Kindergärten

„Gemeinsame Mahlzeiten verbinden und stiften Gemeinschaft“

Religiöse Speisevorschriften spielen für viele Muslime eine wichtige Rolle. Auch im Kindergarten. Im IslamiQ-Interview spricht Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Paula Schrode über Halal-Ernährung im Kindergarten.

15
08
2020
Gemeinschaft Halal-Ernährung
Gemeinschaft Halal-Ernährung

IslamiQ: Stichwort Halal-Ernährung. Worum geht es hierbei?

Prof. Schrode: Bei Halal-Ernährung geht es zum einen um Substanzen wie Alkohol oder Schweinefleisch, zum anderen aber auch um den Herstellungsweg von Lebensmitteln, insbesondere in Hinblick auf die Schlachtung. Im Umgang damit gibt es natürlich eine große Bandbreite: angefangen von Muslimen, die ausschließlich Schweinefleisch meiden, bis hin zu einer umfassenden Halal-Industrie, die Garantien für unterschiedlichste Fertigprodukte bietet.

IslamiQ: Was macht die „Halal-Industrie“ so umfassend bzw. komplex?

Prof. Schrode: Am komplexesten sind sicherlich die vielen Fragen, die sich aus den – eigentlich einfachen – Schlachtvorschriften ergeben. Viele Muslime greifen hier vorzugsweise auf die „sicherste“ Variante zurück, indem sie nur zertifizierte Produkte kaufen. Allerdings ist die Vielfalt der Zertifikate wiederum ein Thema für sich: Längst nicht alle Muslime erkennen alle Halal-Zertifikate an. Das hat viel damit zu tun, welchen Gelehrten oder Organisationen man vertraut.

Im Hintergrund steht letztlich meist die Frage, ob derjenige, der das Tier geschlachtet hat, Muslim ist und wer einem das garantieren kann. Zwar wird im Koran (Sure Mâida, 5:5) das Fleisch von Juden und Christen für erlaubt erklärt, doch wirft dies weitere Fragen auf: Weiß man denn, wer genau im Schlachthof arbeitet? Und selbst wenn der Schlachter Jude oder Christ ist, zählt dann nicht auch die Schlachttechnik, damit das Fleisch halal ist und nicht als „Aas“ (Mayta) gelten muss? Der Koran setzt sich von den komplizierten Reinheitsregeln in der jüdischen Tradition ab und verspricht Einfachheit. In der Praxis ist Halal-Ernährung aber ein Thema, das vor allem Muslime in nichtmuslimisch geprägten Gesellschaften als ziemlich komplex erleben.

IslamiQ: Das gilt für Erwachsene. Wie gehen muslimische Kinder mit dem Thema Halal-Ernährung um?

Prof. Schrode: Natürlich sind die religiösen Bedürfnisse von Erwachsenen nicht mit denen von Kindern gleichzusetzen. Dadurch entstehen auch Spannungen – vielleicht gibt es im islamischen Recht Ansätze, wie man diese auflösen kann, das ist mir allerdings nicht bekannt.

Für viele erwachsene Muslime ist das Bemühen um islamkonforme Ernährung ein wichtiger Teil der eigenen Religiosität. Aber während Kinder zum Beispiel das Beten schnell spielerisch nachahmen, ist der Bereich der Ernährung wesentlich komplizierter. Kinder orientieren sich zwar stark an ihren Eltern, aber die Speisevorschriften sind relativ abstrakt. Außerdem treffen Kinder von klein auf auch spontane, eigene Entscheidungen, bei denen sie sich bewusst oder unbewusst vom Vorbild der Eltern absetzen. Das ist völlig normal, aber für Eltern wird es schwierig, damit umzugehen, wenn sie glauben, dass ihre Kinder auf diese Weise zentrale religiöse Gebote verletzen könnten.

IslamiQ: Wie gehen die Eltern damit um?

