Kurz vor den Bundestagswahlen entfacht erneut die Debatte über die Loyalität der Türkischstämmigen Muslime. Viele Politiker nutzen die angespannte Situation, um auf Wahlfang zu gehen. IslamiQ befragt Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan zu den Auswirkungen dieser Debatte.
IslamiQ: Werden die Bedürfnisse der Muslime von den hiesigen Parteien ausreichend beachtet?
Prof. Dr. Hacı Halil Uslucan: Generell sind die Bedürfnisse von Muslimen nicht verschieden von denen anderer Menschen; allen ist Arbeit, Bildung, Wohnen etc. zentral. Im Spezifischen müsste eventuell geschaut werden, wie die jeweiligen Parteien zu Fragen der Religionsfreiheit, des Kopftuches, des islamischen Religionsunterrichts an Schulen, zu Fragen muslimischer Bestattung etc. stehen. Und hier sind die großen Parteien voneinander nicht sehr weit weg voneinander.
IslamiQ: Oft wird den Parteien vorgeworfen, dass sie während des Wahlkampfes antimuslimische Ressentiments bedienen, um auf Stimmenfang zu gehen. Wie haben Sie die letzten Monate erlebt?
Uslucan: Das kann man natürlich ganz stark für die AfD sagen; bei den anderen großen bürgerlichen Parteien hat dieser Aspekt aus meiner Sicht keine große Rolle gespielt (eher Türkei-Kritik); gerade auch, um sich von der AfD abzugrenzen bzw. nicht in deren Nähe gebracht zu werden, haben bürgerliche Parteien antimuslimische Reflexe kaum bedient.
IslamiQ: Muslime mit Migrationshintergrund interessieren sich mehr bzw. ausschließlich für die Politik in ihrem ursprünglichen Herkunftsland als in Deutschland. So jedenfalls die These. Würden Sie dem zustimmen?
Uslucan: Dazu kenn ich keine belastbare empirische Studie; wir haben im Zentrum für Türkeistudien festgestellt, dass bei den Türkeistämmigen in NRW (also nicht explizit allein nur Muslimen) zunächst die Verbundenheit mit der Türkei und Deutschland am stärksten ist, aber seit 2010 die Verbindung zur Türkei etwas zunimmt und die Verbundenheit zu Deutschland etwas abnimmt.
IslamiQ: Ist es in einer globalen Welt überhaupt ethisch vertretbar, sich nur für die Belange des „eigenen Landes“ einzusetzen?
Uslucan: Zunächst werden die Politiker natürlich gewählt, um für die Belange der eigenen Bevölkerung sich einzusetzen, aber in vielen Bereichen, so etwa dem Arbeitsmarkt, ist es heute eine Illusion, auf eine nationale Ökonomie setzen zu können; dafür sind die Verflechtungen, Vernetzungen viel zu intensiv. Veränderungen in den Nachbarländern, aber auch mit ökonomischen Partnern, betreffen die eigene Wirtschaft massiv, wie etwa zuletzt in der Bankenkrise, die in den USA begann, sichtbar wurde. Ähnliches ließe sich auch für Umweltfragen sagen.
IslamiQ: Von Migranten mit deutschem Pass wird oft mehr „Loyalität gegenüber Deutschland“ gefordert. Kann Loyalität überhaupt von einem Pass anhängig gemacht werden? Welches Problem wäre denn gelöst, wenn man sich gezwungenermaßen entschieden hätte?
Uslucan: Loyalität an einen Pass zu binden, ist widersinnig. Beispielsweise die Forderung, jemanden zu lieben, wird doch nicht dazu führen, dass man den anderen auch tatsächlich liebt. Man kann höchstens die Bedingungen günstig gestalten, freundliche Begegnungen organisieren, und Hindernisse aus dem Weg räumen. Aber diskursive Konflikte um angeblich „illoyale Migranten“ können natürlich Anlässe bilden, über Werte und Loyalitätsbindungen gemeinsam nachzudenken.
Welche Werte wollen wir befolgen? Was ist für uns alle gleichermaßen wichtig? Was sind die Konturen eines guten Lebens für alle? Nachhaltige Wertbindungen sind jene, die von den Individuen bewusst, vor einer Wahlalternative stehend, übernommen, angeeignet und anerkannt werden, wenn also die zu verhandelnden Werte auch als ein Produkt einer „vollzogenen Wertung“ verinnerlicht werden. Das setzt wiederum die affektive Beteiligung des Einzelnen voraus. Insofern sind die Kennzeichen einer „reifen“ Wertebindung Autonomie im Handeln und die Entscheidung des Einzelnen; kann aber nicht die Reaktion auf sozialpolitischen Druck sein.
IslamiQ: Die deutsch-türkische Beziehung hat ein historisches Tief erreicht. Das lässt sich an dem Umgang mit der DITIB gut ablesen: Früher wurde sie von der deutschen Politik als „unproblematisch“ betrachtet, nun ist sie „höchst umstritten“. Welche Auswirkungen haben solche Konflikte auf das aktuelle und zukünftige Leben der Türkeistämmigen hierzulande?
Uslucan: Die Auswirkungen haben nicht stets negative Auswirkungen auf alle Türkeistämmige; schließlich gibt es auch eine Vielzahl von Türkeistämmigen, die das Betreiben einiger Teile der DITIB (so etwa eine Fortführung der Ankara-Politik) höchst skeptisch und besorgt beobachten.
Konkrete Schwierigkeiten sehe ich in der Zusammenarbeit auf Verbandsebene, wie bspw. bei Fragen der Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts, einer Vielzahl von Integrations- und Bildungsprojekten. Hier müsste sich DITIB als ein eigenständiger, von der aktuellen türkischen Politik emanzipierter islamische Religionsgemeinschaft zeigen und diese Eigenständigkeit müsst sich in ihrer Kommunikation und Aktivitäten bewähren.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.