Die „Theologie der Barmherzigkeit“ sei gegenüber muslimischen Andersdenkenden eher unbarmherzig. Diese Auffassung vertritt Engin Karahan, der das Buch „Scharia – der missverstanden Gott“ von Mouhanad Khorchide gelesen hat. Neue Bücher zur jungen islamischen Theologie seien zwar immer willkommen, können sich aber auch negativ auf deren Entwicklung auswirken.
Viele Bücher zur islamischen Theologie gibt es noch nicht auf dem deutschen Markt. Besonders an Büchern, die keine Übersetzungen sind und einen eigenen, aktuellen Zugang zu dem Thema gewähren, fehlt es. So ist grundsätzlich jedes neue Werk in dieser Lücke erfreulich. In einer immer intensiver geführten Debatte über die Frage, was denn nun islamische Theologie ist, ob es diese überhaupt gibt und wie sie im hier und heute aussehen kann, werden Publikationen sicherlich einer erweiterten Erwartungshaltung gerecht werden müssen: Sind die Inhalte sowohl für Muslime als auch Nichtmuslime zumindest nachvollziehbar und plausibel? Wie ist das Verhältnis zur islamischen Tradition in den Herkunftsländern, aber auch zu der in den letzten 50 Jahren in Deutschland und anderswo in Europa entstandenen, eigenen gelebten Tradition der Muslime? Welcher inhaltliche und wissenschaftliche Anspruch wird formuliert, und wird das Werk diesem Anspruch gerecht? Und nicht zuletzt, als wie authentisch wird das Werk von der breiten muslimischen Öffentlichkeit wahrgenommen und inwieweit findet sie ihre nicht immer einheitlichen Vorstellungen von einem islamischen Glauben und Leben dort wieder?
Sicherlich kann und muss nicht jede Publikation diesen Erwartungen gerecht werden. Die Vielfalt im Islam kann auch damit leben, wenn nur eine kleine Gruppe sich von einem Werk angesprochen fühlt, das mehrheitlich von der muslimischen Gemeinschaft abgelehnt wird. Nicht dieses wichtige Votum wird am Ende allein über die Qualität eines Buches entscheiden. Vielmehr wird dies gerade auch davon abhängen, ob das Werk dem eigenen, selbst gesetzten Anspruch gerecht wird. Einen Einfluss auf die Wahrnehmung des Islams und der Muslime, aber auch auf die Etablierung einer islamischen Theologie, wird jedes dieser Werke haben.
Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einen Blick auf das Buch „Scharia – der missverstandene Gott. Der Weg zu einer modernen muslimischen Ethik“ von Mouhanad Khorchide zu werfen. Das Buch hat medial einiges an Öffentlichkeit erfahren. Diese Aufmerksamkeit hat sich bisher jedoch weit mehr der Diskussion über den Autor gewidmet als tatsächlich dem Buch. Kaum wird auf den Inhalt eingegangen, noch weniger wird nach der Rezeption innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland gefragt. Es lohnt sich deshalb einen näheren Blick auf die Aussagen des Buches zu werfen.
Den Anspruch des Buches hängt der Autor sehr hoch. So soll es nicht einzelne Fatwas oder Antworten auf vereinzelte Fragen geben, „sondern eine Perspektive zeigen, wie man Scharia jenseits einer dogmatischen oder juristischen Auffassung verstehen kann, um der islamischen Botschaft möglichst gerecht zu werden.“ (S. 229) Diesem Anspruch wird das Buch jedoch aus vielerlei Gründen nicht gerecht. Eine Vielzahl von inhaltlichen Widersprüchen, nicht zu Ende gedachten Gedankengängen und methodisch mit Vorsicht zu genießende Auslegungen und Interpretationen stellen die Aussagen unter ein großes Fragezeichen. Insbesondere die immer wieder auftauchenden autobiographischen Verweise und die als autobiographisch anzusehenden Wertungen werfen die Frage auf, welche Rolle und welchen Einfluss stark subjektivierte Eigenerfahrungen bei der Formulierung einer allgemeinen islamischen Theologie oder wie hier „einer modernen muslimischen Ethik“ spielen dürfen.
