„Europa wird islamischer“, lautet eine These. Islamwissenschaftlerin Sarah Albrecht beantwortet im IslamiQ-Interview, wie Muslime das sehen und warum die Islamdebatten zu keiner Lösung führen.
IslamiQ: Klassische muslimische Gelehrte unterteilten die Welt allgemein in das „Gebiet des Islams“ (Dâr al-Islâm) und das „Gebiet des Krieges“ (Dâr al-Harb)? Ab wann ist das so, und warum?
Sarah Albrecht: Anders als gelegentlich angenommen wird, stammt diese Zweiteilung nicht aus dem Koran oder der Prophetentradition, sondern wurde von islamischen Gelehrten in den ersten Jahrhunderten islamischer Zeitrechnung entwickelt. Die Vorstellung, dass die Welt in zwei sich feindlich gegenüberstehende Gebiete gespalten ist, ist also nicht theologisch begründet. Vielmehr spiegelt sie den damals vorherrschenden faktischen oder latenten Kriegszustand zwischen dem expandierenden muslimischen Herrschaftsgebiet und den angrenzenden Reichen wider. Daher dürfen wir uns diese Grenzziehung auch keineswegs als statisch oder unwandelbar vorstellen.
Tatsächlich wurden die Trennlinien zwischen dem „Gebiet des Islams“ und nichtislamischen Gebieten im Laufe der Geschichte immer wieder neu gezogen. Schon in der Frühzeit kam im Zuge erster Waffenstillstandsabkommen zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Herrschern ein weiteres Konzept hinzu: das „Gebiet des Vertrags“ (Dâr al-Ahd), das das zunächst dualistische Weltbild in gewisser Weise aufbrach.
Auch in späteren Jahrhunderten, beispielweise in Reaktion auf die Kolonialisierung weiter Teile der islamisch geprägten Welt oder die Migration sogenannter GastarbeiterInnen nach Westeuropa im 20. Jahrhundert haben Gelehrte diese traditionellen Konzepte stets neu definiert und durch neue Konzepte ergänzt, um diese islamrechtliche Tradition mit der jeweiligen geopolitischen Situation in Einklang zu bringen. Das heißt, sie haben in ihrem jeweiligen historischen Kontext immer wieder gefragt: Wo ist das „Gebiet des Islams“ heute? Wie definiert man, was ein Gebiet „islamisch“ macht? Und was genau meint man mit dem „Gebiet des Krieges“?
IslamiQ: „Osten-Westen“, „Abendland-Morgenland“, „zivilisierte- unzivilisierte Welt“ – Haben die Menschen die Welt nicht schon immer mit dualen Konzepten begriffen? Warum also nicht auch „Gebiet des Islams-Gebiet des Krieges“?
Albrecht: Ganz ähnlich argumentieren in der Tat einige Gelehrte. Sie untermauern, dass es eine politische und keine inhärent theologische Zweiteilung ist, indem sie betonen, dass es derlei dualistische Weltbilder seit jeher gegeben hat und bis heute in allerlei Varianten gibt. Dass politische und religiöse Trennlinien hier allerdings deutlich miteinander verflochten sind, zeigt sich zum Beispiel darin, dass der Begriff Dâr al-Islâm, sprich „Gebiet des Islams“, oft synonym gebraucht wird mit Dâr as-Salâm, dem „Gebiet des Friedens“. Und gleichermaßen wird das „Gebiet des Krieges“, Dâr al-Harb, vielfach gleichbedeutend verwandt mit dem Begriff Dâr al-Kufr, also dem „Gebiet des Unglaubens“.
IslamiQ: Dieses Konzept kommt also weder im Koran noch in der Prophetentradition vor. Wieso hat es sich bis heute gehalten?
