Die CDU bleibt trotz massiver Einbußen bei der Landtagswahl in Hessen stärkste Kraft, die SPD liegt nach herben Verlusten nur noch knapp vor den Grünen auf Platz zwei. Das schwarz-grüne Regierungsbündnis muss um eine Fortsetzung bangen.
Erst Bayern, jetzt Hessen – die Wähler haben die zerstrittenen Parteien der großen Koalition erneut abgestraft. Bei der Landtagswahl in Hessen erlitten CDU und SPD am Sonntag jeweils zweistellige Verluste. Ob es trotz massiver Zugewinne der Grünen für eine Fortsetzung des seit 2013 in Hessen regierenden schwarz-grünen Bündnisses reicht, war am Abend zunächst noch offen.
Die Parteichefinnen von CDU und SPD, Kanzlerin Angela Merkel und Andrea Nahles, geraten nach der zweiten herben Wahlschlappe binnen zwei Wochen intern noch stärker unter Druck. Kommendes Wochenende wollen die Spitzen beider Parteien über Konsequenzen aus den Wahlen in Bayern und Hessen diskutieren. Auf Vorschlag von Nahles wollen die Sozialdemokraten bereits am Montag in Präsidium und Vorstand über einen Kriterienkatalog beraten, wie die GroKo künftig besser arbeiten kann und wann für die SPD eine rote Linie erreicht ist.
Die CDU von Ministerpräsident Volker Bouffier blieb zwar stärkste Kraft, fuhr nach den Hochrechnungen von ARD und ZDF aber ihr schlechtestes Ergebnis in dem Bundesland seit mehr als 50 Jahren ein und rutschte unter die Marke von 30 Prozent. Die SPD von Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel erzielte mit um die 20 Prozent ihr schlechtestes Landesergebnis jemals. Große Wahlgewinner sind die Grünen mit ihrem besten Abschneiden bei einer Hessen-Wahl sowie die AfD. Die Rechtspopulisten zogen erstmals in den Landtag ein und sind nunmehr in allen 16 Landesparlamenten vertreten. Auch FDP und Linke bleiben im Landtag in Wiesbaden – damit bekommt Hessen erstmals ein Sechs-Parteien-Parlament.
Nach den Zahlen von ARD und ZDF (23.27 Uhr/23.37 Uhr) reichte es knapp nicht für eine Mehrheit von Schwarz-Grün. Laut ZDF hätte nur ein Jamaika-Bündnis aus CDU, Grünen und FDP eine Mehrheit, laut ARD wären daneben auch Bündnisse aus CDU und SPD sowie SPD, Grünen und FDP möglich.
Bouffier hatte sich zuletzt offen für Jamaika gezeigt, die Grünen waren zurückhaltender, die Liberalen warben offen dafür. Grüne und FDP in Hessen haben allerdings unter anderem in der Energiepolitik und beim Ökolandbau Differenzen. FDP-Chef Christian Lindner hatte mit Blick auf eine Ampel ein Bündnis seiner Partei mit Grünen und SPD als „inhaltlich vollkommen abwegig“ bezeichnet.
Nach den Zahlen von ARD und ZDF kommt die seit 1999 regierende CDU auf 26,9 bis 27,0 Prozent (2013: 38,3 Prozent) – schlechter abgeschnitten hatte die Partei in Hessen zuletzt 1966 mit 26,4 Prozent. Die SPD rutscht ab auf 19,8 bis 20,1 Prozent (2013: 30,7). Die Grünen von Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir machen einen Sprung auf 19,6 bis 19,7 Prozent (2013: 11,1). Die AfD klettert auf 13,2 Prozent (2013: 4,1). Die FDP erreicht 7,5 bis 7,7 Prozent (2013: 5,0), die Linke 6,2 bis 6,3 Prozent und erzielt ihr bestes Ergebnis in Hessen (2013: 5,2).