Gepaart mit der Herangehensweise, eine neue Theologie zu formulieren, ohne die konkreten Thesen und Argumente und auch deren Konsequenzen ausreichend miteinbezogen zu haben, führt das zu dem Ergebnis, dass bei aller Kritik an der islamischen Wissenschaftstradition auf den ersten 100 Seiten, die zweite Hälfte des Buches fast nur noch aus der fast unkritischen Wiedergabe gerade dieser Tradition besteht. Es sieht so aus, als würde eine theologische Aussage getroffen, die als Ergebnis eines langen Schaffensprozesses hätte ausformuliert werden können, beginnend mit einer Vermutung oder Annahme, in Aufsätzen und Beiträgen diskutiert und der kritischen Debatte geöffnet. Jedoch wurde das Ergebnis hier offensichtlich ohne diese Schritte an den Anfang gestellt: Eine umfassende und im Rahmen des Buches absolut gestellte „Theologie der Barmherzigkeit“.
Der Absolutheitsanspruch wird im Buch nicht in ausdrücklicher Form benannt. Implizit wird dieser jedoch an zahlreichen Stellen formuliert, wenn das Buch abweichende Meinungen nicht nur als anders bewertet, sondern diese mit dem Vorwurf der Beigesellung zu Gott außerhalb des Islams stellt (vgl. S. 27 f., S. 33, S. 34, S. 35 f, S. 47, 5.59). So führen schon eine andere Art des Koranverständnisses (vgl. S. 33), Interpretationsunterschiede (vgl. S. 27 f.), Methodenunterschiede in der Koranexegese (vgl. S. 34) oder Gruppenvorstellungen im politischen Denken (vgl. S. 35f.) dazu, dass andersdenkende Muslime vom Autor als außerhalb des Islams stehend angesehen werden. ((
„»Beigesellung» (Schirk) kann also im Kopf eines Menschen stattfinden, indem er die ihm von Gott verliehene Vernunft, mit der er den Geist des Korans verstehen kann, zugunsten des Scheinbaren, also des gelesenen statt des verstandenen Wortes ausschaltet. “ {Khorchide 2013, S. 33};
„Abgesehen davon, dass solche Aussagen, die dem Propheten Muhammad zugeschrieben werden, offensichtlich im Sinne späterer politischer Mächte erfunden sind, auch wenn sie in vom sunnitischen Islam als kanonisch geltenden Sammlungen vorkommen, wird bei dem wortwörtlichen Verständnis nicht nach dem Geist des Korans gefragt, also nach den Aussagen hinter den Buchstaben, sondern werden die Buchstaben und Worte als heilig angesehen und sie an Gottes Stelle angebetet, was zwangsläufig zur Beigesellung führt.“ {Khorchide 2013, S. 34}
„Dies bringt die Gefahr mit sich, dass nicht islamische Maximen wie Gerechtigkeit für alle sowie soziale und politische Befreiung angestrebt werden, sondern lediglich die Interessen der eigenen Gruppierung. Das Volk wird in Anhänger und Gegner gespalten. Die eigenen Anhänger werden als Anhänger des Islams identifiziert, was impliziert, dass die politische Opposition nicht nur als solche gesehen wird, sondern auch als unislamisch. Solche Art der Hingabe einer Gruppierung schränkt die eigene freie Sicht ein und verblendet den Menschen. Daher ist sie auch eine Form der Beigesellung, von der sich der Muslim befreien soll.“ {Khorchide 2013, S. 35–36}
)) Auffallend ist, wie häufig der Vorwurf des Beigesellens in dem Buch genutzt wird, was die grundsätzliche Toleranz in der islamischen Gelehrsamkeit anderen islamisch-theologischen Ansichten gegenüber vermissen lässt. Stattdessen tritt die „Theologie der Barmherzigkeit“ mit einer Radikalität auf, mit der sie Gefahr läuft, den Raum der Theologie zu verlassen, um in die Sphäre der Ideologie zu wechseln. Die von der reinen Wortbedeutung her einen positiven Klang entfaltende „Theologie der Barmherzigkeit“ zeigt sich gegenüber muslimischen Andersdenkenden als eher unbarmherzig.
