Muhamed Duraković, Organisator des alljährlichen Friedensmarsch „Marš Mira“, hat den Völkermord in Srebrenica überlebt. Im IslamiQ-Interview spricht er über die Folgen von Srebrenica und die aktuelle Lage im Land.
IslamiQ: Sie haben den Völkermord von Srebrenica überlebt. 25 Jahre sind seitdem vergangen. Ist das genug Zeit, damit Wunden heilen können?
Muhamed Duraković: Der Bosnienkrieg war der blutigste Angriff auf die Zivilbevölkerung seit dem Zweiten Weltkrieg. Die brutale Offensive der serbischen Armee und paramilitärischer Kräfte dauerte dreieinhalb Jahre. In dieser Zeit wurden zahlreiche Verbrechen gegen schutzlose Menschen, mehrheitlich bosnische Muslime, verübt.
Das Massaker von Srebrenica war kein Einzelfall, sondern nur der Höhepunkt einer ganzen Reihe von Grausamkeiten, die im ganzen Land verübt wurden. Srebrenica war Teil einer groß angelegten ethnischen Säuberung. Zehntausende Menschen, die von dem Genozid an den bosnischen Muslimen unmittelbar betroffen waren, leiden noch immer unter den traumatischen Ereignissen. Ich glaube nicht, dass sie jemals darüber hinwegkommen werden. Ihr Leben hat sich für immer verändert, viele leiden und sterben stumm.
IslamiQ: Wie werden die Gedenkveranstaltungen in diesem Jahr verlaufen, angesichts der Corona-Pandemie?
Duraković: Das Programm wurde geändert, um die von der Regierung aufgestellten Regeln einzuhalten. Nur engsten Familienangehörigen ist die Anwesenheit während der Beerdigungen gestattet. Auch die Teilnehmerzahl für den Friedensmarsch ist begrenzt worden. Die Veranstalter bemühen sich jedoch, den Gedenkveranstaltungen in Bosnien und im Ausland einen würdigen Rahmen zu geben. Damit alle Interessierten trotzdem teilnehmen können, werden viele Veranstaltungen zum allerersten Mal live im Fernsehen übertragen.
IslamiQ: 2019 erhielt Peter Handtke den Literaturnobelpreis. Handtke verleugnet den Völkermord von Srebrenica. Wie bewerten Sie es, dass serbischen Nationalisten und deren Unterstützern eine derartige Plattform geboten wird?
Duraković: Ich habe bisher nur selten über diese Angelegenheit gesprochen. Peter Handtke sympathisiert offen mit Milosevic relativiert den Völkermord. Die Verleihung des Nobelpreises an ihn wirkt sich negativ auf die Versöhnungsbestrebungen in Bosnien und unser Gedenken aus.
Dass die Nobel-Akademie ihre Entscheidung verteidigt hat, war ein Schlag ins Gesicht für der Opfervereinigungen. 25 Jahre lang haben sie für eine Anerkennung des Verbrechens gekämpft. Die Verleihung des Nobelpreises an Handtke hat diesen Bemühungen Schaden zugefügt. Die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen dürfen damit ganz offiziell verwischt werden.
Bei den Gedenkveranstaltungen geht es nicht nur ums Erinnern, sondern auch um eine Art Erziehung. Es ist traurig, dass sich Leugner wie Handtke nicht belehren lassen, auch nicht durch juristische Entscheidungen des UN-Kriegsverbrechertribunals, die sich auf DNA-Material aus den Massengräbern in Bosnien stützen. Wir müssen weiterhin arbeiten, bis jeder Mensch verstanden hat, wie wichtig die Wahrheit ist.
IslamiQ: In Srebrenica hat sich heute eine starke Erinnerungskultur herausgebildet. Menschen aus aller Welt kommen jedes Jahr in die Stadt, um am Friedensmarsch teilzunehmen oder am 11. Juli das Mahnmal zu besuchen. Wie bewerten Sie diese internationale Solidarität?
Duraković: Über die letzten 15 Jahre hinweg ist Mars Mira zu einer internationalen Bewegung herangewachsen. Ich freue mich sehr, dass so viele Menschen verschiedener Nationalitäten an diesem Event teilnehmen. Mars Mira bietet allen, unabhängig von ihrer Nationalität, Ethnie, Herkunft oder Religion die Möglichkeit, zu lernen, wie verletzlich unsere Gemeinschaften sind, wie viel Mühe es kostet, Frieden und gesellschaftliche Harmonie zu wahren.
