Elf Jahre nach dem Mord an Marwa El-Sherbini ist Islamfeindlichkeit ein großes Problem in Deutschland. Die Historikerin und Rassismusforscherin Dr. Yasemin Shooman spricht im IslamiQ-Interview über die Lehren und Folgen dieser Tat.
IslamiQ: Am 1. Juli jährt sich der rassistische Mord an der Dresdner Apothekerin Marwa El-Sherbini zum elften Mal. Was bedeutet dieses Datum für Sie?
Dr. Yasemin Shooman: Marwa wäre heute 43 Jahre alt, ihr ungeborenes Kind, mit dem sie schwanger war, wäre ein Teenager. Der Mord hat gezeigt, dass antimuslimischer Rassismus – wie andere Formen des Rassismus auch – tödlich sein kann.
IslamiQ: Haben wir als Gesellschaft aus dieser Tat gelernt?
Dr. Shooman: Zum Teil schon. Ich habe seinerzeit mit meiner Kollegin Iman Attia die mediale Rezeption des Mordfalls in Zeitungen und in Internetblogs untersucht. Damals wurde die Tat zunächst als tragische Eskalation eines Spielplatzstreits missdeutet. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis das Motiv überhaupt erkannt und benannt wurde: der Hass auf Muslime. Heute ist es leichter, dieses Phänomen zu adressieren, auch wenn viele weiterhin leugnen, dass es existiert, oder es zumindest relativieren und verharmlosen.
IslamiQ: Der 1. Juli wird unter Muslimen seit Jahren als Tag des antimuslimischen Rassismus begangen. In der Mehrheitsgesellschaft ist dies aber noch nicht angekommen. Was ist nötig, um diesen Tag in der Breite zu etablieren?
Dr. Shooman: Um antimuslimischen Rassismus zu bekämpfen müssen Muslime mehr Bündnisse und Allianzen mit anderen von Rassismus betroffenen Gruppen eingehen. Dann wird es ihnen auch gelingen, dass das Thema und dieser Tag mehr Aufmerksamkeit erhalten.
IslamiQ: Wie beurteilen Sie muslimische Aktionen im Hinblick auf solche Taten?
Dr. Shooman: Um glaubwürdig Allianzen und Bündnisse mit anderen Gruppen eingehen zu können, müssen Muslime auch bereit sein, eigene Ressentiments kritisch zu reflektieren. Auch unter Muslimen gibt es Rassismus, etwa gegen Schwarze, Sinti und Roma oder Kurden. Am Sklavenhandel in Afrika waren ja zum Beispiel nicht nur christliche Europäer, sondern auch Muslime beteiligt. Unterdrückung nationaler Minderheiten im Nahen Osten wie die Kurden haben eher moderne, nationalistische Ursprünge. Vorurteile gegen religiöse Minderheiten wie Jesiden, Aleviten oder Bahaì und deren Verfolgung werden dagegen religiös begründet und reichen Jahrhunderte zurück. All diese Dinge sollten aufgearbeitet und hinterfragt werden. Das ist immer ein schwieriger Prozess, aber er schafft die Grundlage für echte Solidarität untereinander.
IslamiQ: Kann gesagt werden, dass Deutschland ein Problem mit Islamfeindlichkeit hat?
Dr. Shooman: Ja, eindeutig. Laut aktuellen Zahlen der Bundesregierung wird im Schnitt jeden zweiten Tag eine Moschee bzw. andere religiöse Einrichtungen oder ein religiöser Repräsentant islamfeindlich angegriffen. Frauen, die ein Kopftuch tragen und deshalb als Musliminnen besonders sichtbar sind, berichten davon, dass sie auf der Straße beleidigt und angespuckt werden, immer wieder kommt es auch zu gewalttätigen Übergriffen. Deshalb halte ich es für einen richtigen Schritt, dass der Innenminister einen unabhängigen Expertenkreis einrichten wird, um antimuslimischem Rassismus entgegenzuwirken.
IslamiQ: Was muss getan werden, damit das Problem „Islamfeindlichkeit“ gelöst werden kann? Gibt es überhaupt eine endgültige Lösung?
Dr. Shooman: Einfach „lösen“ lässt sich das Problem nicht. Die Frage ist, warum sich Menschen solcher Feindbilder bedienen. Wenn man nicht nach den Ursachen sucht, kommt man nicht weit. Wenn man nur die Symptome bekämpft besteht die Gefahr, dass Menschen bloß ein Feindbild gegen ein anderes austauschen. Aber wenn sich Ressentiments und Gewalt statt gegen Muslime gegen andere marginalisierte Gruppen richten, ist wenig gewonnen.
IslamiQ: Nach dem Anschlag in Hanau wurde ein Kabinettsausschuss für Rechtsextremismus und Rassismus gegründet. Was erhoffen Sie sich von diesem Ausschuss?
Dr. Shooman: Es ist ein wichtiges Signal an die Betroffenen, dass die Bundesregierung den Ernst der Lage erkannt hat. Er soll konkrete Maßnahmen gegen Rechtsextremismus erarbeiten, der unsere Sicherheit derzeit am meisten bedroht, wie Innenminister Horst Seehofer sagte. Das Ziel muss aber nicht nur sein, rechte Gewalt wirkungsvoll zu bekämpfen, sondern auch den Rassismus in der sogenannten Mitte der Gesellschaft und seine strukturellen Aspekte mit einer langfristigen Strategie anzugehen. Wichtig wäre, dass nicht nur bereits existierende Maßnahmen in einem Bericht für die Schublade zusammengefasst werden, sondern dass die Politik bei den Betroffenen, der Zivilgesellschaft und natürlich auch der Wissenschaft ernsthaft erfragt, wo die großen Baustellen sind. An seinen Erfolgen wird man diesen Ausschuss messen müssen.
Das Interview führte Muhammed Suiçmez.