25 Jahre Srebrenica

„Wir kämpfen mit der Verleugnung der Vergangenheit“

Hasan Nuhanović ist Augenzeuge des Massakers von Srebrenica. Im IslamiQ-Interview spricht er über seinen Kampf für Gerechtigkeit und die Spannungen mit Serbien.

11
07
2020
Srebrenica Hasan Nuhanović über Srebrenica © Anadolu Images, bearbeitet by iQ
Hasan Nuhanović über Srebrenica © Anadolu Images, bearbeitet by iQ

IslamiQ: Sie haben diese Frage wahrscheinlich schon sehr oft gestellt bekommen, und wir alle wissen, was damals geschehen ist. Aber können Sie als Augenzeuge und Überlebender uns trotzdem berichten, was an jenem Tag in Srebrenica geschehen ist?

Hasan Nuhanović: Darüber zu sprechen, was mir widerfahren ist, ist eine traumatisierende Erfahrung für mich. Meine Familie und ich mussten wie tausende andere bosnische Muslime vor den bosnischen Serben und der serbischen Armee fliehen. Vom ersten Tag an war klar, dass sie die Bosniaken umbringen wollten. Ein Teil der bosnischen Bevölkerung wurde getötet, einige gefoltert und dann getötet, andere sofort deportiert. Man könnte fast sagen, das waren die, die Glück hatten. Frauen und Kinder hat man meistens deportiert, die Männer und Jungen ermordet. In meiner Heimatstadt wurden jedoch auch Frauen vergewaltigt und getötet. Teenager, noch keine achtzehn Jahre alt, wurden ermordet. Also sind wir geflohen.

An manchen Tagen töteten sie bis zu 1.000 Männer und Jungen. Sie ließen sie in Reihen antreten, verbanden ihnen die Augen, fesselten ihre Hände mit Stacheldraht auf den Rücken und erschossen sie mit Maschinengewehren. Dann holten sie Bulldozer, hoben Gräben aus und schoben die Körper in diese Massengräber. Einige Menschen waren schwer verletzt, lebten aber noch. Sie wurden lebendig begraben.

Die Niederländer haben meinen Vater vor meinen Augen den Serben übergeben. Weil ich als Übersetzer für die UN arbeitete, einen Vertrag und einen Identitätsausweis hatte, wiesen sie mich nicht aus. So habe ich überlebt. Aber meine Familie wurde getötet. Mein Bruder war 23 Jahre alt, ich 27. Das Morden dauerte von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends, acht Stunden lang. Sie ließen welche antreten, erschossen sie, führten weitere vor und erschossen auch sie. Acht Stunden lang. So starben mein Vater und mein Bruder. Meine Mutter wurde an einem anderen Ort getötet.

IslamiQ: Aus diesem Grund haben Sie 2008 die Niederlande vor einem Zivilgericht verklagt und 2013 Recht bekommen. Was bedeutet dieser juristische Sieg für Sie. Können andere nun auch auf Gerechtigkeit hoffen?

Nuhanović: In meinem Fall hat das Gericht entschieden, dass die Niederländer Verantwortung tragen, nicht nur am Tod meiner Familie, sondern auch an dem von 700 weiteren Opfern innerhalb der Basis. Neben meinem gab es da auch noch einen anderen Fall, der völkerrechtlich sehr bedeutsam ist.

IslamiQ: Tragen die Niederländer die alleinige Verantwortung? Was ist mit anderen Entscheidungsträgern in den Vereinten Nationen? Sie müssen doch etwas gewusst haben.

Nuhanović: Natürlich, sie wussten ganz genau, was geschehen würde. Die UN waren mit mehreren tausend Mann in Bosnien stationiert, nicht nur auf dem Posten in Srebrenica. Es gab Briten, Franzosen, Spanier, Truppen aus dem Nahen Osten, Ägypter zum Beispiel. Außerdem afrikanische und asiatische Truppen. Die UN waren im Land, sie hatten hier eine Mission. Der Kommandeur in Bosnien kam aus England, der in Zagreb aus Frankreich. Sie hätten den Völkermord verhindern können, taten es aber nicht.

IslamiQ: Als die niederländischen Truppen Srebrenica verließen, gelangten Sie mit ihnen bis Zagreb. Die Kommandeure wollen nichts gewusst haben.

 Nuhanović: Das haben sie behauptet, aber wer war denn da, als es passierte? Natürlich wussten sie bescheid!

IslamiQ: Haben Sie etwas über das Schicksal Ihrer Familie herausfinden können?

Nuhanović: Nein. Nur die Serben wissen, wo sie ihre Körper verscharrt haben. Wie kann man denn etwas herausfinden, wenn die Serben binnen weniger Tage tausende von Menschen töten. Achttausend Menschen in ein paar Tagen, da finden Sie nichts heraus, außer die Serben sagen es Ihnen. Es hat Jahre gedauert, bis ich etwas in Erfahrung bringen konnte, aber was wirklich geschehen ist, werde ich wohl nie herausfinden. Nur durch DNA-Analysen kann man die Körper noch identifizieren. Nur dank dieser Testverfahren können wir die Opfer identifizieren und in Potočari bestatten.