Mouhanad Khorchide: „Scharia – der missverstandene Gott: Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik“, Verlag: Herder, ISBN: 978-3451309113, Gebundene Ausgabe
Ein weiterer exemplarischer und nicht aufgelöster genereller Widerspruch des Buches öffnet sich im Kern der „Theologie der Barmherzigkeit“, nämlich bei der Dichotomie von göttlicher Liebe und menschlicher Freiheit. Gott will in dieser Theologie des Autors weder verherrlicht werden, noch ist er darauf angewiesen angebetet zu werden. Dennoch will er, dass die Menschen zu ihm beten. Denn das Beten stelle eine Form der menschlichen Erwiderung der Liebe Gottes dar. Und Gott wartet und erwartet die Erwiderung seiner Liebe (vgl. S. 37). Worauf der Autor jedoch nicht eingeht ist, warum Gott diesen inneren Wunsch verspüren soll, geliebt zu werden. Es wird das Bild eines passiven Gottes gezeichnet, der wartet, „auf ein Wort, auf ein Zeichen, das auf ihn gerichtet ist, auf einen Schritt“ (S. 37). Eine Konsequenz für das vergebliche Warten scheint es nicht zu geben. Stattdessen macht Gott weiter immer neue Angebote: „Auch wenn der Mensch diese Angebote ablehnt, hört Gott auf keinen Fall auf, dem Menschen immer und immer wieder Angebote zu machen und die Situation neu zu kalkulieren, sodass Gott – egal wie oft der Mensch diese Angebote ablehnt – stets das nächstbeste mögliche Angebot greifbar macht.“ (S. 66). Der Gott der Barmherzigkeits-Theologie „produziert“ also – dem modernen marketinggeschulten Unternehmerbild entsprechend – für den „Abnehmer“, den Menschen, immer wieder neue Angebote.
Welche Folgen die permanente Ablehnung der Angebote Gottes haben könnte, scheint das Buch nur anzudeuten, wenn es an einer Stelle fast schon beiläufig davon spricht, dass „der Glaube an die Wiederauferstehung und an den Gerichtstag […] der Glaube an die Wiederherstellung von Gerechtigkeit ist“. (S. 67) Auf die zwingende Frage, auf welcher Grundlage denn an diesem Gerichtstag die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden soll, woran sich der Mensch zu messen hat, geht der Autor nicht ein.
Bei dem Versuch von einer vermeintlich patriarchalen Gottesvorstellung wegzukommen, kommt das Buch bei einer Gottesvorstellung an, „in dem Gott und Mensch als Kooperationspartner Seite an Seite stehen, um gemeinsam an der Verwirklichung von Gottes Intention nach Liebe und Barmherzigkeit zu arbeiten.“ (S. 21) Gott hat dabei nur noch die Funktion des immer und immer wieder in Liebe gebenden, der sehnsüchtig darauf wartet, dass sein Liebesangebot irgendwann einmal entgegnet wird. Wenn aber Mensch und Gott in dieser Vorstellung Kooperationspartner sind, wieso erwartet Gott dann vom Menschen, dass er seine „Intention nach Liebe und Barmherzigkeit“ übernimmt. Wieso soll der Mensch nicht eine eigene, völlig konträre Intention entwickeln können, die sich mit seiner nicht deckt?
Das Gottesverständnis der „Theologie der Barmherzigkeit“ – wie der Autor sie versteht – befreit zwar den Menschen von jeglicher Abhängigkeit gegenüber Gott, versetzt diesen jedoch in Abhängigkeit zum Menschen (vgl. S. 37). Aber, – und dieses „aber“ tritt immer wieder im Buch auf, – auch die Gegenmeinung zu dieser Meinung wird vom Autor vertreten. Sowohl Meinung als auch die diese Meinung ausschließende Gegenmeinung werden in dem Buch als eigene Meinung wiedergegeben, bisweilen sogar in ein und demselben Absatz. So werden in dem genannten Abschnitt auf S. 37 sowohl die Vollkommenheit Gottes und seine Unabhängigkeit gegenüber allem gepriesen, um ihn dann gleich wieder abhängig von Liebe und Anbetung seiner Geschöpfe zu erklären. Während einerseits ein passiver Gott dargestellt wird, greift er plötzlich an anderer Stelle nun doch wieder ein. Mal greift er nur „durch“ den Menschen ein (vgl. S. 66), dann, indem er Angebote macht (vgl. S. 66), um dann die Ereignisse doch wieder selbst zu lenken (vgl. S. 67). Der Widerspruch zwischen der in dem Buch dargestellten „fast“ absoluten Freiheit des Menschen, seinem Gott gegenüber konsequenzenlosem Handeln und den dennoch erfolgenden freiheitsbeschränkenden Eingriffen Gottes, löst das Buch im Ergebnis jedoch nicht auf.