IslamiQ: In einer Ihrer Reden weisen Sie darauf hin, dass die Serben ihren rassistischen Diskurs auf Stereotypen begründet haben. Sind diese Vorurteile immer noch präsent oder haben die Menschen aus der jüngsten Geschichte gelernt?
Duraković: In den letzten 25 Jahren habe ich mich mit meiner Arbeit vor allem darauf konzentriert, ein Bewusstsein für alle Arten von Diskriminierung zu schaffen. Ich wünschte sagen zu können, dass wir heute in einer toleranteren Gesellschaft leben, als noch vor 30 Jahren. Doch dieser Trend wurde durch den Aufstieg populistischer Bewegungen in Europa und weltweit teilweise umgekehrt. Einige behaupten, dass die Vorurteile gegen ethnische und religiöse Minderheiten heute stärker sind als jemals zuvor. Zudem gibt es seit etwa zehn Jahren einen starken revisionistischen Drang, der mit der Leugnung historischer Fakten, wie sie von bosnischen und internationalen Tribunalen bestätigt worden sind, einhergeht.
Für serbische Nationalisten sind die in Bosnien, vor allem in Srebrenica, begangenen Verbrechen, von größter Bedeutung. Es sind viele „Theorien“ im Umlauf, die z. B. besagen, dass sich die Bosnier untereinander bekämpft hätten, oder der Krieg von westlichen Regierungen angezettelt und finanziert worden sei. DNA-Analysen als wesentliches Instrument zur Identifizierung vermisster Personen aus Srebrenica machen es zunehmend schwierig, diese „Theorien“ aufrecht zu erhalten. Die serbische Führung in Serbien und Bosnien toleriert und fördert jedoch weiterhin die Entstehung immer neuer Verschwörungstheorien. Dadurch beraubt sie ihre eigenen Leute jeder Chance auf Versöhnung – eine grundlegende Voraussetzung für andauernden Frieden und Wohlstand auf dem Westbalkan.
IslamiQ: Ethnische Gruppen, die einmal massiver Gewalt ausgesetzt waren, entwickeln nach gängiger Auffassung ein Misstrauen gegen „die Anderen“. Sie ziehen sich zurück, isolieren sich. Gilt das auch für die Menschen in Srebrenica?
Duraković: Das ist etwas, was mich am bosnischen Volk fasziniert: Obwohl wir sehr gelitten haben, lehren uns unsere Kultur und unsere Lebensart Toleranz, Mitgefühl und Offenheit. Im Verlauf der Geschichte haben wir immer wieder religiöse und ethnische Minderheiten in unserer Mitte aufgenommen. Juden, die vor der spanischen Inquisition flohen, fanden eine neue Heimat in Bosnien. In der sogenannten Flüchtlingskrise fanden viele Menschen Zuflucht in diesem mehrheitlich muslimischen Land. Uns vom Rest der Welt zu isolieren würde bedeuten, unsere Lebensweise, unsere Identität aufzugeben. Das wird hoffentlich niemals geschehen.
IslamiQ: Angesicht des weltweiten Ausmaßes von rassistischer Gewalt: Was ist die wichtigste Lehre, die die Welt aus Srebrenica ziehen kann?
Duraković: Wenn Sie mich das 20 Jahre früher gefragt hätten, wäre meine Antwort wahrscheinlich optimistischer ausgefallen. Ich bin sehr besorgt über die jüngsten Entwicklungen. Obwohl zahlreiche Anstrengungen unternommen wurden, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, werden wir weltweit immer noch Zeugen von Gewalt und Diskriminierung gegen ethnische oder religiöse Minderheiten.
Wir müssen uns gemeinsam gegen Unrecht erheben. Dadurch schützen wir nicht nur die Rechte der Unterdrückten, sondern auch unsere eigenen. Die Opfer von Srebrenica sind eine Warnung für die Welt, wie schnell eine Gesellschaft – und zwar jede Gesellschaft! – auseinander brechen und in einen Teufelskreis der Gewalt geraten kann. Jeder von uns sollte sein Bestes tun, um Unrecht und Diskriminierung jeder Art zu bekämpfen und gleichzeitig Toleranz und Mitgefühl mit jedem Menschen zu stärken.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.