Gewalt gegen Frauen

Der notwendige Bewusstseinswandel

Wieso werden Themen wie Gewalt gegen Frauen mit Einwanderern und Muslimen assoziiert? Warum beteiligen sich Muslime nicht an Debatten zu diesen Themen? Elif Zehra Kandemir geht den Gründen dafür nach und fordert einen Bewusstseinswandel.

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2013
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Um mit Birgit Rommelspacher zu sprechen: Wer die aktuellen Diskussionen in Deutschland verfolgt, könnte meinen, dass der Islam eine „Kultur“ sei, die auf den Grundlagen  “Rückständigkeit, Gewalt und der Frauenunterdrückung” basiere. ((Birgit Rommespacher: Dominante Diskurse. Zur Popularität von >Kultur< in der aktuellen Islam-Debatte. In: Iman Attia: Orient- und Islambilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischen Rassismus. S. 245)) Fakt ist, dass die „Frau“ und „Gewalt gegen Frauen“ zu den Themen gehören, mit denen europäische Muslime am häufigsten konfrontiert werden. Vor allem weil die Medien Muslime in Zusammenhang mit „Ehrenmord“, „Unterdrückung von Frauen“ und „Zwangsheirat“ thematisieren, zählt das weite Themenfeld „Islam und Frau“ zu den beliebtesten Punkten der europäischen Tagesordnung. Auch wenn die von Islamkritikern mit immer denselben Argumenten diskutierte Gewalt gegen Frauen sich nicht mit der sozialen Realität der Muslime und den empirischen Befunden deckt, wird jeder Muslim mindestens einmal in seinem Leben mit Fragen nach der Frau bzw. Gewalt gegen die Frau konfrontiert. Deshalb ist es notwendig, sich das mal näher anzusehen.

Obwohl Gewalt gegen Frauen oft mit Muslimen in Verbindung gebracht wird, beteiligen sich Muslime kaum an der Diskussion. Es gibt keinen ernsthaften Konsens und keine breit vertretene und geäußerte Meinung diesbezüglich. Ein Grund dafür könnte die in den aktuellen Debatten verwendete und von Rommelspacher aufgezeigte Sprache sein. Dass sich Muslime nicht mit Nachdruck gegen Gewalt an Frauen äußern, mag auch daran liegen, dass das Thema aus Sicht der Muslime mit zwielichtigen Argumenten geführt wird und Gewalt gegen Frauen in Europa nicht als Gewaltproblem, sondern als Teil der Integrationspolitik oder als Problem der Migranten gilt. Das offensichtlichste Beispiel hierfür ist die Diskriminierung von kopftuchtragenden Frauen im Berufsleben. Finanziell von ihren Ehepartnern abhängige und deshalb nicht eigenständige Frauen stelle die größte Gruppe derjenigen dar, die sich nicht scheiden lassen und so am längsten unter Gewalt leiden. Jedoch werden die Maßnahmen zur Aufhebung der Hindernisse, um etwa kopftuchtragenden Frauen zur finanziellen Unabhängigkeit zu verhelfen, nicht im Kontext der Maßnahmen zur Förderung der Frau als unabhängiges Individuum diskutiert. Bevor die Rolle der Muslime, die von solchen Problemen unmittelbar betroffen sind, bei der Lösungsfindung näher betrachtet wird, ist es angebracht, auf den notwendigen Bewusstseinswandel hinzuweisen.

Hindernisse des Bewusstseinswandels

Oberwittler und Kasselt schreiben in ihrer Untersuchung „Ehrenmorde in Deutschland“: „In der deutschen Öffentlichkeit werden Ehrenmorde als Beleg für die Modernisierungs- und Integrationsdefizite der Einwanderer wahrgenommen. Hierbei kommt ein uralter sozialpsychologischer Mechanismus zum Tragen, der unsere Kriminalitätswahrnehmungen beeinflusst: Die Kriminalität der ‚Anderen‘ wird stets als bemerkenswerter und bedrohlicher wahrgenommen als die Kriminalität der eigenen Gruppe, und er wird kausal mit der kulturellen Andersartigkeit der Fremdgruppe erklärt. So wird beispielsweise die Partnertötung in der türkischen Familie als Resultat der kulturellen Rückständigkeit und Gewaltaffinität ihres kulturellen und religiösen Hintergrundes interpretiert, während für die Partnertötung in der deutschen Familie nicht gleichermaßen der kulturelle und religiöse Hintergrund der deutschen Mehrheitsgesellschaft verantwortlich gemacht wird.“ ((Oberwittler, Kasselt: Ehrenmorde in Deutschland. S. 2))

Damit legen Oberwitter und Kasselt dar, dass Gewalt gegen Frauen – Ehrenmorde im Besonderen – ein Thema ist, um in den Medien auf die kulturell-religiösen Unterschiede der „Fremden“ aufmerksam zu machen.