Die „Theologie der Barmherzigkeit“ scheint sich ihrer Schwächen insofern schon bewusst zu sein. Statt aus sich heraus zu überzeugen, wird eher versucht, durch die Abgrenzung gegenüber dem negativen Anderen an Überzeugung zu gewinnen. Dieser Andere ist in dem Buch der „praktizierende Muslim“. Dieser wird in dem Buch fast ausschließlich negativ konnotiert. Der Autor kritisiert zwar selbst an einer Stelle: „Sehr viele Muslime maßen sich an, Aussagen über die Religiosität anderer Menschen zutreffen.“ (S .45) Den Nachweis für diese Anmaßung liefert der Autor interessanterweise gleich selbst: „Die Praxis sehr vieler sogenannter praktizierender Muslime, die sich lediglich an Äußerlichkeiten halten, sieht leider so aus: Fast jeder geht davon aus, dass ihm die ewige Glückseligkeit längst garantiert ist.“ (S. 45)
Es bleibt aber nicht bei diesem Urteil über den praktizierenden Muslim. Vielmehr wird diesem noch weiter vorgeworfen, Gelehrte an die Stelle Gottes zu setzen (vgl. S. 14), Dritte blind zu befolgen (vgl. S. 29) oder den Islam nur juristisch wahrzunehmen, frei von jeglicher Moralität und Spiritualität (vgl. S. 15).
Diese Radikalität in der Aussage wird nachvollziehbar, wenn die autobiographischen Einwebungen des Autors berücksichtigt werden. Seine offensichtlich negativen, persönlichen Erfahrungen scheinen immer wieder durch, wenn der Autor zum Beispiel anführt, Gelehrten und Juristen würden zu Göttern gemacht (vgl. S. 16), die Reinheit der Zunge spiele in der religiösen Erziehung kaum eine Rolle (vgl. S. 45), die soziale Pflichtabgabe gehöre zu den am wenigsten praktizierten Säulen des Islams (vgl. S.49) oder muslimische Gelehrte würden „sich deutlich mehr Gedanken über die Ableitung juristischer Normen [machen] als über die Prozesse der Läuterung des Herzens“ (S. 86). Die Aussagen sind generalisierend, bleiben jedoch nur auf die persönlichen Erfahrungen des Autors selbst beschränkt. Empirische Daten zur Überprüfung der Behauptungen fehlen. Dem Autor scheint es (möglicherweise unbewusst) eher um eine Abrechnung mit der eigenen religiösen Sozialisation und Erfahrung zu gehen, die jedoch ein Ausblenden der Vielfalt der muslimischen Geisteswelt, insbesondere ihrer spirituellen Interpretationen mit sich bringt.
Das einfließende Autobiographische als Ausgangspunkt und die übereilte Formulierung noch unausgereifter Ideen im öffentlichen Raum bringen zwangsläufig Abstriche bei der nicht stringenten Methodik mit sich, mit der der Autor zu seiner persönlichen Interpretation der „Theologie der Barmherzigkeit“ gelangt. Er kritisiert berechtigt die unter modernen Salafisten vorherrschende Lesart des Korans: „Ein wortwörtliches Verständnis einiger Aussagen läuft Gefahr, dem koranischen Geist entgegenzuwirken. Im Namen einer frommen Haltung wird der Koran so konterkariert.“ (S. 32 f.) und „Bei der Auslegung des Textes muss von den allgemeinen Zwecken der islamischen Lehre (Maqasid) ausgegangen werden, eine wörtliche Auslegung läuft Gefahr, die Zwecke des Textes zu verfehlen.“ (S. 141) Während der Autor die Problematik der wortwörtlichen Auslegung zwar in seiner Kritik am „modernen“ Salafismus erkennt, wendet er dennoch selbst diese Methode in der Herleitung seiner „Theologie der Barmherzigkeit“ an. Dies soll an zwei zentralen Aussagen nachgezeichnet werden, die im vorliegenden Werk das theologische Fundament der „Theologie der Barmherzigkeit“ bilden. Dabei geht es um die Auslegung der Verse 5:54 und 22:40.