Albrecht: Dafür gibt es sicherlich mehrere Gründe. Manche halten es schlicht für einen festen Bestandteil islamischer Tradition, da es bereits seit der Frühzeit eine bedeutende Rolle in islamrechtlichen Debatten über die Beziehungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen gespielt hat. Zum Beispiel in Bezug auf die Fragen: Wo ist es erlaubt, gegen nichtmuslimische Herrschaftsgebiete zu kämpfen bzw. Dschihad zu führen? Welche Konsequenzen haben Waffenstillstandsabkommen? Wo sollen MuslimInnen leben? Ist ein dauerhafter Aufenthalt außerhalb des Dâr al-Islâm überhaupt legitim? Gilt die Scharia in nichtislamischen Gebieten ebenso wie im „Gebiet des Islams“? Diese Fragen haben zum Teil bis heute Relevanz, denn für manche MuslimInnen handelt es sich dabei nicht um rein theoretische Überlegungen, sondern um durchaus zentrale Fragen, wie: Wo kann man als MuslimIn heutzutage ein gutes bzw. islamkonformes Leben führen? Und wie geht man als deutsche/r MuslimIn damit um, wenn einem ein Gelehrter oder auch „Scheich Google“ womöglich erzählt, dass das Land, in dem man geboren und aufgewachsen ist, in dem man seine Religion praktiziert und in dem man als BürgerIn Teil der Gesellschaft ist, ein „Gebiet des Krieges“ sei?
IslamiQ: Ist Europa denn ein „Gebiet des Krieges“?
Albrecht: Das kommt natürlich ganz darauf an, wen man fragt. Einige prominente Gelehrte, wie zum Beispiel Yusuf al-Qaradawi, kommen angesichts der bestehenden internationalen Verträge zu dem Schluss, dass Europa ein „Gebiet des Vertrags“ sei, in dem MuslimInnen ein sicherer Aufenthalt gewährt werde.
Andere schlussfolgern wiederum, dass Europa heutzutage faktisch ein „Gebiet des Islams“ sei. Denn hier, so argumentieren beispielsweise der kürzlich verstorbene, prominente Gelehrte Taha al-Alwani, der Intellektuelle Jasser Auda und der Aktivist Faisal Abdul Rauf, können MuslimInnen vielmehr in Sicherheit leben und ihre Religion ausüben als dies in den meisten islamisch geprägten Ländern der Fall sei. Während andere der Meinung sind, dass nur jene Staaten zum Dâr al-Islâm gehören, deren Herrscher Muslime sind, die muslimische Bevölkerungsmehrheit haben und in denen in der ein oder anderen Weise islamisches Recht gilt, sagt beispielsweise Auda, dass all jene Länder zum Dâr al-Islâm zählen, in denen die sogenannten Makâsid asch-Scharia, das heißt die „höheren Ziele der Scharia“ bestmöglich erfüllt werden, also die Bewahrung und Förderung von Religion, Leben, Intellekt, Familie, Würde und Eigentum. So kommt er zu dem Schluss, dass Europa letztlich „islamischer“ sei als mancher selbsternannte „islamische Staat“. Tatsächlich gibt es auch Stimmen, die behaupten, dass Europa oder der Westen insgesamt ein „Gebiet des Krieges“ oder „des „Unglaubens“ sei. Diese Meinung hört man zum Beispiel von einigen saudischen Gelehrten, insbesondere aber auch von Vertretern „dschihadistischer“ Gruppierungen, die mit dieser Kategorisierung begründen, dass westliche Staaten ein legitimes Ziel ihrer gewaltsamen, terroristischen Angriffe seien. Sehr viele muslimische Gelehrte und Intellektuelle wie auch einfache Gläubige lehnen diese Sicht jedoch vehement ab. Ihrer Meinung nach kann Europa kein „Gebiet des Krieges“ sein, da hier faktisch kein Krieg gegen den Islam geführt wird.
Neben all diesen Positionen darf man aber nicht außer Acht lassen, dass es durchaus auch Stimmen gibt, die Konzepte wie Dâr al-Islâm und Dâr al-Harb heutzutage für grundsätzlich ungeeignet halten, da die Welt im 21. Jahrhundert schlichtweg zu komplex für derlei Grenzziehungen sei.
IslamiQ: Ist der Satz „In Europa kann man den Islam besser leben als in manchem islamischen Land“ angesichts grassierender Fremdenfeindlichkeit, antimuslimischem Rassismus und Moscheeangriffen nicht zynisch?
