Vegetarische und vegane Ernährungstrends sind ein deutliches Zeichen einer neuen (Ess-)Kultur. Inzwischen ist sogar von einem alternativen Lebensstil die Rede. Doch wo stehen Muslime in dieser wandelnden Esskultur?
Angetrieben durch Lifestyle-Blogs und Social Media entstehen auch im Bereich der Ernährung immer neue Trends. Diese verändern besonders in Europa die Esskultur. Anhänger der Paleo- bzw. Steinzeiternährung setzten auf hochwertige Fette und Proteine, aber wenige Kohlenhydrate. Keto-Fans schwören ebenfalls auf eine geringe Aufnahme an Kohlenhydraten und eine hohe Protein- und Fettzufuhr. Sogenannte „Frutarier“ ernähren sich ausschließlich von Obst, Vegetarier verzichten auf Fleisch, Fleischprodukte und Fisch. Im Rahmen einer veganen Ernährungsweise werden schließlich alle Produkte tierischen Ursprungs gemieden. Viele Menschen kehren, nachdem sie eine dieser Ernährungsweisen ausprobiert haben, zu ihren alten Gewohnheiten zurück, eine mindestens ebenso große Zahl steigt hingegen dauerhaft auf den Trend vegan um.
Im Vergleich zum Vegetarismus, einer schon lange bekannten und gelebten Ernährungsform, spricht der Veganismus erst in den letzten Jahren ein breites Publikum an. Trotz zahlreicher Berührungspunkte handelt es sich grundsätzlich um zwei völlig unterschiedliche Ernährungsweisen.
Während Vegetarier auch Eier und/oder Milch und Milchprodukte von Säugetieren konsumieren, verzichten Veganer auf alle Lebensmittel tierischen Ursprungs, einschließlich Honig. Der tägliche Bedarf wird ausschließlich über pflanzliche Lebensmittel gedeckt. Die Beweggründe für den Umstieg auf eine vegane Ernährungsweise sind verschieden: Umweltbewusstsein, Tierschutz oder auch religiöse Überzeugungen spielen eine entscheidende Rolle.
Den Studien des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) und des Markt- und Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge gibt es allein in Deutschland 8 Millionen Vegetarier und 1,3 Millionen Veganer. Weltweit wird die Anzahl der Vegetarier und Veganer auf 1 Milliarde geschätzt, Tendenz steigend.
Die Diskussionen rund um das Thema alternative Ernährungsformen drehen sich vor allem um Tierschutz– und Umweltfragen. Dies betrifft natürlich auch europäische Muslime, weshalb mittlerweile auch muslimische Gemeinschaften und Gemeinden immer häufiger derartige Veränderungen thematisieren.
Insbesondere junge Muslime haben großes Interesse an alternativen Ernährungsweisen. Dafür spricht die wachsende Beliebtheit vegetarisch und vegan lebender muslimischer „Influencer“, die ihre Erfahrungen, Rezepte, aber auch Bilder und Videos auf ihren Social Media-Kanälen und Blogs teilen, um bei ihren Followern ein Bewusstsein für Tierschutzfragen zu wecken. Gerade vor dem Opferfest werden Beiträge und Posts rund um das Thema „Islam und Vegetarismus/Veganismus“ geteilt, die sowohl proaktiv als auch aufklärend wirken sollen.
Für Muslime spielt bei der Entscheidung für die Übernahme einer vegetarischen oder veganen Ernährungsweise auch die Religion eine wichtige Rolle.
