Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute Idris Nassery über Recht und Ethik in der islamischen Rechtswissenschaft.
IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und ihrem akademischen Werdegang sagen?
Idris Nassery: Ich bin als ältester von vier Kindern in einem von Vielfalt geprägten Stadtteil Kabuls (Afghanistan) in einfachen Verhältnissen im Jahre 1986 geboren. Mit neun Jahren bin ich gemeinsam mit meiner Familie nach einer langen Odyssee aufgrund des anhaltenden Bürgerkriegs nach Deutschland geflüchtet. In Paderborn, meiner neuen Heimat, habe ich das Abitur gemacht und war während dieser Zeit in der Gründung und Etablierung diverser Hilfsorganisationen für den Wiederaufbau in Afghanistan involviert.
Nach dem Zivildienst in Paderborn habe ich Rechtswissenschaften in Bielefeld studiert und zusätzlich neben dem rechtswissenschaftlichen Studium ein Ergänzungsstudium in Wirtschaftswissenschaften absolviert. Anschließend habe ich als Stipendiat im Rahmen eines Masterprogramms (LL.M.) an der School of Oriental and African Studies (SOAS University of London) und an der Oxford University, Islamisches Recht und Rechtsvergleichung studiert. Sodann folgte die Promotion als Stipendiat der Stiftung Mercator im Rahmen des Exzellenzprogramms Graduiertenkolleg Islamische Theologie.
IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?
Nassery: In meiner Arbeit habe ich mich der Frage nach einer Verhältnisbestimmung zwischen Recht und Ethik in der islamischen Rechtswissenschaft anhand der Ansätze von Abû Hâmid al-Gazâlî (gest. 1111) gewidmet. Hierbei habe ich mich Im Rahmen der Verhältnisbestimmung auf die konkrete Rechtspraxis im Kontext der Wirtschaft bezogen, um so im Gespräch mit den herrschenden wirtschaftsethischen Ansätzen im deutschsprachigen Raum, Skizzen einer möglichen islamisch-theologischen Wirtschaftsethik aufzuzeichnen.
IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis?
Nassery: Das Thema hat mich persönlich sehr interessiert, weil ich als Jurist nicht selten von meinen geschätzten Kollegen mit der Frage nach dem Spezifikum der islamischen Rechtswissenschaften konfrontiert wurde. Zugleich beschäftigte mich in autobiographischer Perspektive schon immer die Frage, was der ethische Geist der Scharia ist und welche Rückbezüge zu den dem islamischen Recht immanenten ethischen Aussagen der koranischen Botschaft und prophetischen Praxis sich entnehmen lassen und inwieweit sich diese für die Gegenwart fruchtbar machen lassen.
IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?
Nassery: Ich habe meine Promotionsphase als eine intensive, aber zugleich sehr lehrreiche und positive Zeit empfunden, in der ich vor allem den Austausch mit anderen Nachwuchswissenschaftlern und die Begegnungen mit bereits etablierten Wissenschaftlern äußerst bereichernd war. Was mich persönlich vorantreibt, ist die tiefe Dankbarkeit, mich wissenschaftlich und damit in gänzlicher Unabhängigkeit und Freiheit mit der reichen islamischen Rechtstradition und Theologie auseinandersetzen setzen zu dürfen.
IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?
Nassery: Nun, ich denke in erster Linie lädt meine bescheidene Arbeit ganz im gazâlischen Sinne dazu ein, sich mit den heute uns zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden und Ansätzen selbstbewusst und offen mit der vielfältigen und dynamischen Tradition der islamischen Gelehrsamkeit auseinanderzusetzen. Somit können kreative, die islamische Theologie und unsere Gesamtgesellschaft fördernde Impulse für die Fragen und Herausforderungen der Gegenwart entwickelt werden. Ebenso hoffe ich mit meinen Bemühungen die genetisch-kausale Beziehung zwischen Recht und Ethik in der islamischen Rechtstradition aufgezeigt zu haben, dessen Verständnis fern des häufig reduktionistisch angenommenen Formalismus des islamischen Rechts für das alltägliche Handeln maßgeblich ist.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.