Das Buch des Münsteraner Theologen Mouhanad Khorchide, „Gottes falsche Anwälte“, ist umstritten. Unter anderem wurde es hier auf IslamiQ von Ali Mete rezensiert. Khorchide widerspricht der Kritik. Eine Replik.
Der islamischen Theologie, so wie ich ihre Rolle als Wissenschaft verstehe, geht es nicht um die Verkündigung von absoluten Wahrheiten. Als Wissenschaft arbeitet sie ergebnisoffen. Das Reflektieren über die Rolle der islamischen Theologie als Wissenschaft scheint dennoch zwischen den betroffenen Akteuren noch lange nicht abschließend diskutiert zu sein und sie gehört meines Erachtens daher noch viel stärker thematisiert. Ich versuche, dies in Form einer kurzen Replik auf die Besprechung meines Buches „Gottes falsche Anwälte“ durch Ali Mete hier auf IslamiQ.
Ali Mete führt in seinem Beitrag „Die Sache mit dem Islam“ das Argument an, dass das Buch „Gottes falsche Anwälte“ eine gewisse Enttraditionalisierung des Islams beinhalte, da es Teile der islamischen Tradition ausblenden würde. Er versucht dies anhand des Themas „Frauen als Imaminnen“ und des Themas „das Verstehen der koranischen Aussagen über Paradies und Hölle“ zu verdeutlichen. Aber genau diese Enttraditionalisierung werfe ich denjenigen vor, die meinen, es gäbe eine einzig wahre Auslegung des Islams und alles, was dieser widerspreche, läge außerhalb der islamischen Lehre. Ich möchte hier die beiden genannten Beispiele aufgreifen, um meine Kritik zu erklären.
Die Rezension von Ali Mete finden Sie hier: Die Sache mit dem Islam
Eine weitere Rezension von Prof. Dr. Thomas Bauer finden Sie hier: „Anders als politisch kann dieses Buch gar nicht diskutiert werden“
In Bezug auf die Frage nach der Rolle der Frau als Imamin verweise ich in meinem Buch auf mehrere anerkannte klassische muslimische Gelehrte, die kein Problem darin sahen, dass Frauen vor den Männern als Imaminnen beten. Diese Gelehrten, wie Ibn Taymiyya, berufen sich auf den Propheten Muhammad (s) selbst. Dieser habe einer Frau erlaubt, als Imamin vor den Männern zu beten. Nun meine kritische Rückfrage: Wieso werden diese Positionen aus der islamischen Tradition nicht rezipiert, ja zum Teil sogar verdrängt/verschwiegen? Sind sie nicht auch Teil der islamischen Tradition? Mir leuchtet nicht ein, warum die Rezeption solcher Positionen und Argumente aus der klassischen islamischen Theologie, die zum Teil auf den Propheten selbst zurückgehen, als eine Form der Enttraditionalisierung des Islams abgetan wird. Wer bestimmt, was Tradition ist und was nicht? Ist nicht alles, was in der islamischen Ideengeschichte gesagt/geschrieben wurde, unabhängig von deren Bewertung, Teil der islamischen Tradition, mit der wir Theologinnen und Theologen uns auseinanderzusetzen haben?
Dass das heutige Patriarchat aus der Tradition selektiert, um seine Sicht als die einzig richtige darzustellen, ist in meinen Augen eine Form der Enttraditionalisierung des Islams. Ich appelliere vielmehr dafür, auch im Sinne von Thomas Bauers Kultur der Ambiguität, die islamische Tradition in ihrer gesamten Breite und ganzen Fülle ernst zu nehmen, ohne einseitig und unreflektiert bestimmte Positionen als die einzig richtigen auszugeben. Thomas Bauer sieht in diesem Versuch des Vereindeutigens der islamischen Lehre eine moderne Erscheinung, die dem Islam fremd ist. Die islamische Tradition war nämlich stets vielfältig, in ihr existierten verschiedene, auch sich widersprechende Positionen nebeneinander. Das soll nicht heißen, dass alle Positionen aus der islamischen Tradition heute tragbar und vertretbar sind. Als Theologe muss man sich jedoch diskursiv mit allen Positionen und Argumenten auseinandersetzen, also das Pro und Contra kritisch reflektieren.
