Die Bundestagswahlen stehen vor der Tür. Vor allem Muslime wissen nicht, wen sie wählen sollen. IslamiQ hat um die Einschätzung von Muslimen gebeten. Heute: Merve Gül.
IslamiQ: Werden die Bedürfnisse der Muslime von den hiesigen Parteien ausreichend beachtet?
Merve Gül: Das kommt darauf an, wie man die Bedürfnisse der Muslime definiert. Und diese Frage sollten wir in den Fokus stellen. Was sind denn die Bedürfnisse der Muslime und unterscheiden sie sich von denen der Mehrheitsgesellschaft? Ich würde sagen nein, wenn es um Themen wie Bildungsgerechtigkeit und die soziale Marktwirtschaft geht. Ich würde sagen ja, wenn es um Chancen für Wohnraum und auf dem Arbeitsmarkt geht. Klar sind viele Parteien für Chancengleichheit. Aber gerade am Beispiel der Frauenquote wird klar, dass hier ein separates muslimisches Bedürfnis existiert: Frauen mit einem Kopftuch bringt die Frauenquote überhaupt nichts, obwohl sie auch Frauen sind. Wenn eine Frau aufgrund eines Stück Stoffs noch nicht einmal ins Unternehmen kommt, kann sich die Frage nach einer Führungsposition überhaupt nicht stellen. Und die jüngste Studie zur Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt zeigte ebenfalls: von der Wohnungsknappheit sind wir alle betroffen, nur Muslime mit andersklingendem Namen sind stärker betroffen. Daran ändert sich auch nichts, wenn es ausreichend Wohnungen gibt.
Was ich damit sagen möchte ist folgendes: wir Muslime sind keine besondere Spezies, sondern definieren uns und unsere Bedürfnisse selbst, weshalb wir in vielen etablierten Parteien eine Heimat finden können. Allerdings hat die Möglichkeit der Selbstdefinition ihre Grenzen und hier sind Veränderungen erforderlich, die man nur durch langfristige und gute Lobbyarbeit hinkriegt.
IslamiQ: Oft wird den Parteien vorgeworfen, dass sie während des Wahlkampfes antimuslimische Ressentiments bedienen, um auf Stimmenfang zu gehen. Wie haben Sie die letzten Monate erlebt?
Gül: Ich muss zugeben, dass ich mir das TV Duell nicht angeschaut habe. Aber hier soll es aufgrund der schlechten Moderation fast nur um das Thema „die Islamisierung des Abendlandes“ gegangen sein. Ansonsten empfand ich die letzten Monate unabhängig von antimuslimischen Ressentiments aufgrund einiger Aussagen von Politiker*Innen generell menschenverachtend. Ich möchte aber auch hinzufügen, dass wir dem nur entgegenwirken können, wenn wir anwesend und sichtbar sind. Das muss nicht unbedingt in einer TV Show als Gast sein, sondern reicht auch aus, wenn man sich in die erste Reihe mit ein paar Freunden als Schwarzköpfe einer Podiumsdiskussion setzt. Das sind nicht die spaßigsten Veranstaltungen, aber es gehört zur Pflicht zu sagen: „Ich bin hier und du kannst nicht über mich herziehen, während ich anwesend bin.“ Ist man anwesend, bemühen sich viele um Differenziertheit.
IslamiQ: Welche Partei wird Ihrer Meinung nach bei dieser Bundestagswahl erfolgreich werden und welche nicht?
Gül: Ganz klar die CDU und durch einen Wiedereinzug in den Bundestag die FDP. Die Grünen haben sich ihre Sitze massiv verspielt.
IslamiQ: Wie schätzen Sie den Wahlausgang für die islamfeindliche AfD ein?
Gül: Die AfD wird leider in den Bundestag einziehen und momentan könnte sie sogar die stärkste Oppositionspartei bilden. Schade, denn vor einigen Monaten lag die AfD laut Umfragewerten in ihrem Rekordtief. Die Partei hat im Wahlkampf vor allem auf die Eskalationsrhetorik gesetzt und ihre PR bekommen. So musste sie sich wenig mit Inhalten auseinandersetzen, sondern eher mit den Aussagen ihrer Kandidaten. Da kann man als Politiker*In einer anderen Partei zwar gut draufhauen, dann verlässt eine Weidel aber ganz gediegen eine Talkshow und sagt die nächste ab, weil sie es nicht einsieht, dass sie für die Aussagen ihrer Parteifreunde einstehen muss. Aufgrund einer menschlichen Trotzreaktion der potenziellen Wähler steigen dann wieder die Umfragewerte.
IslamiQ: Was erhoffen Sie sich nach der Bundestagswahl im September?
Gül: Dass Ruhe einkehrt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das mit der AfD im Bundestag so klappt. Ich hoffe auch, dass wir uns wieder um die wichtigen Dinge in unserem Land kümmern und nicht um AfD-Kandidaten, Hipster oder Beschneidungen. Wir tragen als Deutschland nationale und internationale Verantwortung. Ich hoffe, dass die Politiker*Innen sich bemühen dieser Aufgabe am besten gerecht zu werden.