Die Wienerin Ümmü Selime Türe ernährt sich seit mehr als acht Jahren vegetarisch. Erst als junge Erwachsene kam sie während längerer Aufenthalte auf Bauernhöfen erstmals richtig mit Tieren in Kontakt. Dadurch änderte sich ihre Einstellung auch zu ihrer persönlichen Ernährung völlig. Sie entschied sich Vegetarierin zu werden. Ihr Glaube, erklärt sie, habe dabei eine wegweisende Rolle gespielt: „Die Lehren des Islam legen uns Muslimen nahe, alle Lebewesen gut und respektvoll zu behandeln. Unsere Religion besagt, dass wir nicht nur Menschen, sondern auch unserer Umwelt und allen Lebewesen gegenüber fair sein sollen und uns ihrer bewusst sein müssen. Ganz nach dem Prinzip aus der Sura Zalzala, wo es heißt: ‚Wer Gutes im Gewicht eines Stäubchens getan hat, wird es sehen. Und wer Böses im Gewicht eines Stäubchens getan hat, wird es sehen.‘“
Aylin Gönül, die sich seit 2012 vegan ernährt, betrachtet das Ganze aus einer anderen Perspektive. Für Gönül lassen sich Islam und Veganismus nur schwer miteinander vereinbaren, das zeigen ihre eigenen Erfahrungen. Schon rein logisch sei dies kaum möglich, so Gönül. So sei das Opfern am Kurban-Fest, also die Schlachtung von Tieren, mit der veganen Lebensvorstellung nicht vereinbar.
Ein Schlüsselerlebnis habe sie als Kind während eines Türkei-Urlaubs gehabt, berichtet Gönül. Dort sei im Garten ihrer Großmutter ein Lamm geschlachtet worden. „An dem Tag wurde mir klar, dass Tiere das Recht haben, in Frieden und schmerzlos zu leben. Ich nahm Abstand von Fleisch und allen anderen Fleischprodukten.“ Um vegan leben zu können, müsse man sowohl Menschen als auch Tiere lieben, meint Gönül.
Beyza Nur Islek lebt erst seit vier Monaten vegan. Für sie spielte die Religion bei ihrem Umstieg eine wichtige Rolle: „Der Islam lehrt uns einen respektvollen Umgang mit unserer Umwelt und den Tieren. Auch der Prophet schützte das Recht der Tiere. Er behandelte sie stets respekt- und liebevoll. Jeder Muslim sollte sich ein Beispiel daran nehmen.“ Endgültig für die vegane Ernährung habe sie sich nach der Vorbereitung eines Vortrages in ihrer Gemeinde entschieden, berichtet Islek. In diesem Zusammenhang sei sich dess System der industriellen Tierhaltung bewusst georden: „Ich bevorzuge es, vegan zu leben und unterstütze kein tierquälerisches System.“ Sie habe schreckliche Bilder aus Massentierhaltungen gesehen und sich auch mit dem Thema der islamischen Schlachtung beschäftigt. Dabei sei sie zum Schluss gekommen, dass eine Schlachtung im Sinne des Islam, also den Kriterien „halal“ und „tayyib“ (sauber/gut) entsprechend, unter derartigen tierquälerischen Bedingungen unmöglich sei.
Vegetarisch und vegan lebende Muslime wollen sich aber nicht nur alternativ ernähren, sondern insgesamt bewusster leben. „Wenn wir uns selbst respektieren wollen, dann müssen wir uns mit guten Lebensmitteln ernähren“, meint Ümmü Türe.
Global zu denken und global zu handeln seien in der modernen Welt unabdingbar, erklärt Türe. Sie vertritt die Ansicht, dass die Menschen zumindest auf individueller Ebene über die Auswirkungen ihres täglichen Verhaltens und ihrer Konsumentscheidungen auf das Ökosystem nachdenken müssen. Und sie sollten entsprechend handeln. Zu wissen, wo und wie die Lebensmittel, die wir täglich verzehren, herkommen, sei dafür äußerst wichtig.
Halal-Ernährung stellt für die in Europa lebenden Muslime eine große Herausforderung dar. Neben Fragen zur islamkonformen Schlachtung (und deren gesetzlicher Beschränkung) spielen auch Lebensmittelzusatzstoffe eine wichtige Rolle. Jedes Lebensmittel sollte kontrolliert und bewusst gekauft werden.
Neben ethischen Beweggründen spielen auch ganz praktische Überlegungen eine Rolle: Die auf Fleischprodukten abgedruckten „Halal“-Siegel machen viele Muslime längst misstrauisch. Tatsächlich gibt es nur eine Handvoll Fleischprodukte und Lebensmittelzusatzstoffe, die den Kriterien „halal“ und „tayyib“ wirklich entsprechen. Statt Unsicherheit und langem Suchen steigt die junge muslimische Generation lieber gleich auf eine vegetarische oder vegane Ernährung um.