Albrecht: Diese Frage ist sicher nicht unberechtigt. In Anbetracht des Aufstiegs rechtspopulistischer Akteure und deren oft antimuslimischer Agenda – sei es in Europa oder ganz aktuell auch in den USA – wird sie gewiss zu weiteren Diskussionen führen. Allerdings war gerade auch in den letzten Monaten, anlässlich des vermehrten Zuzugs muslimischer Geflüchteter wiederholt zu hören, dass Deutschland islamische Werte besser verwirkliche als mancher „islamische Staat“, da hierzulande mehr MuslimInnen Zuflucht fänden als beispielsweise in Saudi-Arabien.
Abgesehen davon haben sich MuslimInnen, darunter auch islamische Gelehrte, aber natürlich bereits mit der Frage auseinandergesetzt, wie man beispielweise mit staatlich sanktionierten Einschränkungen der Religionsfreiheit umgehen sollte: Als in Frankreich das Kopftuchverbot an Schulen eingeführt wurde, haben Gelehrte einerseits das hohe Gut der Bildung betont und angemahnt, dass Mädchen selbstverständlich weiterhin die Schule besuchen sollen. Gleichzeitig haben sie sich aber auch auf das Recht auf Religions- und Demonstrationsfreiheit berufen und zu zivilgesellschaftlichem Protest gegen dieses Gesetz aufgerufen.
IslamiQ: Oft hört man, der Islam brauche eine Reform. Ist es nicht eher so, dass der einfache muslimische Bürger sich schon längst mit dem Leben in einem nichtmuslimischen Kontext angefreundet hat? Laufen dann solche Reformforderungen nicht ins Leere?
Albrecht: Ich denke, dass sich beides keineswegs ausschließt. Zweifelsohne haben MuslimInnen hierzulande und anderswo bereits vielfach pragmatische Wege gefunden, um ihr Glaubensleben mit dem Leben in einer mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaft in Einklang zu bringen. Bei den zugleich immer wieder ertönenden Forderungen nach Reformen muss man meines Erachtens differenzieren.
Zum einen hören wir derlei Appelle vielfach von nichtmuslimischer Seite, wobei diese häufig nicht als Angebote zum Gespräch bzw. zur Diskussion über konkrete Fragen formuliert werden, sondern als pauschale Forderungen einer Mehrheit gegenüber einer Minderheit daherkommen. Wenig überraschend werden sie von muslimischer Seite zum Teil als paternalistisch zurückgewiesen. Selbstverständlich kann und darf es dabei nicht das Ziel sein, Religionskritik per se als illegitim zu deklarieren. Doch die Art und die Konstellation, in der jene Forderungen gestellt werden, erscheint doch häufig problematisch. Man stelle sich vor, muslimische VertreterInnen würden die katholische Kirche in Deutschland pauschal dazu auffordern, das Frauenbild „im Christentum“ zu reformieren.
Zum anderen fordern ja aber auch viele MuslimInnen selbst Reformen ein. Seien es beispielsweise Frauen, die darauf drängen, ihnen mehr Raum in Moscheegemeinden einzuräumen oder althergebrachte Geschlechterbilder zu reformieren oder seien es die zahlreichen muslimischen Stimmen, die fordern – oder bereits aktiv dabei sind –, traditionelle Denkmuster aufzubrechen und theologische wie auch islamrechtliche Fragen im Kontext ihrer Lebenswirklichkeit neu zu diskutieren.
IslamiQ: Für Muslime in Europa wurde/wird ein Minderheitenrecht (Fikh al-Akalliyât) entwickelt. Was sind seine Vor- und Nachteile?
Albrecht: Das Konzept des Fikh al-Akalliyât, das üblicherweise als „Minderheitenrecht“ übersetzt wird, meint kein „Recht“ im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern, wie der arabische oder türkische Begriff Fiqh bzw. Fikh schon sagt, eine Interpretation islamischer Normen für MuslimInnen, die als religiöse Minderheiten im Westen leben. Vordenker dieses Ansatzes, wie Yusuf al-Qaradawi oder Abdallah Bin Bayyah, meinen, dass ihr Konzept es ermöglicht, die Scharia sozusagen maßgeschneidert für MuslimInnen in westlichen Ländern auszulegen. Dabei sollen insbesondere auch jene Fragen aufgegriffen werden, die MuslimInnen in islamisch geprägten Ländern mutmaßlich nicht entstehen. Dadurch soll ihnen Erleichterung in der Umsetzung ihrer religiösen Praxis verschafft werden, und sie sollen in ihrer religiösen Identität gestärkt werden.
