Vier Wochen nach dem Anschlag in Hanau fordert der Oberbürgermeister Claus Kaminsky stärkere Konzequenzen gegen Rassismus und Hass.
Es gibt deutsche Städte, die das kollektive Gedächtnis mit furchtbaren Verbrechen und Hass verbindet. In den 1990er Jahren waren es Mölln und Solingen – wegen Brandanschlägen von Neonazis auf türkische Familien. Zuletzt kam Wolfhagen in Nordhessen dazu – der Wohnort, an dem der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke mutmaßlich von einem Rechtsextremisten erschossen wurde. Dann Halle – wo ein hochbewaffneter Rechtsextremist im Oktober 2019 eine Synagoge stürmen wollte, um einen Mehrfachmord an Juden anzurichten. Und nun Hanau: Dort zeugt die traurige Realität vom Anschlag des 19. Februar. Am Ende gab es vor vier Wochen neun Tote mit Migrationshintergund zu beklagen.
Oberbürgermeister Claus Kaminsky (60) wirkt auch rund vier Wochen nach dem Attentat noch tief betroffen. „Das ist schmerzhaft und tut unendlich weh“, sagt er. Seit vielen Jahren engagiert er sich als Rathaus-Chef, Hanau in eine gute Zukunft zu führen. Doch seitdem ein 43 Jahre alter rechtsextremistischer Sportschütze an mehreren Tatorten Menschen mit Migrationshintergrund kaltblütig erschoss, auch seine Mutter tötete und sich selbst richtete, ist die Stadt im Schockzustand. Seither ist Kaminsky vor allem als Krisenmanager gefragt. Wenn man die veröffentlichte Meinung zugrunde legt, kann man ihm dabei, wie er es tut, wenig vorwerfen. Zumindest ist wenig Kritik zu vernehmen. Bislang hat Kaminsky die Aufgabe mit großem Feingefühl bewältigt. Er stellte vor allem die Angehörigen der Opfer in den Mittelpunkt seines Handelns und der Stadt.
Auch Kaminsky ist, wie viele andere Helfer um ihn herum, seit Wochen in einem emotionalen Ausnahmezustand. Wie es ihm geht? Das sei nicht von Belang, sagt er, als er sich trotz vollgepacktem Terminplan Zeit für ein Interview in seinem Büro nimmt. „Das sind die bittersten Tage für die Stadt Hanau in Friedenszeiten.“
Nach erster erfolgreicher Krisenbewältigung richtet Kaminsky den Blick nun auf die Ursachen und die Folgen des Anschlags. Ob Hanau ein Rassismusproblem hat? „Wir haben deutschlandweit, vielleicht sogar weltweit ein Rassismusproblem. Und das hat in den letzten Jahren zugenommen – und damit auch in Hanau. Aber Hanau hat kein besonders identifizierbares Rassismusproblem. Das glaube ich nicht.“
Die Vorsitzende des Ausländerbeirats der Stadt Hanau, Selma Yilmaz-Ilkhan, berichtet von wachsendem Rassismus. „Die Menschen fühlen sich in Hanau zu Hause, es gibt ein gutes Miteinander. Jedoch müssen wir auch erwähnen, dass auch wir in Hanau die bundesweite Entwicklung nach rechts spüren.“ In den vergangenen Jahren habe sie vermehrt Beschwerden und Ängste von Menschen mit Migrationshintergrund wegen Beschimpfungen auf der Straße zu hören bekommen.
Über das Klima in der Stadt sagt die Politik- und Sozialwissenschaftlerin Yilmaz-Ilkhan: „Dieses Attentat hat tiefe Wunden verursacht.“ Die Menschen hätten Angst und fragten sich, wie es passieren könne, dass unschuldige junge Leute ermordet wurden.
In dem Zusammenhang regt Kaminsky an, bundesweit über eine Verschärfung des Waffenrechts nachzudenken. „Mir leuchtet nicht ein, weswegen Sportschützen ihre Waffen nicht in den Vereinen sicher aufbewahren, wo sie auch schießen. Aus meiner Sicht würde das zu einer deutlichen Minimierung des Risikos führen. Mir reichen die bisherigen Regelungen nicht aus.“ Unterstützung bekam er dazu von Bundesratspräsident Dietmar Woidke (SPD). Er sagte bei der zentralen Trauerfeier in Hanau: „Ich frage mich, wieso Sportschützen Waffen zu Hause haben müssen. Das kann man durchaus mal diskutieren.“
Woidke appellierte: „Wir dürfen nach Hanau nicht schnell wieder zur Tagesordnung übergehen. Das ist nach den NSU-Morden aus meiner Sicht viel zu schnell passiert.“ Nach Ansicht von Kaminsky ist nun gesellschaftliches und vor allem politisches Engagement nötig. Der Staat müsse zum Beispiel mehr Stärke zeigen im Kampf gegen Hasskommentare im Internet. „Die Bemühungen gegen Hasskriminalität vorzugehen, sind absolut unzureichend in Deutschland. Ich würde gern mal erleben, dass Menschen, die so etwas verbreiten, in Prozessen verurteilt werden – und lieber ein Jahr mehr als ein Jahr weniger.“
Kaminsky sagte, er vermisse eine konsequente Verfolgung von Hass-Kommentaren im Netz, bei denen Menschen etwa mit dem Tode bedroht oder übel beschimpft werden. Die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) in Frankfurt hat nach dem Anschlag mehr als 80 Verfahren wegen befürwortender Hass-Kommentare eingeleitet.
Vor allem die rechtsextremistische Hasskriminalität in den sozialen Netzwerken macht Kaminsky Sorgen. „Sie versetzt Menschen in Angst und Schrecken. Ein Staat, in dem das möglich ist und der nicht in der Lage ist, dies zu unterbinden, der ist für mich keine wehrhafte Demokratie. Was dort verbreitet wird, hat für mich nichts mit freier Meinungsäußerung zu tun. Hass ist keine Meinung.“ (dpa/iQ)