Den Hochrechnungen zufolge ergibt sich folgende Sitzverteilung: CDU 40, SPD 29 bis 30, Grüne 29, AfD 19 bis 20, FDP 11 und die Linke 9. In die Zahlen sind jeweils Überhangs- und Ausgleichsmandate eingerechnet. Die Wahlbeteiligung lag bei 67,6 bis 67,8 Prozent – 2013 waren es 73,2 Prozent gewesen, damals fielen Bundes- und Landtagswahl allerdings auf einen Tag. Wahlberechtigt waren 4,38 Millionen Männer und Frauen, darunter 62 000 Erstwähler.
Bouffier kündigte Gespräche mit allen Parteien außer Linken und AfD über eine Regierung an. „Wir werden erneut den Anspruch erheben, die Landesregierung in Hessen anzuführen. Wir sind klar stärkste Fraktion“, sagte er in Wiesbaden. Die Grünen zeigten sich offen für eine erneute schwarz-grüne Koalition. Natürlich werde man, wenn es rechnerisch möglich sei, miteinander sprechen, sagte Al-Wazir. Lindner sagte mit Blick auf eine mögliche Jamaika-Koalition, man sei grundsätzlich zu Koalitionsgesprächen bereit.
Schäfer-Gümbel, der zum dritten Mal Spitzenkandidat seiner SPD war, räumte eine bittere Niederlage an und ließ seine politische Zukunft zunächst offen. Das Ergebnis führte er stark auf den Bundestrend zurück. Man habe „nicht nur keinen Rückenwind aus Berlin erhalten, sondern wir hatten regelmäßig Sturmböen im Gesicht“. Der Wahlkampf in Hessen wurde belastet durch GroKo-Streitigkeiten etwa über die Migrationspolitik sowie die schwelende Diesel-Krise.
CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte, die Bundesregierung müsse rasch deutlich machen, „dass Schluss sein muss mit den Debatten, ob wir zusammen regieren oder nicht“. Die Verluste für die Union in Bayern und Hessen seien „ein klarer Befund von Unzufriedenheit“ mit der großen Koalition im Bund. Sie gehe nach aktuellem Stand davon aus, dass Merkel beim CDU-Parteitag Anfang Dezember in Hamburg erneut als Parteichefin kandidiere. Verteidigt Bouffier die Staatskanzlei in Wiesbaden, würde dies Merkel zumindest kurzfristig etwas Luft gegen parteiinterne Kritik verschaffen.
In der SPD könnten die Rufe nach einer Aufkündigung der GroKo nochmal lauter werden. Es gibt bereits Forderungen, ein Mitgliedervotum darüber abzuhalten. Nahles sagte, zu den Einbußen habe die Bundespolitik „erheblich beigetragen“. Der Zustand der Regierung sei „nicht akzeptabel“. CDU und CSU müssten ihre inhaltlichen und personellen Konflikte schnell lösen – sie wolle das Schicksal der SPD jedoch nicht in die Hände ihres Koalitionspartners legen. „Es muss sich in der SPD etwas ändern.“ Juso-Chef Kevin Kühnert forderte, die SPD müsse sich inhaltlich auf eine Neuwahl einstellen, „bei der man nicht mit dem Programm von 2017 antreten kann“.
Forscher machten für den Einbruch von CDU und SPD sowohl landes- als auch bundespolitische Gründe verantwortlich. Einer Analyse von Experten der Forschungsgruppe Wahlen zufolge konnten die Parteien vor Ort nur bedingt mit politischen Leistungen, Spitzenpersonal oder Sachkompetenzen überzeugen. Hinzu sei eine starke Konkurrenz durch die Grünen gekommen, für die sich zahlreiche Wähler kurzfristig entschieden hätten. Den Experten von Infratest dimap zufolge verlor die CDU besonders an den bisherigen Koalitionspartner viele Stimmen. Neben der Diesel-Krise und dem GroKo-Zwist spielten im Wahlkampf auch die Themen Wohnen, Bildung und Integration eine große Rolle.
Die AfD ist nun in allen 16 deutschen Landesparlamenten vertreten. Es ist das 16. und damit letzte Landesparlament, in dem die junge Partei nun mit eigenen Abgeordneten vertreten ist. Bundesweit flächendeckend präsent sind außer der AfD nur noch die Union (CDU plus Bayerns CSU) und die kriselnde SPD. (dpa/iQ)