Viele deutsche Dichter und Philosophen haben sich mit dem Islam und dem Koran beschäftigt. So auch Johann Wolfgang v. Goethe. In seinem West-östlichen Diwan möchte er die deutsche Leserschaft mit Ereignissen und Gedanken des Islams bekannt machen. Ein Beitrag von Ahmet Aydın.
Der Islam gehört zu Deutschland. Diese Behauptung, der viele Muslime zustimmen würden, löst in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung Empörung aus. Warum?
Was wir als schön, außergewöhnlich und gut empfinden, erkennen wir gern als Teil unserer Identität und Kultur an. Dinge, die negative Assoziationen hervorrufen, lehnen wir jedoch ab. Das ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Wer also mit der islamischen Lehre ausschließlich Negatives verbindet, gar meint, das Abendland gegen sie verteidigen zu müssen, den muss die Behauptung, sie gehöre dazu, natürlich empören.
Eine geduldige, auf wirkliches Verständnis ausgerichtete Auseinandersetzung mit den Inhalten der islamischen Lehre ist bisher leider ausgeblieben. Johann Wolfgang von Goethe, der deutsche Dichterfürst, stellte einst fest, dass der Koran zu Anfang zwar „immer von neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt“. Sicher wäre er nicht zu dieser Erkenntnis gelangt, wenn er sich hätte abschrecken lassen von den Urteilen seiner Vorgänger und Zeitgenossen.
Deutlich wird das etwa in der Auseinandersetzung um Voltaires Stück „Mahomet“, das den Propheten Muhammad (s) in einem sehr schlechten Licht darstellt. Goethe hatte es nur widerwillig übersetzt und sich dabei um eine weniger verzerrende Darstellung der Person des Propheten bemüht. Zugleich durfte er jedoch nicht so stark in den Inhalt eingreifen, dass die Übersetzung zu seinem eigenen Werk geworden wäre.
Gottfried Herder, ein Freund Goethes, der seine Bewunderung für Muhammad (s) teilte, bezeichnete das Stück als „Versündigung gegen die Menschheit und gegen Alles“. Auch Herders Ehefrau resümierte nach der Aufführung: „Eine solche Versündigung gegen die Historie (er macht den Mahomet zum groben platten Betrüger, Mörder und Wollüstling) und gegen die Menschheit, habe ich Goethe nie zugetraut.“[1] Goethe fühlte sich ungerecht behandelt. In seiner Autobiographie wird Goethe Jahre später schreiben, dass er den Propheten „nie als einen Betrüger hatte ansehn können.“[2]
Noch während er an der Übersetzung arbeitete, schrieb Goethe am 10. Januar 1800 an seinen Freund Karl Ludwig von Knebel: „Die Gelegenheit zur Vergleichung mit dem Original sollte den denkenden Deutschen auffordern über das Verhältniß der Kunst beyder Nationen nachzudenken.“ Der Begriff der künstlerischen Freiheit wurde in der damaligen deutschen Kunst noch nicht dazu missbraucht, Beleidigungen und Entwürdigungen salonfähig zu machen.
In seinem „West-östlichen Diwan“ wählte Goethe einen anderen Weg. Er wollte sich bewusst von einer Tendenz absetzen, die der Orientalist von Diez in einem Brief an Goethe so beschrieb:
„Es scheint aber leider! den Europäern eigen zu seyn, sich nicht leicht in Dinge finden zu können, die nicht nach ihrer gewohnten Weise oder nach dem Zuschnitt von Griechenland und Rom, welche sie zu Mustern genommen, gemacht sind.“
Goethe eignete sich umfassendes Wissen über die islamische Lehre an, um sich in die Perspektive eines Muslims hinein versetzen, seine Denkungsart nachempfinden und korrekt wiedergeben zu können. Von dieser Einstellung zeugt auch seine Aussage, die er in einem Brief an Diez äußert: „Wollen wir an diesen Productionen der herrlichsten Geister Theil nehmen, so müssen wir uns orientalisiren“. Tiefes Verständnis ist eben nur dann möglich, wenn derjenige, der verstehen möchte, bereit ist, die Perspektive zu wechseln. Goethe tut dies schon im ersten Gedicht seines Divan, das den Titel „Hegire“ (seine Schreibweise des Wortes „Hidschra“) trägt. Er „wandert aus“ in den Orient und möchte von seinen Erfahrungen dort berichten:
„Will mich unter Hirten mischen, / An Oasen mich erfrischen, / Wenn mit Karawanen wandle, / Shawl, Kaffee und Moschus handle; / Jeden Pfad will ich betreten / Von der Wüste zu den Städten. // Bösen Felsweg auf und nieder / Trösten, Hafis, deine Lieder […]“
Goethe möchte in seinem Werk die deutsche Leserschaft mit Ereignissen und Begebenheiten, Dichtern und Denkern und mit Gedanken und Ideen des Orients bekannt machen. Im Cotta‘schen Morgenblatt vom 24. Februar 1816 schreibt er:
