Corona-Virus

Seuchenpanik: Vom dünnen Lack der Zivilisation

In Zeiten des Corona-Virus offenbart sich die Schattenseite der Menschen. Was das für Folgen haben kann und welche Verantwortung hier Muslime haben, schreibt Kerim Edipoğlu.

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03
2020
Virus Symbolbild: Seuchenpanik Corona-Virus
Symbolbild: Seuchenpanik Corona-Virus © Shutterstock, bearbeitet by iQ.

Existenzielle Prüfungen bedrohen nicht nur Menschenleben, sondern auch Wertesysteme. Sie kratzen am dünnen Lack der Zivilisation. Zwischen gelassener Rationalität und Zivilisationsbrüchen verläuft eine hauchdünne Linie. Die ersten Anzeichen von Massenhysterie und Panik laden den Menschen aber auch ein, sein individuelles Handeln und sein Selbstbild zu hinterfragen.

Seuchen und Pandemien zur Zeit des Propheten

Seuchen gab es auch zur Zeit des Propheten Muhammad (s). Damals waren es Pandemien, die in ihrem Verlauf weitaus erschreckender waren als alles, was wir uns heute vorstellen können. Pestausbrüche: Wenn sie nahten, starben ganze Landstriche in wenigen Wochen aus. Oftmals wussten die Menschen nicht im Geringsten, wie sie damit umgehen sollten; nicht überall war das Wissen über die Mechanismen von Ansteckung, Übertragung und Hygiene verbreitet. Der Prophet warnte davor, sich an einen Ort zu begeben, an dem eine Seuche ausgebrochen war. Genauso aber ermahnte er seine Anhänger, diesen Ort nicht mehr zu verlassen, da man die Seuche ansonsten in die Welt tragen würde.

Situationen wie diese sind sicherlich eine existenzielle Prüfung, die den Menschen als Ganzes fordert. Wer in einer solchen Situation standhaft und emotionskontrolliert reagiert, hat einen beneidenswert hohen Rang in Geduld und Gottvertrauen erlangt.

Wie passend, dass der Prophet jemandem, der hier richtig handelt und dabei möglicherweise sein Leben verliert, den Lohn eines Schahîds, eines Märtyrers, verspricht. Warum bloß dieser Zusammenhang? Ist der Grund schlicht, weil so jemand unschuldig verstorben ist?

Schahîd bedeutet „Zeuge“. Jemand, der die Wahrheit bezeugt und dafür bereit ist, sogar sein Leben zu lassen. Und in einer solchen Situation befindet sich derjenige, der in einer Stadt eingeschlossen von einer ansteckenden Krankheit erfasst wurde. Soll er nur an seine eigene Rettung denken und die Stadt verlassen in der trügerischen Hoffnung, irgendwo Heilung zu finden? Eine gewisse Chance darauf mag es geben. Aber mit größerer Wahrscheinlichkeit wird er andere anstecken und mit sich ins Verderben reißen. Wer dennoch in tiefer Ergebenheit ausharrt, der hat begreiflicherweise den Lohn eines wahrhaftigen Zeugen verdient.

Auch die Prophetengefährten mussten später Seuchen erleben. Bekannt ist die Seuche von Amwas/Syrien, die in der Regierungszeit von Umar (r) ca. 638-39 wütete. Berühmte Prophetengefährten verstarben daran: Muaz ibn Dschabal (r), Abû Ubayda ibn al-Dscharrah (r).

Die hypersensible Gesellschaft

Und was hat das mit uns zu tun? Alles was wir erleben, ist im Vergleich zu den Pestausbrüchen früherer Jahrhunderte und auch zur Spanischen Grippe nach dem 1. Weltkrieg, an der zwischen 25 und 50 Millionen Menschen weltweit starben, weitaus kontrollierbarer und rationaler nachzuvollziehen. Behörden überwachen Bevölkerungsverschiebungen, Menschen werden im Minutentakt aufgeklärt – aber auch verstört und verunsichert –, Statistiken erlauben gewisse Vorhersagen – neben vielen Fake-News. Man ist nicht allein gelassen wie früher.

