Ein Jahr Nach Hanau

Filip Goman: „Es tut weh, sein eigenes Kind zu Grabe zu tragen“

Vor dem Anschlag zog Filip Goman nach Hanau, zu seiner Tochter Mercedes Kierpacz. Zwei Monate später wird sie ermordet. Ein Gespräch über den Verlust.

17
02
2021
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Filip Goman
Filip Goman © IslamiQ

IslamiQ: Wie fühlen Sie sich, ein Jahr nach dem Anschlag?

Filip Goman: Es ist sehr schwer, sehr hart für uns. Wir haben einen lieben Menschen verloren. Meine Tochter. Wir sind seit 1963 in Deutschland und seit fast 35 Jahren in Hanau. Mercedes ist in Offenbach geboren, ihre zwei Kinder in Hanau. Sie wurde von einem Terroristen, einem Rassisten ermordet. Ich hätte mir so etwas nie vorstellen können. Ich frage mich nur, warum? Weil wir Roma sind, weil wir einen Migrationshintergrund haben?

IslamiQ: Wie haben Sie von dem Angriff erfahren? Und wie verlief der Prozess nach dem Anschlag?

Goman: Mein Sohn hat mich an dem Abend angerufen und gesagt: „Mercedes wurde erschossen“, und ich habe nur geantwortet: „Quatsch, wer sollte denn Mercedes erschießen?“ Ich konnte es nicht glauben. Ich bin nach Hause gekommen, habe mit der Polizei gesprochen und sie gefragt, ob es sich wirklich um Mercedes Kiepracz handelt. Ja, eine Frau sei drin gewesen. Es war meine Tochter.

Wir haben Mercedes in Offenbach begraben. Bei der Beerdigung waren hunderte Mensche da. Man sagte mir, man müsse eine Obduktion machen. Sie wurde mit dem Sarg wieder abgeholt. Meine zwei Söhne sind sie anziehen gegangen, doch sie konnten sie nicht einkleiden. Wir mussten sie mit Folien zusammenbinden! Sie haben meine Tochter ohne Grund aufgeschlitzt. Sie hätten nur die Kugel rausnehmen müssen. Sie hatte nur eine Schusswunde.

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IslamiQ: Wie hat sich Ihr Leben und das Ihrer Familie nach dem Anschlag verändert?

Goman: Wissen Sie, was für ein Schmerz uns hier in Deutschland zugefügt wurde? Was uns aus dem Leben gerissen hat? Nur wir, die Eltern, können wissen, wie weh es tut, unser eigenes Kind zu Grabe zu tragen. Wir wünschen es keinem. Aber: Niemand hat richtig gearbeitet oder geholfen. Die Mutter von Mercedes wohnt immer noch in Kesselstadt, ein paar Meter vom Tatort entfernt. Mercedes‘ Sohn muss jeden zweiten Tag im Lidl neben der Arena Bar einkaufen und sich den Tatort ansehen. 

IslamiQ: Die Internetseite und Videos des Täters zeigen, dass er ein Rassist und Verschwörungstheoretiker war. Doch es wird nur über seine psychischen Probleme gesprochen. Wie geht es Ihnen dabei?

Goman: Diese Person hat ihr Vorhaben schon vorher preisgegeben. Der Täter hat das Bundesverfassungsgericht angerufen, hat seitenlange Briefe geschrieben, dummes, wirres Zeug gesprochen. Aber weder die Staatsanwaltschaft noch die Polizei waren imstande, einen Durchsuchungsbefehl zu erlassen. Er hatte Waffen, die er nicht haben durfte. Und der Vater des Attentäters will jetzt die Waffen zurück. Er ist eine tickende Zeitbombe und spricht die Sprache seines Sohnes.

Überall wird erzählt, dass es zehn Opfer waren. Doch seine Mutter hat er nicht ermordet, weil sie „ausländisch“ war, nicht aus demselben Grund wie die neun Kinder. Sondern um ihr das Leid zu nehmen. Und das bringen sie in Zusammenhang mit unseren Kindern, um uns noch mehr Schmerz zu bereiten.

IslamiQ: Welche Fragen sind für Sie noch offen?

Goman: Wo war die Polizei während der Tat? Der Terrorist hat mitten auf der Straße drei Leute umgebracht und wir sind knapp 300 m Luftlinie von der Polizei entfernt. Die Person hat es geschafft, von hier bis zum Postamt zu gehen, in sein Auto zu steigen und weiterzuschießen. Und immer noch war die Polizei nicht da. Dann ist er nach Kesselstadt gefahren, hat weitere sechs junge Menschen getötet. Er hat es auch geschafft, von der Arena Bar raus und nach Hause zu gehen, brachte seine Mutter und sich dort um. Erst nach vier Stunden kam die Polizei. Jetzt heißt es, diese Tat hätte man nicht verhindern können. Das hätte man verhindern können! Es wurde zugelassen, dass diese Leute sterben. Keiner war imstande, diesen Terroristen aufzuhalten.

IslamiQ: Wie bewerten Sie den Kampf gegen Rassismus nach dem Anschlag?

Goman: Nach dem Anschlag wurde nichts unternommen. In Wahrheit wurden wir Familien alleine gelassen. Jeder Politiker wirft das Thema Rassismus von sich weg. Doch vor der Presse finden sie immer schöne Worte, so auch Ministerpräsident Bouffier. Er hatte uns eingeladen, um sein Beileid auszusprechen. Dabei hat er ein Joghurt gegessen.

Das Interview führten und Kübra Layık und Elif Zehra Kandemir.