Die Idee war visionär. Aber die Zeit schien an jenem 11. September noch nicht gekommen, als sich vor 125 Jahren erstmals 4.000 Vertreter unterschiedlichster Religionen zum Gedankenaustausch trafen.
Die Welt blickte nach Chicago. Im Herbst 1893 fand in der Metropole des Mittelwestens der USA eine Weltausstellung statt. Sie brach alle Rekorde an Besucherzahlen. Im Vorfeld fand noch ein anderes Großereignis statt: Vor 125 Jahren, vom 11. bis 27. September 1893, tagte in Chicago das erste Weltparlament der Religionen.
Die Weltausstellung war der unmittelbare Anlass zu dieser neuartigen Institution. In ihr sollten Angehörige der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen so friedlich miteinander diskutieren wie die Kongressangehörigen in Washington oder die Mitglieder des britischen Parlaments in Westminster – oder möglicherweise noch friedlicher; jedenfalls ohne ideologische Scheuklappen und Animositäten. Zu dem Großereignis wurden Hunderttausende Besucher aus fünf Kontinenten und damit Anhänger aller großen und kleinen Religionsgemeinschaften erwartet.
Die Weltausstellung war begleitet von Kongressen in Medizin, Literatur, Naturwissenschaften und anderen Disziplinen. So lag es nahe, auch ein Meeting hinzuzufügen, das der Religion gewidmet sein sollte. Leiter des Planungskomitees wurde der College-Professor und Kirchenführer Reverend John Henry Barrows (1847-1902). Die Konferenz sollte helfen, Missverständnisse über andere Religionen abzubauen und keiner Religion einen Alleinvertretungsanspruch oder eine herausragende Stellung einzuräumen.
Genau dieser Aspekt führte bei vielen Würdenträgern zu Kritik. So betonte der anglikanische Erzbischof von Canterbury Edward White Benson, dass das Christentum die eine wahre Religion sei. Und damit stand er nicht allein. Der Parlamentsgedanke mit seiner impliziten Gleichheit der Anwesenden war vielen orthodox Gläubigen, in den USA vor allem den Evangelikalen, nur schwer erträglich.
Das Weltparlament der Religionen nahm dennoch schließlich eine Größenordnung an, wie sie für die massiv expandierenden USA geradezu symbolisch war. Am Eröffnungstag drängten sich mehr als 4.000 Parlamentarier in der „Kolumbushalle“.
Zu den in Chicago vertretenen Religionen gehörten neben liberalen Vertretern der katholischen Kirche mehrere protestantische Organisationen, Repräsentanten des Zen, des Islam (allerdings nur in Person eines konvertierten früheren US-Diplomaten), des Buddhismus, Hinduismus und einiger neu entstehenden Glaubensgemeinschaften wie die von Mary Baker Eddy gegründete Gemeinschaft der Christian Science.
Die Debatten waren von gegenseitigem Respekt geprägt. Wenn es so etwas wie einen Medienstar der Veranstaltung gab, dann war es der Hindu-Mönch Swami Vivekananda. Er sprach nicht weniger als 13 Mal beim Kongress, warb für den Gedanken der Brüderlichkeit und geißelte den Materialismus.
Ein bahnbrechendes Manifest oder richtungsweisendes Ergebnis gab es allerdings nicht. Die katholische Kirche tat sich mit dem Weltparlament ohnehin schwer. 1895 revidierte Papst Leo XIII. (1878-1903) die vorherige schweigende Zustimmung zu der Versammlung und richtete seinem Vertreter in den USA aus, dass er weitere Kongresse dieser Art nicht gutheiße.
War das erste Weltparlament der Religionen ein Erfolg? Die Teilnehmer dürften es mehrheitlich so bewertet haben. Doch an der Tatsache, dass bis zum nächsten Zusammentreten des Weltparlaments exakt 100 Jahre vergehen sollten – 1993 traf sich das zweite Parlament in einem Hotel in Chicago, erkennbar eine Nummer kleiner – mag man seine begrenzte Wirkung auf Bewusstsein und Handeln der Zeitgenossen erkennen.
Im Chicago des Jahres 2018 kann man dennoch durchaus Spuren des ersten Weltparlaments der Religionen finden. Um seinen dem Zeitgeist weit vorauseilenden Sinn für Toleranz zu würdigen, trägt die Abteilung für Islamforschung an der University of Chicago Divinity School den Namen von John Barrow. Das einstige Parlamentsgebäude ist heute eine der wichtigsten Besucherattraktionen der Stadt: Das Art Institute of Chicago, Heimstatt solch ikonographischer Kunstwerke wie Edward Hoppers „Nachtschwärmer“, wird jährlich von fast 1,8 Millionen Menschen besucht. Nur die wenigsten freilich dürften die Vorgeschichte des Kunsttempels kennen. (KNA-Ronald Gerste, iQ)