IslamiQ: In einem Urteil von 2019 kam das oberste Gericht der Niederlande zu dem Schluss, dass der niederländische Staat nur zu zehn Prozent für den Tod von 350 Menschen verantwortlich sei.

Nuhanović: Ich verstehe nicht, was das heißen soll. In Bezug auf menschliches Leben habe ich noch nie von solchen Prozentwerten gehört. Da gibt es nur 100 oder null Prozent. Entweder sind Sie am Leben oder Tod. Was zehn Prozent in diesem Zusammenhang sein sollen, weiß ich nicht.

IslamiQ: Sie habe sich aktiv für Gerechtigkeit eingesetzt. Hat sich Ihr Kampf ausgezahlt?

Nuhanović: Der Kampf des bosnischen Volkes ist noch nicht vorbei, also auch meiner nicht. Es gibt eine ganz direkte, offene Bedrohung. Ein hochrangiger Politiker der Republika Srpska verkündet seit zehn Jahren beinahe wöchentlich, dass die Republik früher oder später an Serbien angeschlossen wird. Er ist da in gewisser Weise auf Linie mit den serbischen Behörden. Das ist einer der Kämpfe, die unser Land 25 Jahre nach Srebrenica ausficht. Die Bedrohung für uns Bosnier, unser Land, unseren Boden zu verlieren, ist nach wie vor präsent.

IslamiQ: Die serbische Regierung leugnet das Massaker weiterhin. Straßen und Schulen werden nach verurteilten Kriegsverbrechern benannt. In einem Interview haben Sie gesagt, dass Sie mit einem Mann im selben Gebäude arbeiten, der an dem Mord an Ihrer Mutter beteiligt war. Wie ist es für die Bosnier überhaupt möglich, eine echte Beziehung zu ihren Nachbarn, ihren Kollegen aufzubauen?

Nuhanović: Ich weiß es nicht. Es gibt Leute, die in mehrheitlich von Serben bewohnten Regionen leben. Diese Regionen waren einmal gemischt, heute leben hier meistens Serben. Und ein paar bosnische Muslime. Wie sie damit zurechtkommen, müssen Sie sie selbst fragen, ich weiß es nicht. Ich könnte dort nicht leben. Ich fahre da manchmal hin, bleibe einen, zwei Tage, übers Wochenende. Aber dort leben? Nicht nach dem, was meiner Familie angetan wurde. Trotzdem haben wir keine Wahl. Wir haben nur dieses Land. Die drei ethnischen Gruppen haben tausend Jahre miteinander gelebt, eigentlich ist das kein Problem. Das Problem sind die Kriegsverbrecher, die immer noch unter uns sind.

IslamiQ: Gab es bereits vor dem Krieg Spannungen zwischen Bosniern und Serben?

Nuhanović: In Jugoslawien, zu Zeiten Titos, gab es diese Art von Spannungen nicht. Das Leben verlief normal, würde ich sagen. Erst in den Achtzigern fing es an, zuerst mit Milosevic in Belgrad, dann mit Politikern, die in anderen Teilen Jugoslawiens an die Macht kamen.

IslamiQ: Oft wird behauptet, ethnische Gruppen, die Opfer massiver Gewalt geworden sind, würden das Vertrauen in „die Anderen“ verlieren, sich zurückziehen und isolieren. Trifft das auf die bosnisch muslimische Gesellschaft zu?

Nuhanović: Wir kämpfen mit der Verleugnung der Vergangenheit, aber auch mit den Aussichten für die Zukunft, die durchaus beunruhigend und problematisch sind. Da gibt es ja wie gesagt die Ankündigung, die Hälfte des Landes an Serbien anzuschließen. Damit hätten die Serben erreicht, was sie vor 25 Jahren begonnen haben. Ich sage nicht, dass das wirklich geschehen wird, aber die Bedrohung steht im Raum. Bosnische Muslime haben einmal über das ganze Land verteilt gelebt. Aktuell sind es nicht einmal 25 Prozent des Landes.

Das Interview führte Meltem Kural.

Leserkommentare

grege sagt:
Ratko Mladic hat das Massaker von Srebrenica mit Verweis auf die angebliche Unterdrückung der Serben durch die Osmanen im 19. Jahrhundert gerechtfertigt. Einmal mehr haben sich die Gefahren eines kruden Opferverständnisses bewahrheitet. Wer sich immer nur als Opfer sieht sowie eigene Misstände und Fehler beharrlich ignoriert oder als Ausgeburt von Verschwörungstheorien abtut, schafft das nächste Srebrenica.
23.07.20
19:07