Dieser von der Mehrheitsgesellschaft in Europa verinnerlichte Blickwinkel dürfte wohl dazu beigetragen haben, dass Muslime diesem Thema mit Skepsis begegnen und sich eher unwillig an der Organisation entsprechender Aktionen beteiligen. Denn es herrscht eine allgemein düstere Atmosphäre, die auch von den Medien beeinflusst wird. In Europa wird die Position der Frau im Islam anhand sogenannter Ehrenmorde diskutiert, wodurch zugleich die Unverträglichkeit des Islams mit Europa bewiesen werden soll. ((Oberwittler, Kasselt: Ehrenmorde in Deutschland. S. 4)) Die Gewalt gegen Frauen bei Migranten wird als Legitimation für die Angst vor dem Islam angesehen, nach dem Motto: „Schaut her, unsere Angst vor dem Islam hat seine ‚berechtigten Gründe ‘“. ((Iman Attia: Die “westliche Kultur” und ihr Anderes. S. 1)) Doch all diese Diskussionen nützen am wenigsten der unter Gewalt leidenden Frau, die weiterhin mit ihren Problemen im Stich gelassen wird. Es kann festgehalten werden, dass dieses Thema besonders leidenschaftlich diskutiert wird, wenn die Gewalt von Menschen mit einem bestimmten kulturellen oder religiösen Hintergrund ausgeht. Herrschende Praxis ist es, gleich einer Kultur oder Religion die genuine Gewaltanwendung zu unterstellen, statt das Problem der Gewalt in Migrantenfamilien zu lösen. Hier ist ein Bewusstseinswandel notwendig.

Was für ein Bewusstseinswandel? 

Für einen Bewusstseinswandel ist es bei den Muslimen zuerst notwendig, die populären Diskussionen über Gewalt gegen Frauen nicht mit Desinteresse zu verfolgen. Eine solche Distanz kann nicht bedeuten, dass Muslime nicht bereit sind, Tabus zu überwinden. Das Desinteresse liegt vielmehr in der Komplexität des Themas und dem Fakt, dass es als Angriff auf den Islam und den Glauben thematisiert wird. Muslime müssen sich von dieser Distanziertheit befreien und sich aktiv beteiligen.

Es ist offensichtlich, dass Gewalt gegen Frauen umfangreich bekämpft werden muss. Die Maßnahmen können aber nicht auf ethnische oder kulturelle Aspekte begrenzt werden. Es ist sicherlich von Vorteil, wenn Medien, politische Akteure und gesellschaftliche Gruppen, von denen angenommen wird, dass dort Gewalt besonders verbreitet ist, sich dem Thema mit einer gewissen Sensibilität nähern. Trotz der methodischen Fehler in den durchgeführten Studien und entgegen den mit Vorurteilen gespickten Medienberichten ist es nicht richtig, zu behaupten, in muslimischen Migrantenfamilien gebe es keine Gewalt und alle Behauptungen seien erfunden. In eine solche Verteidigungsposition zu verfallen würde bedeuten, denselben Fehler zu machen, wie diejenigen, die man kritisiert. Das eigentliche Problem würde übersehen werden. Die an einer Lösung Interessierten sollten sich eher vor Augen halten, dass die Gewalt, von der Frauen in verschiedenen Regionen der Welt seit jeher betroffen sind, auch in muslimischen Familien in Europa vorhanden ist. Deshalb müssen Muslime Vorreiter sein, wenn es um Lösungsansätze geht. Das bedeutet auch, dass Muslime, aber auch jene, die sich mit einer besonderen Inbrunst mit dem Thema „Islam und Frau“ beschäftigen, einige Tabus überwinden müssen.

Der erste Schritt hierfür ist, dass Muslime, egal ob Mann oder Frau, nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung sind. Die nächsten Schritte müssen sowohl zu einem Konsens darüber führen, dass Gewalt nicht kulturell bedingt ist als auch zu einer breiten Diskussion über die muslimische Familie in wandelnden sozialen Verhältnissen.

Wenn man den Einfluss muslimischer Gemeinschaften auf das Individuum kennt, dürfte deutlich werden, dass diese eine einflussreiche Rolle hinsichtlich des Bewusstseinswandels in puncto Gewalt gegen Frauen spielen werden. Religionsgemeinschaften verhindern nicht nur, dass unter Gewalt leidende Frauen verurteilt, verdächtigt oder ausgeschlossen werden, die Verurteilung der Anwendung von Gewalt aus dem Munde einer religiösen Gemeinschaft ist eine Maßnahme, die kaum mit staatlichen oder zivilen Maßnahmen verglichen werden kann. Religionsgemeinschaften spielen eine große Rolle, wenn es um die Verhinderung von Gewalt gegen Frauen geht.

Während das gesellschaftliche Problem der Gewalt gegen Frauen als statistisch belegtes Problem einer Lösung zugeführt werden muss, wird es zu einer ideologisierten komplexen Angelegenheit erhoben, in der sich ändernden Rollenbilder von Mann und Frau, der Wandel der Familie, feministische Perspektiven, von Orientalisten gefütterte Vorurteile über „die Frau im Islam“ und einige Tabus vermischen. Eigentlich liegen die Lösungen im Kampf gegen Gewalt auf der Hand. Doch die These, Gewalt werde in einigen Religionen legitimiert, und die Annahme, die Frau werde unterdrückt und müsse vom Westen aus ihrer „Gefangenschaft befreit“ werden, führt dazu, dass Muslime sich instrumentalisiert fühlen und sich kaum engagieren. Gerade deshalb sollten wir Muslime, die wir uns ja allgemein gegen Gewalt aussprechen, uns mit diesem Problem befassen und Lösungsvorschläge unterbreiten, die sowohl der Lebensrealität der Muslime als auch des europäischen Kontextes gerecht werden.

Übersetzung: Ali Mete
Erstveröffentlichung: November-Ausgabe der Zeitschrift „Perspektif“