Muslime verzehren nur das Fleisch von bestimmten Tieren. Welche Verantwortung sie gegenüber diesen Tieren tragen und woran sie ihren Konsum in Zeiten zunehmender Massentierhaltung ausrichten sollten, erklärt Asmaa El Maaroufi.
Fragt man nach den Tieren im Islam, so assoziiert man nicht selten zunächst die Schächtungsfrage oder auch die Diskussion um das Schweinefleischverbot damit. Dabei lassen sich in der islamischen Geistesgeschichte bemerkenswert viele Erzählungen und Anekdoten zu Tieren auffinden; auch hinsichtlich des korrekten Umgangs mit diesen. Mehr noch finden sich selbst im Koran mannigfache Erzählungen zu Tieren.
So tragen sechs der 114 Kapitel des Korans einen Tiernamen als Überschrift: Es sei die 2. Sure des Korans genannt, die Kuh (Bakara), die 27. , die Ameise (Naml) oder auch die 105., der Elefant (Fîl). Von den größten bis hin zu den kleinsten Tieren: Sie alle scheinen im Koran Platz zu finden. Mehr noch: Sie erscheinen im Koran nicht nur als Lebewesen, die im Akt des Zufalls erschaffen wurden. Vielmehr werden die Tiere allesamt als gewollte Schöpfung Gottes verstanden.
Das Tier reiht sich folglich neben dem Menschen als Geschöpf Gottes an. Der gemeinsame Ursprung dieser wird demzufolge betont: Gott. Sie beide – Mensch und Tier – teilen sich in ihrer Gemeinsamkeit, Schöpfung Gottes zu sein, die Erde als gemeinsam genutztes Lebenshaus und werden dabei – beide – von Gott versorgt. So heißt es:
Und es gibt kein Geschöpf auf der Erde, dessen Versorgung nicht Allah obläge. Und er kennt seinen Aufenthaltsort und seine Heimstatt. […] (Sure Hûd, 11:6)
Die Tiere werden zudem nicht nur als Geschöpfe Gottes vorgestellt, die Gott versorgt. Vielmehr wird indes vielfach im Koran betont, dass sie Gott unentwegt preisen:
Die sieben Himmel und die Erde und ihre Bewohner preisen ihn. Es gibt nichts, was ihn nicht lobpreisen würde. Ihr aber versteht ihre Lobpreisung nicht. […] (Sure Isrâ, 17:44)
Zudem werden sie auch als soziale Wesen verstanden, insofern sie jeweilig – wie der Mensch – in soziale Strukturen (arab. Umma) leben – folglich jeweilig eigene Gemeinschaften haben. So heißt es:
Und es gibt kein Lebewesen auf der Erde und keinen Vogel, der mit seinen Flügeln fliegt, ohne dass es Gemeinschaften wären gleich euch (Menschen). […] (Sure An’âm, 6:38)
Man kann folglich festhalten, dass Tiere als Geschöpfe Gottes vorgestellt werden, die im Koran nicht nur hinsichtlich ihrer Funktionalität auftreten, sondern viel mehr und insbesondere jeweilig als Lebendiges zwischen Lebendigem (dem Menschen) existieren, insofern sie nicht nur Gott preisen, sondern auch in jeweilige Gemeinschaften leben. So sind sie Zeichen Gottes (arab. Âyât), für Menschen mit Verstand:
„In der Erschaffung der Himmel und der Erde und in der Wende von Nacht und Tag sind Zeichen für die Einsichtigen, die gedenken Gottes im Stehen und im Sitzen und liegend auf ihren Seiten, und nachdenken über die Erschaffung der Himmel und der Erde: „Unser Herr, du hast das nicht umsonst erschaffen. Preis dir! […]“ (Sure Nisâ, 3:190–191)
Eben hier kommt der Mensch in seiner Funktion als „Kalif“ zu trage. Diese koranische Narrative findet ihren Anfang in der Ernennung des Menschen zu diesem. So heißt es:
Als dein Herr zu den Engeln sprach: „Ich werde auf der Erde einsetzen einen
Beauftragten (ḫalīfa), sagten sie: ‚Willst du auf ihr jemand einsetzen, der auf ihr Unheil anrichtet und Blut vergießt, wo wir dir lobsingen und deine Heiligkeit preisen?‘ Er sagte: ‚Ich weiß, was ihr nicht wisst.‘ (Sure Bakara, 2:30), siehe auch: (Sure An’âm 6:165).
