Vor einem Jahr wurde Neuseeland vom schlimmsten Verbrechen seiner Geschichte erschüttert. Bei dem terroristischen Anschlag eines antimuslimischen Rassisten auf zwei Moscheen in Christchurch wurden 51 Muslime getötet. Muslime gedenken an die schreckliche Tat.
Jeden Freitag. Es ist jeden Freitag dasselbe. Jedes Mal, wenn Muslime in Christchurch zum Freitagsgebet gehen, kommen die Erinnerungen wieder. An jenen 15. März vergangenen Jahres, als sich in der größten Stadt von Neuseelands Südinsel die Leute auch schon zum Gebet versammelt hatten. Daraus wurde die schlimmste Stunde in der Geschichte Neuseelands.
Die Zeiger auf der hölzernen Uhr der Al-Noor-Moschee standen auf 13.41 Uhr. Die Moschee war noch nicht ganz voll gewesen. 300 Leute vielleicht. Dann hörte man Krach an der Tür und sah, wie Funken schlugen. Ein Terrorist: ein Mann in kugelsicherer Weste, Schulterplatten aus Hartplastik, Selbstlader im Anschlag, der nach und nach 42 Menschen erschoss. Mit einer Helmkamera übertrug er via Facebook alles live ins Internet. Manche überlebten, indem sie es schafften sich zu verstecken oder fliehen konnten. Der Täter fuhr anschließend in eine andere Moschee im Stadtteil Linwood und mordete weiter. Auf der Flucht überwältigte ihn die Polizei.
Insgesamt starben 51 Menschen. Alle Muslime. Viele aus Ländern fernab von Neuseeland wie Bangladesch, Syrien oder Pakistan. Manche lebten seit vielen Jahren hier, andere erst seit ein paar Wochen. Der Jüngste war Neuseeländer von Geburt: ein Junge, nur drei Jahre alt. Der Älteste, ein Mann aus Afghanistan, wurde 71. So viele Tote gab es in dem Land auf der anderen Seite der Erdkugel bei einem Verbrechen noch nie. Fast alle sind auf dem Friedhof von Linwood begraben.
Die Bürgermeisterin der 380 000-Einwohner-Stadt, Lianne Dalziel, sagt: „Was damals geschah, ist ständig in meinem Kopf. Kein einziger Tag ist vergangen, ohne dass ich mich damit beschäftigen musste.“ Wenn Rassisten wieder morden, irgendwo auf der Welt, auch in Halle oder Hanau, fällt stets sehr schnell ein anderer Name: Christchurch.
Dennoch erinnert die Bürgermeisterin an den Zusammenhalt und an die unglaubliche Unterstützung aus aller Welt, die sie bekommen hatten. Vor allem Premierministerin Jacinda Ardern bekam international großes Lob. Die Tage danach umarmte sie viel, trug Kopftuch, fand die richtigen Worte. Insbesondere schloss sie Neuseelands Muslime – etwa 40 000 – fest in die Gesellschaft ein: „Neuseeland ist ihre Heimat. Sie sind wir.“
Inzwischen sind in der Moschee alle Spuren des Anschlags beseitigt. Im Gebetsraum liegt ein neuer blauer Teppich. Die zerschossenen Fenster sind ersetzt, die Einschusslöcher verkittet und übermalt. Aber natürlich haben viele Leute Angst, wenn sie wieder in der Moschee mit der goldenen Kuppel sind. Man kann das nachvollziehen. Erst vor ein paar Tagen gingen über einen verschlüsselten Kurznachrichtendienst wieder Drohungen ein, bebildert mit dem Foto eines maskierten Mannes, der im Auto vor der Moschee sitzt.
Anders als früher ist die Eingangstür nun besonders gesichert. In jedem Raum hängen Überwachungskameras: Alles, was drinnen geschieht, wird in die Polizeizentrale übertragen. Freitags ist stets eine Vielzahl von Beamten vor Ort. Meist stehen sie gleich am Tor. Dort, wo die vielen handbemalten Steine liegen. Einer trägt das Datum „15.3.19“. Darunter steht: „The day New Zealand cried“ („Der Tag, an dem Neuseeland weinte.“)
Oft wird vergessen, dass damals auch mehr als 50 Gläubige schwer verletzt wurden. Manche mussten monatelang im Krankenhaus behandelt werden. Freitags trifft man sie nun wieder. Männer mit schleppendem Gang, mit Krücken, im Rollstuhl. Einer von ihnen ist Taj Mohammad Kamran. Der 47-Jährige kam 2007 aus Afghanistan, ist aber längst Neuseeländer. Bei dem Anschlag wurde er von drei Kugeln getroffen. Nun ist er auf Gehhilfen angewiesen. Wie viele andere, die schwer traumatisiert sind, bekommt er psychologische Betreuung. „Ich träume jede Nacht davon.“ Auf seinem Handy hat er Fotos vom Tag der Tat. Die Nummer seines besten Freundes, der erschossen wurde, hat er nicht gelöscht.