Den Vers 5:54 bringt der Autor auf S. 38 ein, um seine Aussagen zu Gottes Liebe zu stützen: „Gott will seine Liebe nicht für sich selbst behalten, er wollte diese immer teilen. Daher sucht er nach Mitliebenden. Den ersten Schritt hat er getan, indem er uns aus seiner bedingungslosen Liebe und Barmherzigkeit erschaffen hat: >>Wenn ihr euch abwendet, dann wird Gott Menschen bringen, die er liebt und die ihn lieben.<<“ Bevor der Blick auf den Kontext dieses Verses gewendet wird, fällt schon in der Begründung eine Unstimmigkeit auf. Wenn Gott uns aus seiner bedingungslosen Liebe erschaffen hat, hat man dann überhaupt noch die Freiheit, sich von ihm irgendwie „abzuwenden“? Und was – wenn diese Abwendungsmöglichkeit doch irgendwie erhalten bleibt – geschieht mit denen, die sich abgewendet haben, wenn Gott „neue“ Menschen bringt, die ihn lieben? Dieser vermeintliche Widerspruch kann zwar aufgeklärt werden, nicht aber im Sinne der „Theologie der Barmherzigkeit“ des Autors. Wirft man einen Blick auf die entsprechende Stelle im Koran, fällt auf, dass der Autor weder den ganzen Vers noch den Verszusammenhang wiedergegeben hat. In die Begründung wurde nur ein passendes Versfragment übernommen. Nimmt man auf alle Verse dieses Sinnabschnittes zusammen, wird klar, dass es hier weniger um Gottes Liebe, sondern eher um seinen Zorn gegenüber Heuchlern geht. Bobzin gibt dieser Stelle – wohl noch unbeeindruckt von der „Theologie der Barmherzigkeit“ des Autors – folgende Bedeutung:
„O ihr, die ihr glaubt! Wenn jemand seine Religion verlassen will, dann wird Gott Menschen bringen, die er liebt und die ihn lieben, demütig gegen die Gläubigen, streng gegen die Ungläubigen, die kämpfen werden auf dem Wege Gottes und sich nicht vor dem Tadel eines Tadlers fürchten. Das ist die Gnade Gottes, die er verleiht, an wen er will; Gott ist umfassend, wissend.“ ((Bobzin, Hartmut: Der Koran, Neu übertragen von Hartmut Bobzin, C.H. Beck, München 2010, S. 100.))
Der weitere Blick auf den Verkündigungszusammenhang bestätigt diese Auslegung. Es geht an dieser Stelle um die Heuchler in Medina, die den Propheten und die Gläubigen in einer Notsituation alleine lassen. Es geht hier also nicht um den Schöpfungsakt von liebenden und geliebten Menschen, sondern eher um eine Beschreibung der Gläubigen, die durch ihren Glauben und ihr Handeln ihre Liebe zu Allah bewiesen haben, die deswegen auch von ihm geliebt werden und deren Unterschiede zu den Heuchlern. ((
Übersetzung der Verse 5:52,53 und 55, aus Bobzin, Hartmut: Der Koran, Neu übertragen von Hartmut Bobzin, C.H. Beck, München 2010, S. 100:
52: Du siehst diejenigen, in deren Herzen Krankheit ist, zu ihnen rennen und sagen: «Wir fürchten, dass uns ein Missgeschick ereilt.» Doch vielleicht kommt Gott mit der Entscheidung oder einem Befehl von sich. Dann werden sie bereuen, was sie in ihrem Inneren geheimgehalten hatten.
53: Die glauben, werden sagen: «Sind das die, die bei Gott heilige Eide geschworen haben. Dass sie auf eurer Seite sind?» Zuschanden werden ihre Werke, und Verlierer werden sie sein.
55: Siehe, euer Freund ist Gott, sein Gesandter und die Gläubigen die das Gebet verrichten, die Armensteuer geben und sich beugen.
)) Selbst bei einer sehr weiten Auslegung der entsprechenden Textstellen gelangt man nicht zu der Liebesrhetorik der „Theologie der Barmherzigkeit“, solange der Geist hinter der Aussage nicht verdrängt und nur einen Teil des Verses wörtlich verstanden und dadurch instrumentalisiert wird.