Eben dieser Ernennung des Menschen, Kalif auf Erden zu sein, ist jedoch niemals triumphierend zu verstehen; sie ist keine Vormachtstellung im Sinne einer letzten Herrscherinstanz. Viel mehr kommt dem Kalifen die Aufgabe eines Beauftragten zu, insofern er im Auftrag Gottes handelt. Insofern kommt dem Menschen zwei Bestimmungen zu: Er ist Auserwählter Gottes – als solcher ist er aber auch immer ein Diener Gottes (arab. Abd); folglich besteht seine Aufgabe darin, sich Gottes hinzugeben und in Seinem Interesse zu fungieren. Hierin besteht auch die schwierige Aufgabe des Kalifen, zwischen den eigenen Bedürfnissen, und den anderer (Mensch, Tier, Natur) abzuwägen. Und dabei in Balance und Harmonie zu entscheiden, um das, was ihm von Gott anvertraut wurde zu bewahren.
Setzt er sich selbst dabei zu stark ins Zentrum, gerät das von Gott erschaffene Gleichgewicht der Erde, aus den Fugen. Deshalb kommt dem Menschen hierdurch eine große Verantwortung zu, muss er doch nach islamischer Auffassung am jüngsten Tag vor dem Angesicht Gottes Antwort geben für das ihm Anvertraute. Diese Beziehung zu diesem Anvertrauten darf niemals in eine Beziehung verkommen, in welcher sich der Mensch als Herrscher oder gar Eigentümer versteht.
Dass Tiere durchaus Nutzen für den Menschen bringen, impliziert eben nicht die Aneignung. So ist es dem Menschen zwar gestattet worden, ‚Hilfestellungen‘ durch bestimmte Tiere zu erfahren, so bspw. auch das Vieh, von denen der Mensch u.a. für seine Kleidung profitieren kann, Nahrung und Weitere. Doch auch der spirituelle Nutzen wird im Koran genannt. So werden die Tiere im Koran als Zeichen und Wunder Gottes begriffen, weshalb der Mensch dazu aufgerufen wird, die Tiere zu betrachten und darin die Signatur Gottes zu erkennen.
Sehen sie denn nicht, wie die Vögel am Himmel zum Flug bestimmt sind? Gott ist es, der sie dort hält. Darin sind Zeichen für Menschen, die zu glauben bereit sind. (Sure Nahl, 16:79)
An dieser Stelle sei zu fragen, was dies alles für eine gegenwärtige islamische Tierethik bedeute? Insbesondere sei hier zu Fragen, wie in Zeiten zunehmender Massentierhaltungen in Europa mit der Frage nach dem Fleischkonsum aus theologischer Perspektive umzugehen sei? Hier einfach auf jene Stellen des Korans zu verweisen, in welchen der Fleischkonsum erlaubt wurde, würde der Komplexität, die dieses Thema beinhaltet, nicht gerecht werden.
Denn in Zeiten von zunehmender Massentierhaltung, Einsätzen von zunehmenden Pestiziden und Antibiotika als auch der Diskussion um Gen-Food, stellt sich diese Frage im Lichte der islamischen Theologie und Ethik neu. Es bedarf hier verschiedene Bereiche zu betrachten und interdisziplinär vorzugehen, um dieser Frage gerecht nachkommen zu können. So sind mit dieser Frage nicht nur mannigfache tierethische Fragen verbunden: wie sei bspw. damit umzugehen, dass Tieren immer mehr zur bloßen dinglichen Sache verkommen, die jeglicher Individualität beraubt werden und unter höchstem Stresssituation geschlachtet werden – dies in Anbetracht der Tatsache, dass der Prophet Muhammad (s) befohlen hat, Tiere keinem Stress auszusetzen? Wie ist auch mit der Trennung von Kalb und Kalb, die ebenfalls zu teilen vom Propheten untersagt wurde? Wie ist überhaupt das Zufügen von Leid möglich, wenn Gott diesen Tiere im Koran den Status preisender Geschöpfe zuspricht, die seiner unentwegt gedenken? Nebst dieser und weiterer zahlreicher tierethischer Fragen stellen sich auch umweltethische Fragen, ist doch der Fleischkonsum der Umweltkiller schlechthin.
Den Großteil des abgeholzten Amazonaswaldes verwendet man für Viehweiden. Zudem verursacht die Fleischproduktion mehr Treibhausgase als der weltweite Transportverkehr; inklusive aller Autos, Eisenbahnen, Schiffen, und Flugzeugen. Bedenkt man zudem, dass 50% der heute erwirtschafteten Ernten dazu verwendet werden, Masttiere zu füttern – dies in Zeiten von einer immensen Welthungerproblematik – so kann auch dies nicht ohne Berücksichtigung bleiben.
