Studien schlecht zu machen, wenn sie einem nicht passen.
31.10.16
11:39
Holger Berger sagt:
Hier geht es um Islamfeindlichkeit, so lese ich. Im Artikel versucht dann eine 28-jährige Soziologin des Vereins Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) eine Radikalisierung von Muslimen generell in Frage zu stellen. Schon die Fragestellung "Radikale Jugend: Wie gefährlich sind unsere Muslime?" ordnet sie gleich als "stimmungsvergiftende Diskussion" ein. In den letzten Jahrzehnten habe ich in Europa nirgends eine ähnliche Frage gehört: "Wie gefährlich sind unsere Christen?" Nirgendwo sind Jugendliche in fundamentalistisch-christliche Länder - die es auch überhaupt nicht gibt - heimlich ausgereist um als Bomben-Selbstmord-Attentäter ausgebildet zu werden. Wo bitte hält diese junge Soziologin irregeleitete Jugendliche vom möglichen Morden im Namen des Islam ab? Wo, wann und wie konkret?
01.11.16
0:19