MUSLIMISCHE AKADEMIKER

Sufismus als „Weg“, „Weisheit“ und „Wissenschaft“

Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen der Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute Raid Al-Daghistani über die Erkenntnisaspekte des Sufismus.

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2017
Raid Al-Daghistani über Sufismus
Raid Al-Daghistani © Marcel Klapp

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?

Raid Al-Daghistani: Ich wurde 1983 in Ljubljana (Slowenien) geboren, bin dort aufgewachsen und schloss mein Diplomstudium der Philosophie ab. Da ich schon damals gerne im Ausland studieren und sowohl meine akademischen als auch persönlichen Erfahrungen erweitern wollte, nutzte ich die Gelegenheit, als Erasmus-Stipendiat für ein Semester an der Universität Freiburg im Breisgau zu studieren. Diese Freiburger Periode bedeutete für mich die intensivste Zeit der Philosophie. Doch ein Jahr später ging ich im Rahmen des BASILEUS-Austauschprogramms nach Sarajevo. Die Tatsache, dass mein primäres Forschungsinteresse seit einigen Jahren ausgerechnet in der islamischen Mystik (Sufismus) liegt, verdanke ich u. a. den inspirierenden Vorlesungen des dortigen Professors Rešid Hafizović. Nach dem Abschluss meines Diplomstudiums kam ich nach Deutschland, um mein Studium der Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Münster fortzusetzen. Hier schloss ich mein Masterstudium ab und habe vor kurzem auch promoviert. Der Titel meiner Dissertation lautet: „Epistemologie des Herzens: Erkenntnisaspekte der islamischen Mystik“ und wird demnächst auch als Buch erhältlich sein.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Arbeit kurz vorstellen?

Al-Daghistani: Meine Promotionsarbeit richtet sich auf die Erforschung der Erkenntnisaspekte mystischer Erfahrungen innerhalb der islamischen religiösen Tradition. Die mystische Erfahrung verfüge über einen unmittelbaren Zugang zur ultimativen (göttlichen) Wirklichkeit. Einer der wichtigsten Aspekte der mystischen Erfahrung ist eben der Aspekt der Erkenntnis. Im Fokus meiner Arbeit steht somit die Untersuchung der „metarationalen Erkenntnisebenen“, ihrer Bedingungen, Funktionen, Auswirkungen und Ausdrucksformen. In diesem Zusammenhang befasst sich meine Arbeit auch mit dem Konzept des „subtilen Herzes“ im Sinne eines ausgezeichneten Erkenntnisorgans. Die islamische geistige Tradition bietet uns eine Fülle Aussagen und Berichte mystischer Erfahrungen an, die aber im deutschsprachigen Wissenschaftsgebiet noch immer zu wenig systematisch-kritisch und erkenntnistheoretisch erschlossen sind. Meine Doktorarbeit stellt damit auch einen Versuch dar, das Mystische, also „das Geheimnisvolle“, in theoretischer und streng wissenschaftlicher Hinsicht zu erringen.

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?

Al-Daghistani: Mein Interesse für die islamische Mystik entwickelte sich allmählich. Die Studienzeit in Sarajevo bedeutet für mich auf der akademischen Ebene eine Brücke von der Philosophie zur Islamwissenschaft, genauer: zu islamischer Philosophie und Mystik. Während meines Master- und Promotionsstudiums in Münster nahm dieses Interesse an der islamischen Philosophie und vor allem an der islamischen Mystik nur noch zu. Dazu haben sicherlich mehrere Faktoren beigetragen. Zum einen lag das an den höchstinteressanten Lektüren mystischer Texte. Zum anderen aber an meinem eigenen Wissensdrang und intellektuell-existenziellen Bedarf, die Geisteswelt der großen islamischen Mystiker näher zu erkunden. Dabei interessierte mich grundsätzlich die Erkenntnisdimension.

In meiner Masterarbeit – die in bearbeiteter Form auch als Buch veröffentlicht wurde (Kalam: 2014) – widmete ich mich der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen al-Ghazalis Lebensweg und seiner Erkenntnislehre. In meiner Dissertation baute ich auf den Feststellungen und Ergebnissen meiner Masterarbeit auf, wobei ich das Untersuchungsspektrum auf die gesamte islamische Mystik erweiterte.

