Auf dem rechten Auge blind? Verfassungsschutz-Chef Maaßen relativiert die rassistischen Vorfälle in Chemnitz. Es hätte keine „Hetzjagd“ gegeben, meint er. Nun fordert man seinen Rücktritt.
Mit kritischen Äußerungen zu Video-Aufnahmen aus Chemnitz hat Verfassungsschutz-Präsident Hans-Georg Maaßen eine heftige Debatte über die rassistischen Übergriffe dort losgetreten. Maaßen hält die Berichte für übertrieben, wie er der „Bild“-Zeitung sagte. Aus Sicht der meisten Bundestagsparteien hat er sich mit dieser Einschätzung, für die er bislang keine Belege geliefert hat, zu weit aus dem Fenster gelehnt. Der Generalstaatsanwaltschaft Dresden zufolge sind auf Videoaufnahmen „eine Vielzahl von Straftaten“ festgehalten, darunter Körperverletzung, Beleidigung und Landfriedensbruch.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat von Maaßen zuvor keine Informationen über mögliche Falschinformationen zu ausländerfeindlichen Übergriffen in Chemnitz erhalten. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte: „Es hat dazu kein Gespräch der Bundeskanzlerin mit Herrn Maaßen in den letzten Tagen gegeben.“ Linke und Grüne legten Maaßen am Freitag den Rücktritt nahe. CDU-Politiker forderten vom Chef des Inlandsgeheimdienstes eine Offenlegung seiner Quellen.
Grüne und SPD forderten eine Sondersitzung des Innenausschusses mit Maaßen und seinem Vorgesetzten, Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Der Grünen-Innenexperte Konstantin von Notz sagte, er gehe davon aus, dass Seehofer auch selbst daran interessiert sei, zu erklären, ob es „nicht dringend angeraten erscheint, Vertrauen in die Arbeit des Verfassungsschutzes durch einen personellen Neuanfang wieder herzustellen“. Für Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt steht fest, „dass Herr Maaßen seiner Aufgabe nicht mehr gerecht wird“.
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) hatte der „Bild“-Zeitung gesagt, dem Verfassungsschutz lägen keine belastbaren Informationen darüber vor, dass bei den Demonstrationen in Chemnitz „Hetzjagden“ stattgefunden hätten. „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Nach seiner vorsichtigen Bewertung „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“.
Auslöser der Proteste in Chemnitz war eine tödliche Messerattacke auf einen 35-jährigen Deutschen mit kubanischen Wurzeln. Zwei Tatverdächtige, die als Asylbewerber nach Sachsen gekommen waren, sitzen wegen Verdachts des gemeinschaftlichen Totschlags in Untersuchungshaft. An einigen Protestveranstaltungen waren auch Rechtsextremisten beteiligt. Es kam zu Übergriffen auf Polizisten, Journalisten und Ausländer. Merkel und ihr Regierungssprecher Seibert sprachen später von „Hetzjagden“.
Laut Staatsanwaltschaft Dresden dauert die Auswertung der Videos an. „Derzeit haben wir 120 Ermittlungsverfahren bei der Polizei für den 26. und 27. August“, sagte ein Sprecher. „Bis jetzt haben wir nach wie vor keine Anhaltspunkte für sogenannte Hetzjagden gefunden.“ Der Sprecher und auch das Bundesjustizministerium in Berlin erklärten allerdings auch, dass „Hetzjagd“ kein juristische Begriff sei.
Im Zusammenhang mit dem Video, das die Diskussion mit ausgelöst hatte, liegt nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft eine Strafanzeige vor. Ein Mann habe Anzeige erstattet wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung. Die Ermittlungen liefen, weitere Angaben wollte der Sprecher aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht machen. Auf dem Video ist zu sehen, wie ein ausländisch aussehender Mann verfolgt und angegriffen wird.
CDU-Innenexperte Stephan Harbarth verlangte von Maaßen Aufklärung. Es müsse nun rasch geklärt werden, ob dieses Bildmaterial echt oder nicht echt sei. „Da muss Herr Maaßen jetzt mal sagen, woher seine Zweifel eigentlich kommen“, sagte der Unionsfraktionsvize der Deutschen Presse-Agentur.
Linken-Chefin Katja Kipping sagte, Maaßen sei „in diesem Amt nicht mehr haltbar“. Anstatt die Verfassung zu verteidigen, gebe er „den AfD-Versteher“ und missbrauche „die Autorität seines Amtes, um jenen eine Unbedenklichkeitsbescheinigung auszustellen, die in Chemnitz den Hitlergruß zeigten und zum Töten von Menschen aufriefen“.
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte der dpa: „Wenn der Chef des Inlandsgeheimdienstes der Bundeskanzlerin öffentlich widerspricht, muss er für seine Behauptungen jetzt umgehend Beweise vorlegen.“
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt betonte dagegen: „Man muss das durchaus ernst nehmen, wenn der Verfassungsschutzpräsident zu so einer Einschätzung kommt.“ Ihn störe, „dass die Empörung über die Empörten wohl im Vordergrund steht, und nicht mehr die Verurteilung der ursprünglichen Tat des Mordes“.
AfD-Fraktionschef Alexander Gauland forderte Regierungssprecher Seibert auf, seinen Posten zu räumen. Maaßen habe „klargestellt“, „dass es anders als von der Bundesregierung behauptet keine Beweise für Hetzjagden auf Ausländer in Chemnitz gibt“. Sollte Seibert weiter für die Regierung sprechen, müsse man davon ausgehen, „dass hier ganz bewusst und professionell Volksverdummung betrieben worden ist“. (dpa/iQ)