Der Leiter der Christchurch-Stiftung, Raf Manji, meint sogar: „Das Schlimmste kommt erst noch.“ Der langjährige Stadtrat hat mit mehr als 100 Opfern und Hinterbliebenen gesprochen. „Oft hört sich das an, als ob sich die Leute in einem dichten Nebel befinden. Manche haben sehr große Depressionen. Ich glaube, wir haben mit unserer Arbeit noch gar nicht richtig angefangen.“
Was die meisten Überlebenden noch mehr beschäftigt als der erste Jahrestag, ist der bevorstehende Prozess: Anfang Juni soll Brenton Tarrant in Christchurch vor Gericht gestellt werden. Dem 29-jährigen Australier droht wegen vielfachen Mordes und Mordversuchs lebenslange Haft. Derzeit sitzt er noch in Auckland, 1000 Kilometer entfernt, in Neuseelands einzigem Hochsicherheitsgefängnis.
Eigentlich sollte der Prozess früher beginnen. Wegen des islamischen Fastenmonats Ramadan wurde der Auftakt jedoch verschoben. Die Behörden wollen verhindern, dass der Rechtsextremist, der vor den Schüssen ein sogenanntes Manifest per Mail verschickt und ins Internet gestellt hatte, den Prozess nutzt, um seine rassistischen Theorien zu verbreiten. Bei den gerichtlichen Vorab-Terminen, zu denen er meist nur per Video zugeschaltet wurde, bezeichnete er sich als nicht schuldig. Weiter äußerte er sich nicht.
Muslime in Deutschland erinnern, ein Jahr nach den schrecklichen Terroranschlag, an Christchurch. „Auch ein Jahr nach dieser Tat ist es unmöglich, das Geschehene in Worte zu fassen. Was uns bleibt ist die Sorge vor weiteren Anschlägen. Denn wirksame Maßnahmen gegen Rassismus wurden auch nach Halle und Hanau nicht eingeleitet“, erklärt Bekir Altaş, Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG), in einer Mitteilung. Bekir Altaş weiter: „Mit tiefer Trauer gedenken wir den Opfern von Christchurch. 51 Menschen kamen am 15. März 2019 bei einem antimuslimisch motivierten Terroranschlag in Moscheen ums Leben. Wir sind heute noch fassungslos und erschüttert. Auch ein Jahr nach dieser Tat ist es unmöglich, das Geschehene zu verarbeiten oder es in Worte zu fassen. Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Toten, den Verletzten und bei ihren Angehörigen.“
Außerdem beobachte man mit großer Sorge, wie diese Art der Verbrechen vermehrt Nachahmer finden, die in immer kürzeren Abständen morden. Bei den schmerzlichen Erfahrungen von Solingen und Mölln habe man erfahren müssen, dass man vor Rassismus niemals sicher sein werde – und man uns nicht auf Worte und Sonntagsreden verlassen dürfe. „‚Nie wieder‘ wird es nicht geben, wenn wir das Problem nicht ernst nehmen und Maßnahmen ergreifen. Deshalb wiederholen wir unseren Appell an Politik und Sicherheitsbehörden, die Bekämpfung von Rassismus entschlossener anzugehen“, so Altaş weiter.
Auch der Koordinationsrat der Muslime (KRM) gedenkte am heutigen Tag an die Opfer der Terrortat. „Wir gedenken der Opfer des rechtsextremistischen und Islamfeindlichen Terrors von Christchurch. Der Terrorist, der sein Massaker live aufgenommen und gleichzeitig im Internet veröffentlicht hat, hat das gesamte Ausmaß des Hasses und der Hetze, wie auch die unsägliche Gewalt und den Terror gegen den Islam und die Muslime zur Schau gestellt und somit eine neue Dimension der Entmenschlichung der Opfer angestrebt“, hieß es in einer Mitteilung des KRM. „Unsere Gebete sind nach wie vor mit den Opfern der Terrortat in Christchurch, wir fühlen mit ihren Familien mit und drücken hiermit unser herzlichstes Beileid aus.“ (dpa, iQ)