Die Bundestagswahlen stehen vor der Tür. Vor allem Muslime wissen nicht, wen sie wählen sollen. IslamiQ hat um die Einschätzung von Muslimen gebeten. Heute: Selçuk Çiçek.
IslamiQ: Werden die Bedürfnisse der Muslime von den hiesigen Parteien ausreichend beachtet?
Selçuk Çiçek: Das Gefühl habe ich nicht. Muslime werden bevormundet und als Sicherheitsproblem angesehen. Rechtspopulistische Parteien haben sich fast überall in Europa zur politischen Kraft hochgearbeitet und machen ihren konsequenten Einfluss geltend. Auch die politische Konjunktur in Deutschland ist von diesem Phänomen betroffen. Die Anschläge auf Moscheen sind dramatisch gestiegen. In Deutschland sind schon in den ersten drei Monaten dieses Jahres mehr als 200 islamfeindliche Übergriffe auf Muslime angezeigt worden. Für die Muslime ist die Entwicklung beängstigend.
Währenddessen beschäftigen sich die Politiker lieber mit dem Burka-Verbot im öffentlichen Dienst, um die Rechtsstimmen zu erlangen. Der Großteil der Parteien äußert sich nicht einmal zum inzwischen salonfähig gewordenen antimuslimischen Rassismus oder zur Sicherheit der Muslime, geschweige denn zu ihren Bedürfnissen. Das Vertrauen der Muslime gegenüber der Politik ist enorm geschmolzen. Ihre Bedürfnisse werden nicht wahrgenommen.
IslamiQ: Oft wird den Parteien vorgeworfen, dass sie während des Wahlkampfes antimuslimische Ressentiments bedienen, um auf Stimmenfang zu gehen. Wie haben Sie die letzten Monate erlebt?
Çiçek: Das gesamte Spektrum ist leider nach rechts gerückt. So werden die, die ganz rechts sind immer hemmungsloser. Es gab kaum eine Wahl, bei der der Populismus so ein Hoch erreicht hat. Man braucht sich nur die Ereignisse der letzten Tage anzuschauen. Die türkeistämmige Ministerin Aydan Özoğuz wurde von dem AfD-Politiker Alexander Gauland verbal angegriffen. Später wurde ihr Besuch in Eichsfeld abgesagt, weil man ihre Sicherheit nicht gewährleisten konnte. Stellen sie sich mal vor: ein Land, in dem eine Ministerin nicht sicher ist vor rechtsextremistischen Angriffen. Wie soll man sich denn da als normaler türkeistämmiger Muslim fühlen? Die Entwicklung ist wirklich furchterregend.
IslamiQ: Welche Partei wird Ihrer Meinung nach bei dieser Bundestagswahl erfolgreich werden und welche nicht?
Çiçek: Ich denke, wir können davon ausgehen, dass die Bundeskanzlerin für die nächsten Jahre Bundeskanzlerin bleiben wird. Es wäre auch keine Überraschung, wenn Parteien, die mehr Erdoğan-Bashing betreiben als sich mit den Problemen hier im Land zu beschäftigen, nicht in den Bundestag einziehen oder es sehr knapp schaffen.
IslamiQ: Wie schätzen Sie den Wahlausgang der islamfeindlichen AfD ein?
Çiçek: Dass laut den Umfragen eine Partei wie die AfD, dessen Kandidat Gauland noch vor kurzem betonte, dass die Deutschen stolz auf ihre Leistungen in zwei Weltkriegen sein sollen, in den Bundestag einziehen wird, ist eine bittere Niederlage für die hart erkämpfte Demokratie in Deutschland. Wir alle tragen eine große Verantwortung für den Frieden in unserer Gesellschaft. Dazu gehört auch, dass wir eine kluge Strategie gegen den Rechtspopulismus verfolgen, denn eine einfache Stigmatisierung hilft nicht weiter.
IslamiQ: Was erhoffen Sie sich nach der Bundestagswahl im September?
Çiçek: Ich hoffe, dass die angeheizte Wahlstimmung endlich ein Ende findet und wir uns wieder auf einer rationaleren Ebene den globalen und lokalen Herausforderungen stellen können. Angesichts der globalen Herausforderungen spielt Deutschland eine enorm wichtige Rolle, innerhalb der EU sogar eine Führungsrolle.