Kritiker haben den Sinn und Zweck dieses Konzepts allerdings vielfach angezweifelt. Zum einen bezweifeln sie, dass die Fragen sich wirklich so sehr unterscheiden. So betrifft beispielsweise die Frage nach schariakonformen Bankkrediten schließlich keineswegs nur MuslimInnen in Europa, denn auch in mehrheitlich muslimischen Ländern wie Marokko gibt es kein „islamisches“ Banksystem. Zum anderen wurde aber auch kritisiert, dass al-Qaradawi und andere Vertreter des Fikh al-Akalliyât selbst nicht in westlichen Gesellschaften leben uns somit gar nicht mit den hiesigen Lebensumständen vertraut seien. Ein sehr prominenter Kritiker, Tariq Ramadan, hat außerdem bemängelt, dass dieses Konzept die Selbstwahrnehmung von MuslimInnen als schwache und machtlose Minderheit negativ verstärke und somit destruktiv dafür sei, gerade auch junge MuslimInnen in ihrer Identität als EuropäerInnen und aktive BürgerInnen in ihren Ländern zu bestärken.
IslamiQ: Der Islam ist eine Weltreligion mit universellem Anspruch. Steht das nicht in Konflikt mit der Idee eines besonderen islamischen Rechts für Minderheiten?
Albrecht: Das genau ist ein Punkt, den einige Kritiker ebenfalls anbringen. Tariq Ramadan zum Beispiel sagt, dass man in der heutigen globalisierten Welt nicht mehr in Kategorien wie Minderheiten und Mehrheiten, Dâr al-Islâm und Dâr al-Harb denken dürfe, da diese dem Anspruch, dass der Islam überall auf der Welt lebbar sein müsse, entgegenstünden. Verfechter des Minderheiten-Fikh weisen diese Kritik weit von sich und betonen, dass sie den Fikh keineswegs neu erfinden, sondern sich lediglich auf den althergebrachten Grundsatz berufen, dass die Scharia prinzipiell unter Berücksichtigung des Ortes, der Zeit und der jeweiligen Umstände interpretiert werden müsse.
IslamiQ: Angesichts von Globalisierung und schier grenzenlosem globalem Austausch: Ist es überhaupt möglich und sinnvoll von „islamischen“ und „deutschen“ Werten zu sprechen?
Albrecht: Nun, wenn Sie mich fragen, ist es immer sinnvoll, über Werte zu sprechen – oder auch mal darüber zu streiten. In diesem Falle liegt doch aber die Krux darin, dass die Frage, was „deutsche“, „islamische“ oder auch „christliche“ Werte überhaupt sind, vollkommen unterschiedlich beantwortet wird. Mir scheint, derlei theoretische Wortklaubereien führen uns angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Debatten auch nicht wirklich weiter.
Wesentlich erfolgsversprechender erscheint es mir, sie im Dialog auf konkrete Fragen herunterbrechen: Was verstehen wir unter vermeintlich „deutschen“ oder „abendländischen“ Werten wie Religionsfreiheit, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit etc.? Wie halten deutsche MuslimInnen, ChristInnen und andere Gläubige es mit aktuellen ethischen Herausforderungen in unserem Lande, seien es bioethische Fragen, der Waffenexport in autoritäre Regime oder Reformen des Sozialsystems und der Familienpolitik? Wenn wir nicht soviel Zeit darauf verwenden würden, über Worthülsen zu streiten, ließe sich an diesen und vielen anderen Beispielen sicherlich wesentlich konstruktiver über Werte diskutieren.
IslamiQ: Ist es nicht von Nachteil, wenn Gelehrte das muslimische Leben in Europa vollkommen aus (islam)rechtlicher Perspektive betrachten?
Albrecht: Das ist eine Frage, die MuslimInnen sicher besser beantworten können als ich als Islamwissenschaftlerin. Wenn ich mir den aktuellen Diskurs unter muslimischen Gelehrten und Intellektuellen anschaue, dann stelle ich allerdings fest, dass es neben jenen bekannten Gelehrten, die Fragen rund um das Leben in Europa in der Tat aus einer stark islamrechtlich bzw. normativ geprägten Perspektive betrachten, durchaus auch andere Stimmen gibt. Taha al-Alwani, Tariq Ramadan oder Jasser Auda beispielsweise treten seit Längerem dafür ein, sich verstärkt mit islamischen Positionen zu übergeordneten ethischen Fragestellungen sowie auch zu Fragen rund um gesellschaftliche Teilhabe, politische Partizipation usw. auseinanderzusetzen.
