Bundespräsident Joachim Gauck besucht heute Münster und hielt vor Studenten des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster eine Rede zur Islamischen Theologie in Deutschland. IslamiQ dokumentiert die gesamte Rede des Bundespräsidenten.
Als erstes beglückwünsche ich Sie: Sie erleben ein wichtiges Kapitel deutscher Gegenwartsgeschichte. Denn was hier geschieht – in Münster und an einigen weiteren Orten in Deutschland –, das ist aufregend in vielfacher Hinsicht. Es bedeutet Ankunft und Anerkennung, Zumutung und Zukunftsgestaltung.
Aber der Reihe nach: warum Ankunft? In unserem Land leben vier Millionen Muslime, knapp die Hälfte davon sind deutsche Staatsbürger. Unsere gemeinsame Heimat ist Deutschland. In unseren Städten existieren mehr als 2.000 Gebetshäuser und Moscheen, die zum überwiegenden Teil erst in den vergangenen fünf Jahrzehnten entstanden sind. Und nun wird der Islam auch an unseren Universitäten eine akademische Disziplin unter anderen.
Dahinter steckt ein wechselseitiger Akt der Anerkennung: Unsere Gesellschaft wandelt sich, weil ihr immer mehr Muslime angehören – so wie sich der Islam seinerseits im Kontakt mit unserer Gesellschaft entwickelt. Das birgt Zumutungen für beide Seiten – das gehört dazu. Zwar versuchen einige Veränderungsunwillige, daraus Kapital zu schlagen. Aber die Mehrheit weiß: Gedeihlich zusammenleben können wir nur, wenn wir uns gegenseitig offen und respektvoll begegnen. Das Fundament dafür bilden unsere Grundrechte und Freiheiten, unsere Geschichte und Sprache.
Die Verankerung der islamischen Theologie an deutschen Universitäten ist auch ein Akt der Selbstverständigung, ohne die kein Verständnis wachsen kann. Wer weiß, was er ist und was er weiß, der lässt auch leichter Fragen zu. Der Islam entfaltet sich in Deutschland längst nicht mehr allein in der sprichwörtlichen Moschee im Hinterhof, sondern auch in immer mehr schönen innerstädtischen Moscheen. Er begibt sich hier in Münster und an anderen Orten auch in die Welt der akademischen Ausbildung und begegnet so den Regeln wissenschaftlicher Forschung. Wer diesen Weg geht, stellt sich der Gegenwart und lässt sich kritisch befragen. Der Islam kennt nicht die eine religiöse Autorität. Er hat vielmehr eine Religionskultur entwickelt, in der immer verschiedene Sichtweisen nebeneinander existieren, in der Auslegung ebenso wie in der Glaubenspraxis. Ich freue mich, dass nun auch in Deutschland Ausbildungszentren entstanden sind, in denen diese pluralistische Tradition in wissenschaftlicher Freiheit ohne politischen oder fundamentalistischen Druck weiter entwickelt werden kann. Und ich freue mich, dass dieser Ansatz auf so viel Interesse stößt. Den hohen Anmeldungszahlen nach zu schließen, sind viele Studenten offenkundig auf der Suche nach einem Islam, der – wie Mohammad Khorchide es einmal formulierte – nicht im Widerspruch zu den deutschen Anteilen ihrer Identität steht.
Nicht zuletzt ist es aber auch ein ganz pragmatischer Akt von Zukunftsgestaltung, den wir in Münster und in Osnabrück, in Erlangen, Tübingen und in Frankfurt am Main erleben. Ja, wir wollen hier, in unserem Land, diejenigen ausbilden, die später an Schulen, Universitäten und in Moscheen den Islam lehren sollen. Wir wollen Musliminnen und Muslimen in unserem Land Orientierung geben für Glaubensfragen im Alltag. Und wir wollen zugleich Impulse in die islamische Welt aussenden, die durchaus gespannt zusieht, was hier in Deutschland entsteht. Ich freue mich über die Kontakte, die Sie bereits geknüpft haben.