Prof. Schrode: Oft spüren sie einen großen Druck, Bereiche wie das Essen außer Haus für ihre Kinder zu kontrollieren. Die einfachste Lösung ist es natürlich, die Verantwortung auf andere Erwachsene zu übertragen, etwa auf Erzieherinnen und Erzieher. Gleichzeitig versuchen Eltern aber auch, das Verhalten und Bewusstsein der Kinder selbst zu beeinflussen.

Problematisch wird es, wenn Eltern ihre Kinder zum Beispiel davor warnen, dass Schweinefleisch den Charakter verderben würde: Die Kinder beginnen dann unter Umständen, solche Vorstellungen auf ihre nichtmuslimischen Spielkameraden zu übertragen.

IslamiQ: Welche Rolle spielt die Halal-Ernährung in der Kita in Bezug auf die psychosoziale Entwicklung eines muslimischen Kindes?

Prof. Schrode: Essen stellt ganz zentral Identität her. Gemeinsames Essen und das Teilen von Essen sind grundlegende soziale Erfahrungen. Man wird dadurch Teil einer Gruppe. Und wenn Kinder nur mit bestimmten anderen Kindern Essen teilen dürfen, entstehen in den Köpfen automatisch Grenzen zwischen den Gruppen. Das kann seitens mancher Eltern erwünscht sein, um bei Kindern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, zu den „Muslimen“ zu gehören, es kann aber auch zu problematischen Entwicklungen führen. Sinnvoll wäre es, in einer Kita den Speiseplan so zu gestalten, dass es regelmäßig auch Mahlzeiten gibt, von denen alle Kinder gemeinsam essen können.

IslamiQ: Eine vegetarische Ernährung wäre doch die Lösung, oder?

Prof. Schrode: Die zunehmende Vielfalt von Speisephilosophien in unserer Gesellschaft führt nach meiner Beobachtung tatsächlich immer häufiger zu pragmatischen Lösungen, so dass man zum Beispiel ein komplett vegetarisches oder veganes Buffet anbietet – je weniger tierische Bestandteile verarbeitet werden, umso unkomplizierter ist es meist. Verstärkt durch die Klimaschutzbewegung beobachten wir ja auch einen starken kulturellen Wandel: Vegetarisches oder veganes Essen wird heute nicht mehr als unvollständig oder sparsam wahrgenommen, sondern als umweltbewusst und hochwertig.

Fleisch könnte eines Tages als Luxusprodukt betrachtet werden, das in einer Kita vielleicht nur einmal in der Woche auf dem Speiseplan steht – begleitet natürlich von einer vegetarischen Alternative. Im Moment dominiert aber in vielen Milieus noch die Vorstellung, dass zu einer Mahlzeit Fleisch gehört. Es gäbe jedoch nicht nur gute gesundheitliche und ökologische Gründe für mehr fleischfreie Tage, sondern auch soziale Gründe, denn gemeinsame Mahlzeiten verbinden und stiften Gemeinschaft.

IslamiQ: Manche Kitas sehen die Vielfalt von Speisevorschriften als Störfaktor. Was wäre Ihr Vorschlag in solch einem Fall?

Prof. Schrode: Heute treffen wohl in fast allen öffentlichen Einrichtungen unterschiedliche Diäten und Speisepraktiken aufeinander. Neben religiösen Besonderheiten gibt es ja auch diverse Unverträglichkeiten, und es gibt Familien, in denen aus gesundheitlichen oder ökologischen Gründen auf Fleisch, tierische Produkte oder Zucker verzichtet wird. Man kann von einer Kita sicher nicht erwarten, all diese Bedürfnisse in gleicher Weise zu berücksichtigen. Es sollte jedoch selbstverständlich sein, damit konstruktiv umzugehen und gemeinsam mit den Eltern pragmatische Ideen für einen möglichst integrativen Speiseplan zu entwickeln, der zumindest regelmäßig Gelegenheiten schafft, dass alle Kinder miteinander essen können.