Für das oben angesprochene Thema würde dies bedeuten, sich heute diskursiv mit der Frage auseinanderzusetzen, ob nicht auch Frauen in Moscheen als Imaminnen tätig sein können. Was spricht dafür, was dagegen? In vielen Fällen geht es nicht um eine einzige vermeintlich wahre Position, sondern um ein Nebeneinander von Positionen und Argumenten. Nicht alle Moscheen müssen akzeptieren, dass bei ihnen Frauen als Imaminnen tätig sind. Wichtig ist allerdings, dass man weiß, dass die Position, Frauen als Imaminnen in den Moscheen zuzulassen, im Islam eine Position ist, die auch zu der klassischen islamischen Tradition gehört und daher die islamische Theologie etwas angeht.
Doch nicht nur der Aspekt der Tradition scheint mir in Bezug auf Metes Rezension relevant, sondern auch sein Gegenargument, warum Frauen nicht als Imaminnen in Moscheen tätig sein dürfen. Hier bestätigt Mete zwar die Sicht Ibn Taymiyyas, der dies erlaubt hat, merkt jedoch an, dass Ibn Taymiyya dies nur in Notfällen erlaubt habe. Aber dieser war eben ein Theologe und verwendete daher eine theologische Sprache, die man kennen muss, bevor man seine Aussagen beurteilt; er sprach im Rahmen seiner Erlaubnis für Frauen als Imaminnen vor den Männern zu beten von Hadscha (Bedarf) und nicht, wie Mete meint, von Zarûra (Notfall). Der Rahmen dieses kurzen Beitrags erlaubt es nicht, auf diese fachliche Unterscheidung näher einzugehen, aber ein Theologe weiß, dass, wenn Ibn Taymiyya von Hâdscha/Bedarf spricht, hier kein Notfall gemeint ist, denn das ganze Tarâwîh-Gebet, auf das sich Ibn Taymiyya in seinen Ausführungen bezieht, ist kein Pflichtgebet und somit kann von vornherein nicht von Zarûra die Rede sein. Das Argument Ibn Taymîyyas ist sehr stark, denn statt zu sagen, für den Fall, dass es keinen Mann gibt, der die Kompetenz besitzt, Imam zu sein, solle jeder das Tarâwîh-Gebet alleine beten bzw. das Gebet ausfallen lassen, weil es sich nicht um ein Pflichtgebet handelt, bevorzugt er, dass eine Frau vorbetet, wohlgemerkt bei Bedarf, nicht im Notfall.
Leider übersetzt Mete das koranische Prinzip Hawf, von dem auch die klassischen Gelehrten sprachen, fälschlicherweise mit Furcht vor Gott. Dabei geht es im Koran um Ehrfurcht und nicht um die Kategorie der Angst. Denn wie man Gott aus Furcht lieben soll, leuchtet nicht ein. Das Gesetz der Liebe ist die Freiheit. Gott zu lieben bzw. sein Angebot anzunehmen, muss in Freiheit geschehen, Angst/Drohung als Motiv widerspricht der Freiheit. Das hat die islamische Mystik stark thematisiert. Gazâlî bezeichnet daher in seinem Buch „Ihyâʾ“ diejenigen, die an Gott glauben und ihn nur deshalb anbeten, weil sie sich eine materielle Belohnung erhoffen oder Angst vor einer Bestrafung haben, als Polytheisten. Denn was sie wollen, ist nicht Gott alleine, sondern sie folgen ihren materiellen Gelüsten. Auf diese Haltung zielt auch die Mystikerin Râbia al-Adawiyya mit ihrer berühmten Aussage ab, sie würde so gerne das Höllenfeuer löschen und das Paradies anzünden, damit die Menschen nicht aus Angst vor der Hölle oder der Hoffnung auf das Paradies handeln, sondern aus aufrichtiger Liebe zu Gott. Leider wird heute gerade diese Sufi-Tradition stark marginalisiert und kaum rezipiert, was in meinen Augen auch eine Form der Enttraditionalisierung des Islams darstellt.
Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang ist die kategorische Ablehnung Metes der Aussagen Gazâlîs, nach denen dieser das Paradies und die Hölle metaphorisch liest. Die Ablehnung beruht darauf, dass Mete einen Übersetzungsfehler vermutet, da ich in den Quellen auf die deutsche Übersetzung von Richard Gramlich verweise. Selbstredend findet sich diese Aussage Gazâlîs auch im arabischen Original. Ein Vergleich der deutschen Übersetzung mit dem arabischen Original hätte dies sehr schnell deutlich gemacht. Gazâlî hat in der Tat an manchen Stellen vom Paradies und der Hölle als real existierende Orte gesprochen, denn je nach dem, an wen die jeweilige Schrift adressiert war, hat Gazâlî unterschiedliche Positionen dargestellt. Er schrieb sogar ein Buch („Ildscham al-awamm an Ilm al-Kalâm“), in dem er davor warnt, mit den Laien über bestimmte theologische Themen zu sprechen. An der Stelle im Ihyâ, an der Gazâlî über eine metaphorische Lesart von Hölle und Paradies spricht, bezeichnet er die Laien als intellektuell nicht in der Lage, sie anders als wortwörtlich aufzufassen, daher würden diese das Paradies und die Hölle als materielle Räume verstehen. Dies schreibt er allerdings als Kritik an den Laien.
Mir geht es nicht darum, zu sagen, eine metaphorische Lesart der koranischen Vorstellungen des Paradieses und der Hölle sei die einzig wahre, sondern um ein innerislamisches Bewusstsein für Vielfalt. Es geht mir darum zu zeigen, dass wer heute den Koran nicht literalistisch, also nicht wortwörtlich lesen, sondern in seinem historischen Kontext verorten und entsprechend auslegen will, genügend Grundlagen dafür innerhalb der islamischen Tradition finden würde, auf denen er seine weiteren Überlegungen aufbauen kann. Denn eine Reform ist nur dann authentisch, wenn sie nicht aufgesetzt, sondern von innerhalb der eigenen Tradition begründet wird und an dieser anschließt.
An einigen Stellen der Besprechung durch Ali Mete konnte ich nicht nachvollziehen, wieso er meine Ausführungen falsch wiedergibt. Ich würde zum Beispiel den Propheten „entpolitisieren“ wollen, dabei ging es mir darum, zu hinterfragen, ob Muhammad (s), wie oft behauptet wird, wirklich Staatsoberhaupt war. Das ist eine völlig andere Fragestellung als die nach seiner politischen Rolle. Es ist wichtig, zwischen Herrschaft und Politik zu unterscheiden. Nicht jeder, der Politik betreibt, will per se herrschen. Ich verstehe den Islam so, dass er einen politischen Auftrag hat, sich für Gerechtigkeit, Solidarität mit Armen und Bedürftigen, für Bewahrung der Schöpfung usw. einzusetzen. Dies hat jedoch nichts mit einem Herrschaftsanspruch zu tun.
Mit einigen Aussagen Metes, wie die Behauptung, ich würde das Fastengebot im Islam relativieren wollen, kann ich mich absolut nicht identifizieren. Beim Thema Fasten bin ich lediglich auf die Fatwas eingegangen, die Muslimen erlauben, im Sommer, wenn der Tag sehr lang ist, das Fastenbrechen zum Beispiel am Sonnenuntergang in Mekka zu orientieren. Das ist eine alte klassische Position. Als Theologe ist es mir wichtig, verschiedene Positionen und Möglichkeiten innerhalb der islamischen Lehre aufzuzeigen, ohne allerdings einen Absolutheitsanspruch zu erheben.
Wer islamische Theologie betreiben will, muss sich diskursiv auf Argumente einlassen. Das endgültige Ergebnis dieser Auseinandersetzung müsste erst am Ende und nicht schon zu Beginn des Reflexionsprozesses stehen. Diskursivität bedeutet aber zugleich, sich auf möglichst viele Argumente, Gegenargumente, Methoden und Disziplinen, die mittel- oder unmittelbar den Reflexionshorizont erweitern können, einzulassen. Das heißt aber auch, dass sich die islamische Theologie auf Forschungsergebnisse benachbarter Disziplinen, wie die der christlichen und jüdischen Theologie, aber auch der Islamwissenschaft einzulassen hat.
Ich habe in den Ausführungen von Herrn Mete zum Teil diese offene Haltung vermisst. Zum Beispiel gibt es zur Frage der koranischen Hermeneutik (hier ging es um das Beispiel der Paradies- und Höllenbilder im Koran) eine Reihe von moderner Literatur, so dass man sagen kann, dass das Beharren auf eine literalistische (wortwörtliche) Lesart des Korans (zum Beispiel Paradies und Hölle als materielle Räume) kaum mehr im akademischen Diskurs vertreten wird.