Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen der Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute Fatma Aydınlı über die Vorstellungen der islamischen Theologie von Mensch und Natur.
IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?
Fatma Aydınlı: Ich habe Biologie und islamische Religionswissenschaft mit den Nebenfächern jüdisch-christliche Religionswissenschaft und Pädagogik in Kassel und Frankfurt am Main studiert. Meine Dissertation „Der Mensch als Schöpfer seiner selbst?“, schreibe ich im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Theologie als Wissenschaft“ am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam der Goethe-Universität Frankfurt.
Zudem erwies sich meine interdisziplinäre Studie, die einen Schnittpunkt zwischen den Fachdisziplinen der Theologie, Philosophie und Medizin bildet, als ein wichtiges Desideratum für die zukünftige, zeitgerechte islamische Theologie in Deutschland. Mein hauptsächliches Interessensgebiet bildet der Bereich „Medizinethik in der Klinikseelsorge“, zu dem ich eine universitäre Weiterbildung abgeschlossen habe. Neben meiner Dissertation versuche ich weiterhin Weiterbildungen zu absolvieren, um zukünftig KlinikseelsorgerInnen selbst auszubilden, die zu medizinethischen Problemen Kompetenzen erweisen können.
IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?
Aydınlı: Das Dissertationsvorhaben „Der Mensch als Schöpfer seiner selbst?“ soll einen zentralen Forschungsgegenstand für das moderne muslimische Denken in den Mittelpunkt rücken. Hierbei soll das Vorhaben für die intellektuelle Kontinuität des geistigen Erbes beitragen, indem es ein „reflexives Verhältnis“ seiner „Glaubenstradition“ leistet, um Lösungen für die Moderne im Anspruch der Zukunft zu finden.
Neue Handlungsmöglichkeiten, die bedingt durch die Biotechnologien entstanden sind, formen die Lebenshaltung des Menschen fundamental. In Anbetracht dieser Entwicklungen steht die islamische Theologie in ihrer zeitgemäßen Ausrichtung sowohl vor der Herausforderung einer neuen gesellschaftlichen als auch einer wissenschaftlich-inter- sowie -transdisziplinären Verantwortung.
Auch durch die zunehmende gesellschaftliche Bejahung der Biotechnologien stellt sich in der islamischen Welt die Frage, in welcher Weise die islamische Urteilsbildung in diesem Diskurs unter Wahrung ihrer „eigenen Tradition“ Problemlösungen bietet. Beispielsweise ist das islamische Recht nicht mehr im Gegensatz zum Historischen auf einzelne Problemfelder direkt übertragbar, sondern es vollstreckt seinen prospektiven Impetus im Schnittfeld von theologischen Grundannahmen, Wissenschaft, Politik, öffentlicher Moral und Kultur der Moderne.
Jedoch erwachen letztlich wesentliche ethische Probleme schon mit der Frage nach dem Lebensbeginn und dem Versuch, aus naturwissenschaftlich gesichertem Wissen moralisch relevante Handlungsgebote oder -verbote abzuleiten. Die neueren Entwicklungen, die uns in der Gegenwart durch biowissenschaftliche Fortschritte, wie die Gentechnik und Embryonenforschung begegnen, bedürfen der Verständigung des Menschenbildes. Diesbezüglich bildet das Menschenbild eine fundamentale Basis theologischer Auseinandersetzungen in bioethischen Diskursen im gesellschaftlichen Wandlungsprozess.
In diesem Sinne verfolgt das Dissertationsvorhaben das Ziel, die fruchtbar ausgelegten bzw. reflektierten Vorstellungen der islamischen Theologie von Natur und Mensch durch Extension auf Gegenwart und Zukunft im wissenschaftlichen Rahmen zu reflektieren.
IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?
Aydınlı: Die Pluralität der Muslime bringt eine Wertevielfalt mit sich, aber auch eine gewisse Ambivalenz. Denn sowohl Ablehnung als auch Akzeptanz der Technisierung, die am Menschen hantiert, setzen eine ethische Auseinandersetzung mit ihnen voraus, da hierfür Begründungen und damit Entscheidungskriterien erforderlich sind.
Stellen sie sich vor, dass eine Frau nach einer Fruchtwasserpunktion erfahren muss, dass ihr zweites Kind mit Down-Syndrom auf die Welt kommen wird. Ihr erstes Kind hat schon ein Down-Syndrom. Nach der Entbindung hätte die Familie ein weiteres „krankes“ Kind in der Familie. Hiernach liegt sie vor der schwierigen Entscheidung ihre Schwangerschaft weiterzuführen oder diese zu beenden. Genau hier scheint die entscheidende Herausforderung darin zu liegen, in wieweit sich eine autonome zugleich aber auch verantwortungsbewusste reflektierte Entscheidungsfindung sich gestalten lässt.
In diesem Sinne sollte die religiöse Jurisprudenz als Kompass dienen, jedoch nicht die Entscheidungen der Menschen abnehmen. Denn eine unreflektierte Übernahme einer Urteilsbildung kann nur zum absurdum führen, falls sie blind übernommen wird.
IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?
Aydınlı: Die Interreligiosität und Interdisziplinarität, das Lernen miteinander und voneinander im Graduiertenkolleg war für mich eine sehr große Bereicherung für meine Dissertation gewesen. Mittlerweile ist gerade diese Begegnung zu einer Kultur an der Universität Frankfurt geworden, die unbedingt, wir Theologen für die Zukunft im universitären Rahmen als Tradition weiterführen möchten.
IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimische Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?
Aydınlı: In modernen Gesellschaften sind Religionen herausgefordert sich mit Multikulturalität und Multireligiosität zu beschäftigen und Möglichkeiten für das Zusammenleben der unterschiedlichen Menschen zu entwickeln. Dies gilt auch für das Tätigkeitsfeld Medizinethik in der Klinikseelsorge. Meine Dissertation ist der muslimischen Gemeinschaft dahingehend nützlich, in dem sie den Blick für die Entwicklung einer systematischen islamischen Ethik bezüglich der bioethischen Themen, sowohl für die Wissenschaft fruchtbar macht als auch im Sinne eines Angebots an religiöser Handlungsorientierung weiterentwickelt. Ich hoffe für die Zukunft, dass sich die Arbeit im Bereich der Medizinethik in der Klinikseelsorge bewähren wird.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.