Der Schwerpunkt sowohl meiner Dissertation als auch meiner aktuellen Forschung ist also die „sufische Epistemologie“, in deren Mittelpunkt die übersinnlichen, metarationalen und transzendenten Erkenntnisphänomene wie „unmittelbare Enthüllung“, „spirituelles Schmecken“ oder „Geistesschau“ stehen. Ich konnte feststellen, dass eben diese erkenntnishafte Dimension des Sufismus – die auf der intensiven inneren Läuterung beruht und auf die geistige Selbstvervollkommnung des Menschen ausgerichtet ist – bisher in der Islamwissenschaft zu wenig kritisch berücksichtig, erforscht und gewürdigt wurde. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass die Erforschung dieser Dimension(en) uns helfen kann, ein besseres – d.h. ganzheitliches – Verständnis vom Sufismus als „Weg“, „Weisheit“ und „Wissenschaft“ zu gewinnen.

IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?

Al-Daghistani: Die Zeit meiner Doktorarbeit war gewiss eine der wichtigsten, intensivsten und lehrreichsten Phase in meinem bisherigen akademischen Werdegang. Vertiefung in die mystischen Texte, Bemühungen bei der Übersetzung schwerverständiger arabischer Fachtermini, reger Austausch von Ideen mit Kollegen und Kolleginnen, atemlose Schreibphasen – all dies machte die Zeit der Doktorarbeit zu einer spannenden intellektuellen Entdeckungsreise. Selbstverständlich musste ich gelegentlich mit Motivationsschwankungen und Müdigkeit kämpfen, die aber von großer Leidenschaft am vorliegenden Thema sowie von meiner ungestillten Zielstrebigkeit letztlich immer wieder überwunden wurden.

Ich kann mich wirklich als sehr glücklich schätzen, dass meine Doktorarbeit von zwei Gutachtern betreut wurde, die mir mit ihren Fachkenntnissen und wertvollen Ratschlägen während meiner gesamten Promotionszeit zur Seite standen: Prof. Dr. Marco Schöller und Prof. Dr. Ahmad Milad Karimi. Große Unterstützung war auch meine Frau, auf deren Geduld und Hilfe ich mich immer verlassen konnte. So kann ich zu Recht sagen, dass ich während meiner Doktorarbeit wirklich sehr positive Erfahrungen gemacht habe. Ich glaube, dass genau diese Erfahrungen, das weiterbestehende Interesse am Thema und mein ungestillter Forschungsgeist mich in der aktuellen Arbeit vorantreiben – und vorantreiben werden.

IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?

Al-Daghistani: Das ist schwierig vorauszusehen. Ich hoffe und würde mich auch sehr freuen, wenn meine Doktorarbeit bei Lesern und Leserinnen weiteres Interesse für das behandelnde Thema wecken und vor allem zum besseren Verständnis der reichen und vielfältigen mystischen Tradition des Islams – die meines Erachtens nach auch als eine friedenstiftende Anleitung für ein achtsames und bewusstseinsethisches Leben für Muslime verstanden werden kann – beitragen würde.

Das Interview führte Muhammed Suiçmez. 

