Die aktuellen politischen Ereignisse in der Türkei beeinflussen auch die türkeistämmigen Bürger in Deutschland. Ein Interview mit Prof. Dr. Karim Fereidooni über Zugehörigkeiten und Heimaten.
IslamiQ: Warum ist es vielen türkeistämmigen Jugendlichen anscheinend wichtig ihre Zugehörigkeit zu ihren Heimaten so zu demonstrieren?
Prof. Dr. Karim Fereidooni: Sicherlich gibt es Jugendliche in Deutschland, die einen familiären Bezug zu ihren Herkunftsorten haben und sich für Frieden engagieren. Wir sollten nicht nur diejenigen Menschen in das Zentrum unserer Betrachtung rücken, die sich für den Krieg aussprechen, salutieren und die Geschäfte der jeweils anderen Seite plündern. Vielmehr sollten wir die Stimmen derjenigen stärken, die sich für ein friedliches Zusammenleben engagieren.
IslamiQ: Wie kann man das Bedürfnis nach Zugehörigkeit erklären?
Fereidooni: Das Bedürfnis einiger Jugendlicher, ihre Zugehörigkeit zu ihren Heimaten in nationalistischer Art und Weise zum Ausdruck zu bringen findet man nicht nur bei jungen Menschen mit türkischem oder kurdischem familiären Bezug, sondern auch bei Jugendlichen, die keinen familiären Bezug zum Ausland aufweisen. Das kann an den hohen Zustimmungswerten der Erstwähler_innen in Sachen für die AfD abgelesen werden.
Ich bin der Auffassung, dass die Behauptung einiger konservativer Politiker_innen wonach „Menschen nur eine Heimat haben könnten“ und sich insbesondere Jugendliche of Color „sich gefälligst entscheiden sollen, ob Deutschland oder das Herkunftsland ihrer Familie ihre Heimat darstellt“ dazu beigetragen haben, die Debatte um Zugehörigkeit zu verschärfen. Sicherlich haben nationalistische türkische und kurdische Politiker_innen diese Stimmung aufgegriffen und für ihre Zwecke instrumentalisiert. Weder den deutschen noch den türkischen und kurdischen Nationalist_innen geht es um die Jugendlichen und deren Wohlbefinden. Es geht ihnen alleinig um die Durchsetzung ihrer politischen Forderungen.
IslamiQ: Wie hängt die deutsche Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte mit dem aktuellen Verhalten vieler türkeistämmiger Menschen zusammen?
Fereidooni: Die Integrationspolitik der letzten Jahre beinhaltet auch die Aufnahme von geflüchteten Menschen, die ich aus humanitären Erwägungen gutheiße. Für diese Integrationspolitik bin ich der Bundesregierung und den ehrenamtlichen Helfer_innen, die sich Tag für Tag für schutzsuchende Menschen engagieren, dankbar. Auf der anderen Seite stelle ich fest, dass eindeutige Positionierungsaufforderungen an Menschen of Color zugenommen haben. Der Druck, sich „zu einer Seite zu bekennen“ hat zugenommen. Diese Aufforderung widersprich aber der Lebensrealität der jungen Menschen in unserem Land.
Selbstverständlich haben Menschen mehrere Heimaten. Beispielsweise führt Horst Seehofer immer wieder an, dass er Bayer und Deutscher sei. Genauso wie wir ihm dieses Menschenrecht – sich seine unterschiedlichen Bezugspunkte für sein Leben selbst zu wählen – nicht absprechen dürfen, sollten wir das bei Menschen handhaben, die mehrere andere Heimaten besitzen. Wir sollten in Gleichzeitigkeiten denken und uns nicht von Ausschlussprinzipien leiten lassen. Wir sollten die Pluralität unserer Gesellschaft als etwas Wertvolles betrachten und die Wissensschätze unterschiedlicher Menschen als Vorteil begreifen.
Niemand in Deutschland hat das Recht die Heimatvorstellungen anderer Personen abzuwerten. Meiner Meinung nach sind Menschen mit türkischem und kurdischem familiären Bezug in Deutschland zu Hause und sie sind selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft. Sie haben einen großen Anteil am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Erfolg Deutschlands.
IslamiQ: Manche türkeistämmige Muslim_innen erwarten von ihrem Imam, dass er für den Erfolg der türkischen Armee betet. Welche Intentionen und Dynamiken stecken dahinter?
Fereidooni: Ich denke, dass sich Geistliche für Frieden und Dialog einsetzen sollten. Spirituellen Wegweiser_innen einer Gemeinde kommt eine wichtige Aufgabe für die Befriedung und Versöhnung der unterschiedlichen Gemeindemitglieder zu. Sie sollten sich ganz klar gegen kriegerische Auseinandersetzungen positionieren und friedvolle Rollenvorbilder für ihre Gemeindemitglieder sein. Die Imame sollten sich nicht für einen Krieg instrumentalisieren lassen, sondern Stellung beziehen für Frieden.
IslamiQ: Können islamische Religionsgemeinschaften, die hauptsächlich türkeistämmige Menschen repräsentieren, politisch neutral bleiben? Müssen sie das überhaupt?
Fereidooni: Von einem Freund, der selbst evangelischer Pfarrer ist und einen familiären Bezug zu England, Deutschland und Nigeria besitzt, habe ich gelernt: Ich bin, weil du bist und du bist, weil ich bin. Niemand in Deutschland lebt für sich isoliert und getrennt von anderen Bürger_innen. Wir gehören zusammen und deshalb müssen wir heilsame Wege der Verständigung finden, um unser Zusammenleben würdevoll zu gestalten. Ich bin sicher, dass uns das gelingt.
Alle friedvollen Demokrat_innen in unserer Gesellschaft sollten breite Allianzen bilden, um sich gegen die menschenverachten und kriegstreibenden Positionen einer kleinen, lauten Minderheit zu engagieren. Die Botschaften müssen lauten: Wir lassen uns nicht spalten! Wir arbeiten jeden Tag an unserem Traum einer fairen und gerechten Bundesrepublik, in der jeder Mensch seinen Platz hat, der die Würde der anderen Bürger_innen dieses Landes respektiert!
Das Interview führte Kübra Layik.