Die Religiosität modernen Gesellschaften befindet sich im Wandel. Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit dem Religionssoziologen Prof. Dr. Detlef Pollack über die Ähnlichkeiten zwischen muslimischer und christlicher Religiosität und die soziale Dynamik des Islams in der Gesellschaft.
IslamiQ: Religiosität erlebt in den modernen Gesellschaften einen Wandel. Wie definiert die Religionssoziologie diesen Begriff?
Prof. Dr. Detlef Pollack: Religiosität ist die subjektive Seite der Religion. Religion zeichnet sich durch die Unterscheidung zwischen dem Zugänglichen und dem Unzugänglichen, dem Immanenten und dem Transzendenten aus. Sie traut dem, was dem Menschen nicht direkt zugänglich ist, einen Einfluss auf das Leben zu. Religion ist im Wesentlichen eine Form, das, was sich dem menschlichen Handeln entzieht, im eigenen Tun und Lassen zu berücksichtigen, mit ihm zu rechnen und es zu beeinflussen. Was Individuen aus dem reichen Schatz der Religionen in ihrem Leben integrieren, das würde ich als gelebte Religiosität bezeichnen.
IslamiQ: Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es in Bezug auf muslimische und christliche Religiosität? Wie kann man muslimische Religiosität definieren und messen?
Pollack: Wenn man an die Verehrung Gottes, an die Bedeutung des Gottesdienstbesuchs, an gemeinschaftlich vollzogene Riten oder auch an die Orientierung an ethischen Geboten denkt, werden die Gemeinsamkeiten zwischen muslimischer und christlicher Religiosität schnell deutlich. Unterschiede sehe ich darin, dass im Islam der Koran als Wort Allahs im Vordergrund steht. Im Christentum geht es jedoch um eine Person, die ein menschliches Schicksal erleidet und am Kreuz stirbt, aber mit Gott eins ist. Auch wenn sich die zentralen Sinnformen muslimischer und christlicher Religiosität inhaltlich unterscheiden, geht es beiden doch grundsätzlich darum, zwischen dem Transzendenten und dem Immanenten zu vermitteln.
IslamiQ: Religiosität, sagten Sie in einem Interview, lässt mit der sinkenden Bindung an eine Kirche nach. Wie erklären Sie das? Gilt dieser Trend auch für muslimische Gemeinden?
Pollack: Anders als wissenschaftliche Tatsachen lassen sich Glaubensinhalte nicht unmittelbar überprüfen. Der Glaube ist deshalb auf gemeinschaftliches Praktizieren angewiesen. In sozialen Gemeinschaften erfährt das, was der Einzelne glaubt, eine Unterstützung durch die vielen, mit denen er zusammenkommt und mit denen er seinen Glauben teilt. Deswegen ist die Beteiligung am kirchlichen Leben, die Bindung an die religiöse Gemeinschaft so wichtig für das gläubige Individuum.
Das gilt zunächst einmal auch für Muslime. Allerdings beobachten wir insbesondere bei den höher gebildeten und besser integrierten Angehörigen der sogenannten zweiten und dritten Einwanderergeneration eine beachtenswerte Tendenz. Anders als die Mitglieder der ersten Generation beteiligen sie sich seltener am Gemeindeleben und legen stattdessen größeren Wert auf individuelle Religiosität.
IslamiQ: Es wird oft behauptet, dass in säkularen Gesellschaften religiöse Institutionen an Bedeutung verlören und religiöses Leben – außerhalb der kirchlichen Form – vielfältiger und unorganisierter werde. Stimmen Sie dieser These zu?
Pollack: In den westeuropäischen Gesellschaften hatten die Kirchen früher eine Art religiöses Monopol. Die Pluralisierung des religiösen Feldes ist vielleicht das wichtigste Merkmal des gegenwärtig ablaufenden Wandels.
IslamiQ: Dieser Pluralismus wird als Bereicherung, aber auch als Herausforderung oder sogar als Gefahr für die moderne Gesellschaft angesehen.
Pollack: Nicht-institutionalisierte Religiosität ist in der Regel offener gegenüber kulturellen und religiösen Pluralisierungstendenzen als kirchengebundene Religiosität. Das heißt, wer kirchlich nicht so streng gebunden ist, begreift religiöse Vielfalt eher als Bereicherung denn als Bedrohung.
IslamiQ: Derzeit wird der Begriff „politischer Islam“ diskutiert. Was kann die religionssoziologische Perspektive zu dieser Diskussion beitragen?
Pollack: Radikalisierte Islamisten können nur dann sozial wirksam agieren, wenn ihre Botschaften Gehör finden. Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, aber auch die Verweigerung von Anerkennung und Solidarität können den Boden für eine Politisierung des Islams bereiten. Die Soziologie zeigt immer wieder, wie wichtig soziale Kontakte zwischen Minderheiten und Mehrheiten für eine Entschärfung potenzieller Konflikte sind.
IslamiQ: In der Religionssoziologie wird Religion unter anderem auch als ein eigenständiger Faktor betrachtet, der die soziale Wirklichkeit mitgestaltet. Wenn es um den Islam geht, wird dieser Aspekt meistens ignoriert bzw. ausgeblendet. Die gestaltende Funktion der Religion wird dann eher als Gefahr empfunden. Was wäre Ihr Vorschlag angesichts dieses Widerspruchs?
Pollack: Das Christentum wird in Deutschland tatsächlich oft als eine Religion wahrgenommen, die stark integrativ wirkt, in ihre kulturelle Umwelt eingebettet ist und von der nur wenige politische Impulse ausgehen. Beim Islam ist das anders. Ihm trauen die Menschen ein beachtliches Gestaltungs- und Veränderungspotenzial zu. Der Islam ist öffentlich sichtbar wie kaum eine andere Religion, er übt eine starke politische Wirkung aus. Seine soziale Dynamik ist in der Öffentlichkeit unbestritten. Die Frage lautet also wohl: Wie lassen sich seine radikalisierenden Tendenzen einschränken?
Aus der Religionsgeschichte wissen wir, dass eine äußere Beeinflussung von religiösen Gemeinschaften sehr schwierig ist, zuweilen sogar genau die entgegengesetzten Reaktionen hervorruft. Jeder Religion kommt in modernen Gesellschaften die Aufgabe zu, die in ihr angelegten Tendenzen der Radikalisierung selbst zu begrenzen, denn diesen lassen sich am ehesten von innen her bezähmen. Deshalb scheint mir die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Selbstkritik eine wichtige Voraussetzung für die Lösung des angesprochenen Widerspruchs zu sein.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.