Auch die zunehmende Wasserknappheit weltweit, die mittlerweile selbst Europa zu Teilen erreicht, spielt hier eine große Rolle: Immerhin werden bspw. für die Produktion eines einzigen Kilos Rindfleisch knapp 15.000 Liter Wasser benötigt. Nebst dieser Umwelt- und tierethischer Probleme gibt es auch zahlreiche sozialethische Probleme. So verursacht der immense Fleischkonsum Landraub, und fördert – wie genannt – den weltweiten Welthunger als auch Wasserknappheit. Bspw. werden in Südamerika, Afrika und Asien mehr als 25 Millionen Hektar Ackerland dafür reserviert, den nördlichen Fleischkonsum möglich zu machen. Flächen, die der einheimischen Bevölkerung für den Anbau von Grundnahrungsmitteln fehlen. Demzufolge leben wir, als muslimische Europäer, auf Kosten anderer, die einen hohen Preis für diesen Genuss zu zahlen haben.
All dies muss dazu führen, dass man sich in Zeiten zunehmender Hunger- und Umweltkatastrophen, die auf Kosten von Menschen und Tieren gehen, die Fragen nach „halal“ und „tayyib“ neu stellt. Es kann nicht ausreichend sein, hier lediglich jene Koranverse aus dem Koran heranzuziehen, die den Fleischkonsum grundlegend erlauben. Vielmehr muss man gerade diese Verse im Lichte der o.g. Diskurse neu lesen. So heißt es im Koran.
„Ihr Menschen! Esst von alledem, was es auf der Erde gibt, soweit es erlaubt [halâlan] und gut [tayyiban] ist! Und tretet nicht in die Fußstapfen des Satans! Er ist euch ein ausgemachter Feind.“ (Sure Bakara, 2:168)
Derweil ist der Begriff „halal“ ein rechtlicher Begriff, der das Erlaubte und Rechtmäßige meint, und „tayyib“ das Gute und Reine. Es stellt sich daher die Frage, weshalb der Koran an vier Stellen im Koran halal im Kontext der Nahrung mit dem Guten (tayyib) verbindet? Man kann sich daher nicht wundern, dass man diesen Begriff auch als moralischen Begriff versteht. So definiert der Exeget Sahl at-Tustarî den Begriff halal als das rechtlich Erlaubte, dessen Akzentuierung in der Nicht-Missachtung Gottes bestehe, da eben rechtmäßig. Tayyib hingegen sei das, worin der Mensch Gott nicht vergesse. Demnach stellt das, was tayyib ist, eine höhere Reinheitsstufe des Erlaubten dar, insofern diese Stufe einen weiteren, holistischen Blick auf Nahrung wirft.
Deshalb auch vergesse ich Gott nicht, wenn ich das Gute und Reine im Sinne von tayyib in meinen Entscheidungen inkludiere. Denn indem Gott mir stets gegenwärtig ist, reflektiere ich alles, was ich tue, demnach auch, was ich esse, und unterscheide dabei zwischen dem Guten und Bösen. Ich handele also ethisch. Hier macht sich die genuine Bestimmung des Muslims erkennbar, der nach dem Koran handelt. Der Koran als das Unterscheidende zwischen Gut und Böse. Wenn wir von „halâlan tayyiban“ im Kontext von Nahrung sprechen, so müssen also beide Komponenten Berücksichtigung finden.
Folglich: Eine Religion, die den Anspruch enthält, allumfassend zu sein und als solche nicht nur den europäischen Menschen, sondern mehr noch stets allen Menschen und (!) Tieren und der Natur Achtung schenkt, muss hier nach dem Mehrwert des Fleischkonsums fragen.
Der Islam würde seinem Anspruch folglich nicht gerecht werden, wenn er gerade hier, wo Mensch und Tier in ihrer Verletzlichkeit tangiert werden, reduktionistisch vorgehen würde, in dem er lediglich funktional die Interessen weniger Menschen im Blick haben würde. Vielmehr muss man sich dieses funktionalistischen Ansatzes einer islamischen Ethik entledigen. Man muss sich hinwenden zu einer Ethik, die den Blick schärft für nachhaltiges Denken. Dies im Sinne jener Religion, die ihren Kalifen immer fort daran erinnert, gerecht zu handeln, und kein Unheil auf Erden zu stiften.
„Und nicht stiftet Unheil auf der Erde, nachdem sie geordnet ist, und ruft zu ihm in Furcht und Verlangen. Wahrlich, Gottes Barmherzigkeit ist nahe den Schönhandelnden.“ (Sure Âraf, 7:56)