Das Grundgesetz ist 70 Jahre alt. Was sie für Muslime bedeutet und wieso die Verfassung mehr denn je beschützt werden muss, schreibt IGMG-Generalsekretär Bekir Altaş.
Vor 70 Jahren wurde unser Grundgesetz, unsere Verfassung erlassen. Sie beginnt mit den Worten: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen…“. Damit wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes, die damaligen Mitglieder des Parlamentarischen Rates, zum Ausdruck bringen, dass es überstaatliche Normen gibt, über die auch eine verfassunggebende Versammlung nicht hinwegschreiten kann.
Die Verfasser des Grundgesetzes haben offengelassen, welchen Inhalt diese Grenzen haben. Dies muss durch Auslegung ausgefüllt werden; und sie muss allen Auffassungen gerecht werden können – den Christen, den Juden, den Atheisten und schließlich auch den Muslimen.
Unstreitig hat für uns Muslime die Religionsfreiheit im Grundgesetz – genauso für andere Gläubige – eine besondere Stellung. Sie garantiert die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Sie sind unverletzlich. Sie ist schrankenlos. Die ungestörte Religionsausübung wird garantiert; und zwar auch im öffentlichen Raum. Die Religion wird nicht ins Private eingesperrt.
Muslime haben aber auch, trotz dieser starken Worte, trotz dieser Garantie, erfahren müssen, dass Religionsfreiheit relativ ist. Im Einzelfall kann es leider auch mal darauf ankommen, wer betroffen ist. Das haben sie beispielsweise bei der Beschneidungsdebatte erfahren. Wären nur Muslime von einem Verbot betroffen gewesen, wäre die religiös motivierte Beschneidung sicherlich verboten worden. So makaber es sich anhören mag, sprechen wir vom Glück, dass ein Verbot auch Juden getroffen hätte. So blieb uns vermutlich ein Straftatbestand erspart, der in der Praxis fast ausschließlich Muslime getroffen hätte. Ähnliche Erfahrungen machen wir auch an anderen Stellen: Beim Kopftuch, bei der Schächtung, beim Gebet im öffentlichen Raum und kürzlich auch beim Thema Fasten im Monat Ramadan.
Dort, wo die Religionsfreiheit uns nicht mehr zu schützen scheint, eilt uns oft das Gleichbehandlungsgebot zur Hilfe. Weil der Staat sich allen Religionen gegenüber neutral verhalten muss, keins bevorzugen oder benachteiligen darf, müssen gleiche Rechte oft auch den Muslimen gewährt werden. Doch auch dieser Grundsatz wird nicht selten ausgehebelt, indem vermeintliche Unterschiede vorgeschoben werden.
Bei der Frage beispielsweise, ob eine Religionsgemeinschaft auch als solche behandelt wird, stellen wir fest, dass Gleiches doch nicht immer gleichbehandelt wird. Obwohl beispielsweise die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), genauso wie andere islamische Religionsgemeinschaften auch, unstreitig sämtliche Voraussetzungen einer Religionsgemeinschaft erfüllen, tun sich die Landesregierungen immer noch schwer, dies zu akzeptieren; trotz zahlreicher Gutachten und zum trotz der Lebenswirklichkeit, die in diesen Gutachten skizziert werden. An anderer Stelle hingegen beobachten wir einen großzügigen Staat, der – wenn es politisch passt – sogar beide Augen zudrückt.
Eine Aufweichung unseres Grundgesetzes erleben wir zunehmend auch im Artikel 6. Der Schutz der Familie wird bereits seit vielen Jahren durch Sprachtests ausgehebelt. Tausende Familien müssen viele Jahre warten, bis sie zusammenleben dürfen. Nicht selten führt diese Trennung dazu, dass Familien kaputtgehen.
Noch größere Sorge bereitet mir die aktuelle Flüchtlingspolitik. Auch dort wird auf Kosten der Familien Abschottungspolitik betrieben. Schutzberechtigte Asylbewerber werden kraft Gesetzes gehindert, ihre Familien nachzuholen, obwohl zahlreiche Studien darauf hinweisen, dass dieser Weg die Integration dieser Menschen hinauszögert und sogar verhindert.
Alles andere als ein würdiges Geburtstagsgeschenk ist die aktuelle Flüchtlingspolitik. Wir opfern dieser Politik nicht nur das Recht auf Asyl, sondern auch die unantastbare Menschenwürde. Viele mehr noch, wir opfern dieser Politik auch das, worauf in der Präambel Bezug genommen wird: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen…“
Durch die Einstellung der Rettungsmission im Mittelmeer hat Europa sich dafür entschieden, keine Menschen aus Seenot mehr zu retten. Mit anderen Worten haben wir uns dazu entschlossen, Menschen in Not ertrinken zu lassen – darunter Ältere Menschen, schwangere Frauen und kleine Kinder. Wir schauen weg, obwohl wir ganz genau wissen, dass dort Menschen unsere Hilfe brauchen. Wir setzen dieser menschenverachtenden Politik auch noch die Krone auf, indem wir private Seenotretter dafür bestrafen, sie anklagen und sie vor Gericht zerren, weil sie das tun, was die Pflicht jeden Menschen ist: Menschen in Not zu helfen.
Würde jemand im Rhein ertrinken und wir würden keine Hilfe leisten, indem wir uns einfach abwenden, wäre das unterlassene Hilfestellung; wir würden uns nach unserem Strafgesetzbuch strafbar machen. Geschieht das jedoch im Mittelmeer und sind es Afrikaner die sterben, wird genau dieses Weggucken von uns verlangt. Eine Rechtfertigung für diese Politik im Grundgesetz zu finden, ist unmöglich. Sie ist schlicht unvereinbar mit unserer Verfassung.
Das Grundgesetz ist in erster Linie ein Schutzgesetz der Bürger gegenüber dem Staat. Dieser Schutz ist aber nicht selbstverständlich, sondern muss immer wieder eingefordert und erstritten werden. Aber wir alle stehen gleichermaßen in der Pflicht, dem Staat, der Politik, auch der Judikative und Exekutive immer wieder deutlich zu machen, dass unsere Grundrechte weder verhandelbar noch relativierbar sind.
Wir stehen heute, 70 Jahre nach seinem Inkrafttreten, in der Pflicht, ihn zu beschützen und zu stärken. Sie ist die beste Verfassung, die wir haben können, wenn wir sie mit Leben füllen – im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und dem Menschen.