Ramadan-Briefe

„Jetzt ist mir bewusst, was Ramadan wirklich bedeutet“

Ramadan ist für viele Muslime eine Zeit der Gemeinschaft und Nähe. Wegen Corona heißt es dieses Jahr jedoch: Abstand halten. IslamiQ-Leser halten ihre Gefühle in Ramadan-Briefen fest. Heute Hümeyra Çağlayan-Korkmaz an ihre Mutter.

18
05
2020
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Ramadan-Briefe
Ramadan-Briefe © Hatice Başkaya, bearbeitet by iQ

Liebe Mama,

Erinnerungen in mir erwachen wieder einmal. Ich sehe dich noch vor mir, wie du voller Hektik und Eile das Iftar-Mahl für die Familie zubereitest. Ein täglicher Wettkampf gegen die Sonne im Ramadan, während der Rest der Familie die letzten Minuten kaum aushalten kann. 

„Nur noch fünf Minuten!“, ruft meine kleine Schwester im Nebenzimmer, und du versuchst noch schnell den Tisch zu decken. Deine Anstrengung und Aufopferung für die Familie ist bewundernswert. Es ist die Geduld und die Kraft, die dich auszeichnen. Manchmal frage ich mich, ob alle Mütter so sind. Jede Ecke und jeder Winkel unserer Wohnung duftet nach deinem Essen. 

Momente vergehen, doch Erinnerungen bleiben. Wir alle stehen ungeduldig vor der Uhr an der Wand im Wohnzimmer, während die Sonne am Horizont verschwindet und es so langsam dunkel wird. Noch heute ertönt der Klang deiner Stimme in meinen Ohren, wie du uns einzeln nacheinander zum Esstisch rufst. Das familiäre Beisammensein und die gemeinsamen Mahlzeiten waren schon längst zu einem Ritual geworden.

 Endlich ist der Gebetsruf von unserer Uhr an der Wand zu hören. „Bismillah“ in aller Munde, und das Fasten war gebrochen. So erinnert mich jeder Sonnenuntergang daran, dass ein Ende auch schön sein kann. Nur du, Mama, konntest kaum etwas essen. Die Erschöpfung war dir förmlich ins Gesicht geschrieben. Im selben Augenblick strahlte Freude aus deinen Augen, als du uns alle am Tisch beisammen sahst. 

Dieses Jahr ist der Ramadan anders. Es ist ein Ramadan in sozialer Isolation. Diese ohrenbetäubende Stille am Esstisch gefällt mir nicht, Mama. Nicht ohne Grund wird gesagt, dass man etwas erst dann schätzt, wenn es verloren geht. Ich sehne mich heute auch nach den freiwilligen Nachtgebeten in der Gemeinschaft mit euch. Jetzt ist mir bewusst, was Ramadan wirklich bedeutet. Ramadan bedeutet Familie. Ramadan bedeutet, sein Brot mit anderen zu teilen. Ramadan bedeutet, Dankbarkeit zu zeigen. Ramadan bedeutet, halb wach die letzte Mahlzeit vor Sonnenaufgang zu sich nehmen. Ramadan bedeutet „wir“, Mama. Ein Ramadan ohne Familie ist wie ein Boot ohne Segel.

PS: Wir rufen unsere Leserinnen und Leser dazu auf, ebenfalls einen Ramadan-Brief zu schreiben und diesen an info@islamiq.de zu schicken.