Wir geben der Religion Raum, so wie es echte Religionsfreiheit erfordert. Unsere Gesellschaft gewinnt dadurch mehr Selbstverständlichkeit im Umgang mit muslimischer Glaubenspraxis. Und ich bin überzeugt: Diese größere Selbstverständlichkeit wirkt sich auf das Miteinander in unserem Land positiv aus.
Wir brauchen Menschen, die das Vielschichtige und die – im positiven Sinn verstandene – Ambiguität im Islam zeigen. Menschen, die Lust machen auf Begegnungen mit dem kulturellen und spirituellen Reichtum dieser Religion, die auch manch verschüttete Spur der europäischen Geistesgeschichte wieder freilegen. Ich hoffe und bin zuversichtlich, dass solche Menschen auch hier aus Ihren Reihen kommen werden.
Wer die Arbeit des Zentrums für islamische Theologie seit seiner Gründung vor zwei Jahren verfolgt hat, der weiß: Es gab und es gibt Konflikte und viele offene Fragen – theologische und gesellschaftliche, rechtliche und politische. Islamische Theologie ist ein noch junges Fach an deutschen Universitäten. Wir alle befinden uns in einer Experimentierphase. Und bei Experimenten – jeder weiß es – ist nicht alles gleich gelungen. Es gibt noch zu wenig Lehrmaterial, es gibt noch zu wenig ausgebildete Fachkräfte, es gibt nicht zuletzt organisationsrechtliche Probleme in der Zusammenarbeit mit den islamischen Organisationen. ((In einer ersten Fassung der Rede, die IslamiQ vorliegt, wurde hier noch von Religionsgemeinschaften gesprochen)) Bei aller erfreulichen Bewegung werden Sie solche Fragen nicht allein hier am Zentrum für islamische Theologie beantworten können. Aber Sie werden dazu beitragen, dass wir als Gesellschaft Antworten finden.
Auseinandersetzungen sind dabei in einer freiheitlichen und pluralen Gesellschaft nicht nur erlaubt, sie sind geradezu erwünscht –denn ohne Auseinandersetzung, keine Entwicklung. Schauen Sie in die Geschichte Münsters: Wie ist hier einst gerungen worden, auch um Religionsfragen! Ich freue mich, nachher im historischen Friedenssaal Ihres Rathauses an den Meilenstein zu erinnern, den der Westfälische Frieden vor 365 Jahren für unser Land und für Europa bedeutete. Dann ist es wohl kein Zufall, dass ausgerechnet hier in Münster ein Zentrum für islamische Theologie entstehen konnte, in enger Zusammenarbeit mit Osnabrück! Und es ist wohl auch kein Zufall, dass Sie sich gerade hier – in deutschlandweit einzigartiger Weise! – interdisziplinär mit dem Verhältnis von Religion und Politik befassen. Wenn wir uns klar machen, wie mühsam errungen wurde, was uns so selbstverständlich erscheint, sind wir vielleicht bei den gegenwärtigen Problemen etwas weniger hochmütig oder ungeduldig.
Manchmal frage ich mich: Was wird meinen Enkelkindern später einmal ganz selbstverständlich erscheinen? Worüber werden sie sich im Rückblick auf die heutige Zeit wundern? Was ist für sie, die junge Generation, heute schon normal, was uns Älteren noch nicht recht in den Kopf will? Darum freue ich mich auch sehr auf die Begegnungen mit Schülerinnen und Schülern hier in einer Münsteraner Schule, die ich nachher besuchen werde. Es gibt dort eine Ausstellung, die sich um Muslime in Deutschland dreht und schön vieldeutig heißt: „Was glaubst du denn!?“
Eines glaube ich jedenfalls nicht – dass man Menschen allein nach einer Religion beurteilen darf. Identitäten sind vielschichtig. Ich bin – wie jeder von Ihnen – auch der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, das, was ich erlebt, geglaubt und verinnerlicht habe und was ich aus meinem Leben machen konnte und wollte. Ich glaube, dass wir als Unterschiedliche gut zusammenleben können, wenn wir uns nicht von Ängsten oder von Ressentiments leiten lassen, sondern von Respekt, Toleranz und Neugier. Und neugierig – das bin ich jetzt!