Bei der zweiten Textstelle handelt es sich um den Versuch der Übertragung der „Theologie der Barmherzigkeit“ auf die Lebenswirklichkeit. Dort heißt es auf S. 138 mit Verweis auf Vers 22:40: „Denn menschliche Interessen variieren und so würden die Normen entsprechend variieren. Es ist nachvollziehbar, dass menschliche Interessen variieren und es sogar zu Interessenskonflikten kommen könnte. Allerdings liegt gerade in diesen Aushandlungsprozessen der Garant dafür, dass Beliebigkeit ausgeschlossen bleibt. Der Koran drückt dies auf eindrucksvolle Weise aus: »Und wenn Gott nicht die einen Menschen durch die anderen abwehrt, zerstört wären Mönchsklausen, Kirchen, Gebetsstätten und Niederwerfungsstätten, in denen des Namens Gottes viel gedacht wird. Und Gott wird dem helfen, der Ihm hilft.« Die ständige Aushandlung von Interessen zwischen den Menschen und den Gesellschaften wird im Koran als Schutz beschrieben, und zwar nicht für den Islam allein, sondern für die Vielfalt und somit als Schutz für die Interessen aller.“
Der Autor führt hier wieder nur ein Fragment eines Verses an, um seine These der „Aushandlung“ auf Lebenssachverhalte zu übertragen. Auch hier zeigt er keine glückliche Hand bei der Auswahl der Begründungsgrundlage. Das aus seinem Zusammenhang gerissene Fragment stammt nämlich aus einem Abschnitt, der den Muslimen in Medina das erste Mal den bewaffneten Kampf erlaubt. Entsprechend hart sind dann auch die Formulierungen. ((
Übersetzung der Verse 22:38-41 aus Bobzin, Hartmut: Der Koran, Neu übertragen von Hartmut Bobzin, C.H. Beck, München 2010, S. 291:
38 Siehe, Gott verteidigt diejenigen, die glauben. Siehe, Gott liebt keinen, der Verräter ist und undankbar.
39 Denen, die bekämpft werden, wurde es erlaubt, weil man ihnen Unrecht tat – siehe, Gott hat die Macht, ihnen beizustehen -,
40 die ohne Recht aus ihrer Wohnstatt vertrieben wurden, nur weil sie sprachen: «Unser Herr ist der eine Gott.» Und hätte Gott nicht die Menschen, die einen durch die anderen, zurückgehalten, zerstört worden wären dann Klausen, Kirchen, Bethäuser und Anbetungsstätten, in denen man des Namens Gottes oft gedenkt. Gott wird fürwahr dem helfen, der ihm hilft. Siehe, Gott ist stark und mächtig.
41 Die, wenn wir ihnen Macht im Land gegeben haben, das Gebet verrichten, die Armensteuer entrichten, gebieten, was recht ist, und verbieten, was schlecht ist – bei Gott liegt dann der Dinge Ausgang.
))
Es dürfte beim Diskurspartner sicherlich nicht für Erleichterung sorgen, wenn die muslimische Diskurstheorie mit dieser Koranstelle begründet wird. Dabei äußert sich diese Stelle gerade nicht zu einem irgendwie gearteten, innergesellschaftlichen Aushandlungsprozess, sondern vielmehr zu der Ausnahme- und Notsituation des Angegriffen-Werdens und der Gefahr für Leib und Leben. Nicht das den gesellschaftlichen Diskurs an sich Ansprechende ist hier das Kritikwürdige. Die Kritik gebührt der sinnentstellenden, selektiven Verwendung von Versfragmenten, ohne jegliche Berücksichtigung ihres historischen Hintergrundes. Hier wurde darauf verzichtet, diese Aussage – so zentral sie für seine Theologie auch ist – anderweitig zu stützen.
Am Ende geht dieses Vorgehen auf Kosten der Glaubwürdigkeit der islamischen Theologie in Deutschland. Und letztlich muss sich diese Art des Umgangs mit dem Koran dem gleichen Vorwurf aussetzen, den der Autor zu Recht den Salafisten gegenüber formuliert: „In Wirklichkeit selektieren sie […] eine bestimmte Lesart dieser Epoche, mit der sie ihre Ideologie zu legitimieren versuchen. Historische Fakten werden hingebogen, um bestimmte Positionen als islamisch zu deklarieren.“ (S. 156)