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Leserkommentare

Charley sagt:
Klingt sehr spannend. Leider begrenzt der Interviewer den Inhalt viel zu sehr auf das Persönliche. Denn bei der Epistemologie (= Erkenntnistheorie) des Sufismus wäre natürlich als erstes interessant, wie die Auflösung des polaren Bewusstseins behandelt wird, die die Voraussetzung erstens der übersinnlichen Erfahrung ist und zugleich das Ende der gewohnten Objektivität. - Ob da heraus eine Praxis entstehen kann, die sich nicht in ggf dem modernen Menschen nicht mehr passenden esoterischen Übungen bewegt, wäre zu fragen. Allein so könnte der in Religionsfolklore erstarrte Islam neues Leben und Gewicht erhalten. Aber individuelle spirituelle Erfahrung macht frei. Ob das die islamische "Gemeinde" will oder überhaupt erträgt?
19.11.17
7:04
Bernhard Neumann sagt:
Mit großem Gewinn habe ich die Masterarbeit über den Zusammenhang von Erkenntnislehre und Lebensweg bei Muhammad Al Gazali gelesen und warte freudig und gespannt darauf, das neue Buch in Händen halten zu können. Zwar kann "lesen" das "schmecken" nicht ersetzen, aber es kann ein Weg dahin sein.
21.11.17
7:46
Kritika sagt:
L.S. Klingt sehr nach HokusPokus. Wenn der Autor nicht einmal weiss, ob seine Doktorarbeit über den Islam für Muslims nützlich ist, für wen dann? « Die mystische Erfahrung verfüge über einen unmittelbaren Zugang zur ultimativen (göttlichen) Wirklichkeit » ?? Welcher der welltweiten Götter besitzt denn diese ultimative Wirklichkeit? Die 3 Buchreligionen jedebfalls schliessen KonkurrenzGötter katagorisch aus. Und woher nimmt der Verfasser an, dass es überhaupt einen Gott mit Weisheit gibt, da doch die Religion eines Menschen willkürlicherweise zu 90% die ist, die ihm seine Eltern eingetrichtet haben. Deswegen sind ErkenntnissOrientierte RelionsSchulen für das Überleben jeder Religion so überlebenswichtig. Es will Kritika so vorkommen als habe Herr Raid Al-Daghistani L' Art pour l'Art ' studiert. Mit dem Wissen könnte Taxifahrer seine nächste KarriäreStufe sein. Dennoch, Kritika wünscht ihm alles Gute.
21.11.17
21:06
Charley sagt:
Kritika zelebriert hier ständig negative Gottesbeweise. Seine Logik ist genauso dämlich wie die Logik derjenigen, die Gott "beweisen" wollten. Seine gesetzte Prämisse in 1000 Beispielen ständig neu auszuwalzen wird langsam langweilig. Der Sufismus ist als solcher bitteschön zu würdigen. Gerade weil er die Behauptungs- und Bekenntnisreligion, gegen die Kritika immer nur mosert, durch eine Erfahrungsreligion ersetzt. Besser, durch eine Erfahrung und Erkenntnis dasjenige mit Inhalt füllt, worauf Religionen mit ihren Worten hindeuten wollen/sollten. Das Schreien nach Gottesbeweisen, über die er sich nur lustig machen kann ist genauso dümmlich wie die - höhnenden - Lächerlichmachungen, mit denen er konsequent spirituelle Erkenntnis abtut. Welch eine Mühe für etwas, was es für Kritika doch nicht gibt! Zudem zeigt Kritika konsequent, dass er von den schlichtesten Grundbedingungen spiritueller Erfahrung null, aber wirklich null Ahnung hat. Diese Überheblichkeit disqualifiziert sich von allein, ... das ist aber Kritikas Glaubensfreiheit.
23.11.17
19:49
Frederic Voss sagt:
Islamische Mystik kann wohl ebenso interessant sein wie auch anders gespeiste Mystik. Und natürlich muß diese Mystik eine klare Grenzlinie ziehen zu Polit-Islamismus und anderen Auswüchsen. Denn damit hat wahre Mystik nie und nimmer etwas zu tun.
26.11.17
13:12
Kritika sagt:
An Charley Ihre Kritik an Kritika, dd 22.11.1917 Ich zelebriere keine negative Gottesbeweise, wenn aber jemand ein Faktum postuliert, sei es Allah, einen Sonnenumrundenden Teapot oder ein unsichbares pink Huftier, [ leider alle 3 nicht von mir ] dann sollte es zumindest eine logische Vermutung deren Existenz geben. Ich vermisse jeden logischen Hinweis auf deren Existenz, Ihrerseits, von Charley wie vom Wissens-Vermuter Al-Daghistani und sortiere angebliche Götter aller Art in der Rubrik Fabelwesen = MärchenFuiguren. von A wie Allah bis Z wie Zeus, Gruss, Kritika.
17.07.21
19:16