„Der Dichter betrachtet sich als einen Reisenden. Schon ist er im Orient angelangt. Er freut sich an Sitten, Gebräuchen, an Gegenständen, religiösen Gesinnungen und Meinungen, ja er lehnt den Verdacht nicht ab, daß er selbst ein Muselmann sey.“
Um zu einem besseren Verständnis seiner Gedichte beizutragen, hat Goethe die „Noten und Abhandlungen“ hinzugefügt. Der Leser soll erkennen, dass auch im Orient die Meinungen zu bestimmten Themen auseinander gehen. Schillers Witwe Charlotte schreibt in einem Brief: „Goethes Umgang mit dem Orient ist uns recht erfreulich; denn er lehrt uns diese wunderliche Welt kennen.“
Goethe tut etwas, was heute notwendiger ist denn je: Er befasst sich ohne Wertung mit dem Orient und auch mit der islamischen Lehre. Dass diese nicht synonym verwendet werden können, weiß Goethe, denn er lässt auch orientalische Dichter zu Wort kommen, die behaupteten, Propheten zu sein. Goethe reduziert die islamische Lehre nicht auf Kleidung, Alkoholverbot oder andere Sitten, sondern schöpft aus ihrem geistigen Reichtum. An Carl Friedrich Zelter schreibt er am 11. Mai 1827:
„Indessen sammeln sich wieder neue Gedichte zum Divan. Diese Mohammedanische Religion, Mythologie, Sitte geben Raum einer Poesie wie sie meinen Jahren ziemt. Unbedingtes Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes, heiterer Überblick des beweglichen immer kreis- und spiralartig wiederkehrenden Erde-Treibens, Liebe, Neigung zwischen zwei Welten schwebend, alles Reale geläutert, sich symbolisch auflösend.“
Goethe nahm sein Wissen aus der Lektüre des Korans, der Aussprüche des Propheten Muhammad (s) und anderer orientalischer Werke, und lässt sich von ihnen inspirieren. Er las u. a. in den „Fundgruben des Orients“, in der „Geschichte der schönen Redekünste Persiens“, im „Buch des Cabus“. All diese Werke machten Goethe mit den Gedanken muslimisch geprägter Autoren vertraut. Einem Muslim, der Goethes Werk liest, wird vieles deshalb immer wieder bekannt vorkommen.
Seine Affinität zur islamischen Lehre und ihren Inhalten beschränkte sich nicht bloß auf die Gedichte. Er würdigte auch die philosophischen Themengebiete, die in ihr behandelt werden und die Liebe, von der sie spricht. In seinen Briefen wird er nicht müde zu betonen, dass die islamische Lehre und muslimisch geprägte Dichter und Denker das Reflexionsvermögen fördert. Diese Fähigkeit zur Reflexion des Eigenen im Spiegel des Fremden scheint heute immer mehr abhanden zu kommen.
Was jedoch bedeutet „Islam“ für Goethe? Zunächst einmal eine persönliche Kraftquelle, wie er in einem Brief schreibt: „Weiter kann ich nichts sagen, als daß ich auch hier mich im Islam zu halten suche.“ Aus seiner intensiven Beschäftigung mit muslimischen Dichtern, Denkern und Inhalten destilliert er eine weitere Bedeutungsdimension, die er in einem Brief an seinen Freund Heinrich Meyer am 29.07.1816 formuliert:
„Und so müssen wir denn wieder im Islam, (das heißt: in unbedingter Hingebung in den Willen Gottes) verharren, welches uns dann fernerhin nicht schwer sein wird, wenn es uns ein wenig glimpflicher geht als bisher.“
Der Islam ist für Goethe ein ethischer Kompass, der dem Menschen von der eigenen geistigen und spirituellen Stufe kündet:
„[…] Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Maßstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren auf welcher Stufe geistiger Tugend man denn eigentlich stehe.“[3]
Goethes Bestreben war es, sich der islamischen Lehre aus der Perspektive eines Muslims zu nähern. Doch seine Werke zeigen, dass es ihm nicht allein darum ging, selbst zu verstehen. Er wollte auch seine Mitmenschen einladen, ebenso vorzugehen. Damit hat uns der deutsche Dichterfürst eine Methode gezeigt, die auch heutige Islamdebatten leiten können.
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[1] Zitiert nach: Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam, hg. und mit e. Nachw. von Peter Anton von Arnim. 4. Aufl. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel Verlag 2015, S. 91f.
[2] Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben Dichtung und Wahrheit. In: Ders.: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hg. von Dieter Borchmeyer et al. Abt. I, Bd. 10: Aus meinem Leben Dichtung und Wahrheit, hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1986, S. 685.
[3] Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Nach dem ersten Druck, dem Originalmanuskript des dritten Teils und Eckermanns handschriftlichem Nachlaß, mit 158 Abb. neu hg. von Professor Dr. H. H. Houben. Leipzig: F. U. Brockhaus 1925, S. 196.