Man sollte nicht auf einer „Sonderkost“ bestehen, sondern flexibel versuchen, möglichst unterschiedliche Bedürfnisse zusammenbringen. Dann erleben Kinder Mahlzeiten vor allem als gemeinschaftsstiftend und nicht als trennend.

Das Interview führte Meltem Kural.

Leserkommentare

Vera von Praunheim sagt:
Gemeinschaftsstiftende Mahlzeiten sind hier sinnvoller und wichtiger als vehementes Beharren auf religiös determinierten Speisevorschriften. Kindergärten können nicht ständig korankonforme Halal-Ernährung als trennendes Element willkommen heißen. Auch wenn das muslimische Milieus und Interessengruppen (Pressure Groups) immer wieder fordern. Das Thema 'islamische Sonderkost-Küche' war im Kindergarten meiner Kindheit völlig unbekannt. Und islamkonforme Kost jetzt 2020 in deutschen Kindergärten als "moderne, tolerante Errungenschaft" neu einführen zu wollen, erinnert mich eher an Willkür und an ein mittelalterliches Update - wie aus der Zeit gefallen. Tradition ist für mich etwas anderes.
15.08.20
15:27
Dilaver Çelik sagt:
Dass sich Essen auf den Charakter auswirkt, ist hinlänglich bekannt. Allerdings haben Kinder im Kindergartengartenalter nicht die nötige Reife, das beigebracht zu bekommen, weil Kinder in jenem Alter alles was sie von Erwachsenen beigebracht bekommen, als wahr erachten ohne die Kompetenz des Differenzierungsvermögens. Die Vermittlung von interkultureller Kompetenz ist deshalb schon in der frühen Kindheit wichtig, weil Erfahrungen in diesem Alter später das Leben als Erwachsener prägen. Hier sind insbesondere die Eltern und die ErzieherInnen gefragt.
16.08.20
15:35
Ute Fabel sagt:
"Die Vermittlung von interkultureller Kompetenz ist deshalb schon in der frühen Kindheit wichtig" Ich finde es ziemlich vermessen, wenn erzkonservative Moslems für ihre engstirnigen Ernährungsdogmen in Anspruch zu nehmen, damit die türkische, arabische oder persische Kultur zur repräsentieren. Ich kenne viele Türken, Araber und Iraner, die leidenschaftlich gerne Schweinbraten und Schweinsschnitzel essen und auch ihren Kindern diese Speisen nicht vorenthalten wollen.
21.08.20
12:54
Johannes Disch sagt:
"Vera von Praunheim" bringt es in ihrem Post (15.08.20, 15:27) prima auf den Punkt. Was diese Islamwissenschaftlerin als "interkulturelle Kompetenz" verkauft, das ist nichts anderes als ein Kotau vor islamischen Pressure Groups.. Typische links-grüne Multi-Kulti-Verirrung.
27.08.20
8:49
simonstylos sagt:
Speisevorschriften sind Bestandteil vieler Religionen, nicht nur des Islams. Auch Juden und Hindus beachten sie. Da in unserer Gesellschaft der Anteil von Kindern zunimmt, die auf Grund von Unverträglichkeiten Einiges nicht essen dürfen, wird natürlich in den Kindertagesstätten und Schulen die Herausforderung größer, was die Versorgung mit Essen anbelangt. Ich halte es für legitim, dass es gesellschaftliche Aushandlungsprozesse bzgl. der Speisen gibt, die in Institutionen angeboten werden. Meistens wird ja schon mit einer gewissen Vielfalt darauf reagiert, was ich gut finde, auch im Hinblick auf Vegetarier und Veganer. Ich finde übrigens die Ausführungen von Frau Schrode sehr differenziert und ausgewogen und habe nichts von einer "links-grünen-Multi-Kulti-Verirrung" bemerkt. Im Gegenteil: Sie zeigt ja auch die Schwierigkeiten und Grenzen auf. Vielen Dank für das sehr interessante Interview.
18.09.20
14:04