Die Europawahl war ein böses Erwachen für Sozial- und Christdemokraten nicht nur in Deutschland. Die Rechte wird stärker. Aber die eigentliche Überraschung lag woanders.
Schlappe für die Volksparteien, Erfolg für die Rechte, aber auch starke Ergebnisse für Liberale und Grüne: Nach der Europawahl vom Sonntag wird das Politikmachen in Europa schwieriger. Nach schweren Verlusten kommen Christ- und Sozialdemokraten zusammen erstmals seit Jahrzehnten nicht mehr auf eine Mehrheit im Europaparlament und müssen sich Partner suchen. Auch wenn rechtspopulistische Parteien bei der Europawahl zulegten, blieb ein Rechtsruck aus – auch wegen einer erstmals wieder gestiegenen Wahlbeteiligung. Sie lag bei um die 50 Prozent.
Unter den 751 Abgeordneten des künftigen Europaparlaments wird die christdemokratische Europäische Volkspartei nach einer ersten Prognose des Europaparlaments auf 173 Sitze kommen, 43 weniger als bisher. Die Sozialdemokraten erhalten demnach 147 Mandate (minus 38). Die Liberalen liegen bei 102 Mandaten, wenn die Sitze für die Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mitgezählt werden (plus 33). Dahinter kommen die Grünen mit 71 Sitzen (plus 19). Die Linke verliert fünf Sitze und kommt auf 42.
Die bisher drei rechtspopulistischen und nationalistischen Fraktionen kommen zusammen auf 171 Sitze, 16 mehr als bisher. Es wird allerdings erwartet, dass Fraktionen sich neu sortieren. So könnte sich die rechtsnationale Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orban, die laut Prognosen stark hinzu gewann, von der EVP lossagen und sich der neuen Rechtsallianz des italienischen Lega-Chefs Matteo Salvini anschließen. Laut Prognosen lag Fidesz bei 42 Prozent und damit um 14 Prozentpunkte über dem Ergebnis von 2014.
Einige Rechtsparteien schnitten schwächer ab als erwartet, darunter auch die Alternative für Deutschland. Sie kam auf rund 10,5 Prozent lag damit über den 7,1 Prozent des Jahres 2014 – aber unter dem Ergebnis der Bundestagswahl 2017. Auch in Finnland und Dänemark blieben die Parteien hinter den Erwartungen. In Östereich verlor die FPÖ nach dem Videoskandal laut Prognosen etwa 2,2 Prozentpunkte und kam auf 17,5 Prozent.
In Frankreich schlug die Rechtspopulistin Marine Le Pen mit ihrer Partei Rassemblement National laut Prognosen die Partei LREM von Präsident Emmanuel Macron. Aber sie kam mit 24,2 Prozent nicht über ihr Ergebnis von 2014 hinaus; damals erhielt ihre Partei 24,9 Prozent.
Die größten Zugewinne für das rechte Lager durfte Salvini in Italien sowie die Brexit-Partei in Großbritannien erwarten. Der Lega wurden in Umfragen mehr als 30 Prozent Stimmanteil zugetraut, nach nur 6,2 bei der Europawahl 2014.
Die Schlappe der Volksparteien in Europa spiegelt sich auch in den Ergebnissen aus dem bevölkerungsstärksten EU-Mitgliedsland Deutschland, wo CDU/CSU und SPD historisch schlecht abschnitten. Hier kamen CDU/CSU in Prognosen von ARD und ZDF nur noch auf 27,7 bis 27,9 Prozent, nach 35,3 Prozent vor fünf Jahren. Die SPD stürzte laut Prognosen von 27,3 auf nur noch 15,6 Prozent.
Europaweit müssen sich Christ- und Sozialdemokraten nun Bündnispartner suchen, um eine tragfähige Mehrheit für Gesetzesvorhaben und vor allem für die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten zu zimmern. Anspruch auf den Posten erheben EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber und der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans.
Die Linken-Fraktionschefin Gabi Zimmer bot am Sonntagabend eine Zusammenarbeit an. Es müsse das gemeinsame Ziel sein, eine breite Allianz gegen Nationalisten und Rechtsextreme zu bilden. Die Grünen-Spitzenkandidatin Ska Keller sagte, es gehe bei möglichen Bündnissen nur um Inhalte. Das Wahlergebnis sei ein Mandat für Wandel in der Europäischen Union.
Der Liberale Guy Verhofstadt sagte, die EU-freundlichen Parteien hätten eine Mehrheit. Es gehe nun um eine starke Politik zum Beispiel für mehr Klimaschutz. Man brauche einen Kommissionspräsidenten, der Mehrheiten jenseits der Parteilinien finde. (dpa, iQ)