IslamiQ: Was sind die Fragen der Muslime in Europa? Unterscheiden sie sich denn so sehr von den Fragen der anderen Bürger bzw. Minderheiten?
Albrecht: Da gibt es sicher einige Besonderheiten. Schaut man sich zum Beispiel die Anfragen an, mit denen sich MuslimInnen an den Europäischen Rat für Fatwas und Forschung wenden, ein Gelehrtengremium, das sich explizit mit der Auslegung der Scharia für MuslimInnen in Westeuropa befasst, so zeigt sich, dass einige Bereiche vergleichsweise häufig angesprochen werden. Dazu zählen unter anderem familienrechtliche Angelegenheiten, also Fragen rund um Eheschließung, -scheidung und Erbschaft, Fragen rund um die rituelle Praxis und den Umgang mit Zinsen. Aber auch Fragen in Bezug auf die Rolle von Frauen in Familie und Gesellschaft sowie Fragen zu politischer und gesellschaftlicher Partizipation von MuslimInnen werden vergleichsweise häufig gestellt. Einerseits sind dies durchaus spezifisch „muslimische“ Anliegen. Andererseits betreffen sie aber, wie Sie bereits implizieren, in gewisser Weise auch andere BürgerInnen und Angehörige von Minderheiten, denn letztlich geht es hier – sozusagen auf der Metaebene – auch um universelle Fragen rund um Religionsfreiheit und die Vereinbarkeit von religiöser Praxis mit dem Leben in einer sich als säkular definierenden Gesellschaft.
IslamiQ: Angesichts der Medienberichte könnte man denken, Muslime hätten nichts anderes zu tun, als darüber nachzudenken, wie sie „die Scharia“ am besten leben. Ist das so?
Albrecht: Es gibt durchaus Umfragen, aus denen hervorgeht, dass MuslimInnen hierzulande ihrer Religion und ihrem Glauben im Schnitt eine größere Bedeutung beimessen als der Durchschnitt der nichtmuslimischen Bevölkerung. Daraus lässt sich aber gewiss nicht ableiten, MuslimInnen hätten nichts anderes zu tun, als sich Gedanken über die Scharia zu machen. Schließlich ist beispielsweise auch bei ChristInnen, die sich selbst als gläubig bzw. praktizierend bezeichnen, nicht davon auszugehen, dass sie sich von früh bis spät mit dem Katechismus oder dem Kirchenrecht auseinandersetzen.
IslamiQ: „Im Islam steht der Koran über dem Grundgesetz“. Was ist falsch an dem Satz?
Albrecht: Der Satz ist meines Erachtens ebenso wenig aussagekräftig wie „Im Christentum steht die Bibel über dem Grundgesetz“. Denn man konstruiert hier einen vermeintlich inhärenten Gegensatz zwischen einer religiösen bzw. heiligen Schrift und einem Verfassungswerk – ungeachtet der Tatsache, dass diesen Schriften höchst unterschiedliche Funktionen zukommen. Denn zum einen ist weder der Koran noch die Bibel ein Gesetzeswerk, und zum anderen ist das Grundgesetz bekanntermaßen keine Offenbarungsschrift.
Fragt man, was in Deutschland lebende MuslimInnen über das hiesige politische System denken, so hat zum Beispiel der Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung gezeigt, dass die Zustimmung zur Demokratie sehr hoch ist. Abgesehen davon befragen MuslimInnen, genauso wie Gläubige anderer Religionsgemeinschaften, sicher auch ihr Gewissen, wenn sie über die Rechtmäßigkeit staatlicher Politik nachdenken. ChristInnen beispielsweise verstoßen bekanntermaßen aus diesem Grund gelegentlich gegen die Rechtspraxis, wenn sie abgewiesenen Asylsuchenden Kirchenasyl gewähren.
Das Interview führte Ali Mete.