Doch wie verhalten sich die am Tropf der sozialen Medien hängenden Großstädter – eine nervöse und hypersensible Gesellschaft, die bei kleinsten Vibrationen in Panikattacken verfällt? Einfache Bürger reagieren, wie man es sonst nur von rechtsradikalen Verschwörungspreppern erwartet hätte: Man stapelt, man hortet, man schubst sich in den Supermärkten und hetzt sich mit WhatsApp-Nachrichten regelrecht auf. Und das, wo die Grundversorgung bis jetzt durchwegs gewährleistet ist! Wie wird sich die Lage gestalten, wenn tatsächlich Lebensmittelversorgungsengpässe auftreten? Bricht sich dann das Monster im Menschen Bahn? Werden sich lokale Bürgerwehren bilden, um Konservendosen zu verteidigen und Transporte zu überfallen?

Corona-Panik: Es ist genug für alle da

Ruhe bewahren, und die Bestimmung des Schöpfers bezeugen, das ist die einzige Versicherung gegen grundlose Panik. Dass hier keinem Fatalismus das Wort geredet wird, dürfte klar sein. Wer aktiv sein kann, der muss seine Aufgaben in der Gesellschaft erfüllen: ob in der Forschung, der Logistik, der Bildung, der Verwaltung. Doch die wichtigste und gleichzeitig einfachste Aufgabe für den einzelnen Menschen ist es, Ruhe zu bewahren und Zuversicht auszustrahlen. Oder was sollte der Îmân sonst bewirken? Die Grundlage des Wortes ist nun mal Amn/Amniyya: Sicherheit. Wer in Krisensituationen etwas von Îmân, Stabilität und Vertrauen in die Gesellschaft ausstrahlt, hat für die aufgepeitschten Gemüter der Großstädter mehr getan als alle, die unkontrolliert jede Verschwörungstheorie über die sozialen Medien weiterleiten.

Dass jemand in einer Wohlstandsgesellschaft das Doppelte oder Dreifache an Vorrat kauft fällt nicht unbedingt ins Gewicht. Allein deswegen werden die Menschen morgen nicht an Engpässen leiden. Nicht wenn ein einzelner dies tut. Doch sein Vorbild strahlt aus: Und das ist der wahre Virus, der die Gesellschaft zersetzt. „Wenn du dich nicht schämst, so tun was du willst“ – so heißt es in der Hadith-Überlieferung bei Buhârî. Jeder möge nun selbst entscheiden, wie er sich beim Einkaufen verhält. Ausreden mag er sich mit Leichtigkeit zusammenzaubern. Doch kann er noch in den Spiegel schauen? In Situationen der Panik sind es die kleinen Taten, die zählen: Weniger einschichten, sich bescheiden zurückhalten und ein Lächeln der Zuversicht verbreiten – es ist genug für alle da.

Wer Angst sät…

Wenn in den alltäglichen Mikrohandlungen menschliche Werte mit Füßen getreten werden, braucht man sich nicht wundern, wenn nach dem Ende der Corona-Pandemie die Bürgerrechte weiter eingeschränkt werden und in einer Atmosphäre der Angst und des Misstrauens autoritären Tendenzen Vorschub geleistet wird. Wer Angst (mit)sät, wird mehr Kontrolle und Ausgrenzung ernten.

Leserkommentare

Ethiker sagt:
Ganz klare Analyse sowie folgerichtige Beobachtungen. Hypernsensibel heute sind Menschen dann, wenn es um die Einwirkung und Durchsetzung eigener Interessen geht. Je mehr möglich ist, desto aggressiver wird es durchgesetzt. Man kann auch hier Folgen einer Neoliberalen Politik in den praktischen Handlungen der Menschen erkennen. Der Einzelne im Kampf um das eigene Ich und der eigenen Gruppe. Die Reflektion bleibt gefangen in der neoliberlaen Erwartung, die mehr Hypersensibilität erzeugt als zusammenhängendes Denken, Wahrnehmen und Urteilen, mit all seinen negativen Konsequenzen. "Wer Angst (mit)sät, wird mehr Kontrolle und Ausgrenzung ernten."
30.03.20
0:36
Dilaver Çelik sagt:
Wenn Gott will, schickt er einen Virus, so dass die Menschen gezwungen sind, zu Hause zu bleiben. Sogar in einem christlichen Gebet heißt es "Dein Wille geschehe" in einem Satz. Die aktuelle Krise ist eine große Gelegenheit, zur Besinnung zu kommen. Wer weiterhin gegen den Islam und gegen Muslime hetzt, der hat aus der Corona-Krise leider nichts gelernt.
31.03.20
23:23
grege sagt:
oder gegen Christen, Juden oder Kurden hetzt
01.04.20
21:13