Gökhan Gültekin wurde am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet. Im IslamiQ-Interview spricht sein Bruder Çetin Gültekin über die Anschlagsnacht, seinen Verlust und seinen Kampf für Gerechtigkeit.
IslamiQ: Herr Gültekin, wie haben Sie vom Angriff erfahren?
Çetin Gültekin: Am Abend des 19. Februar rief mich Gökhan gegen 21 Uhr an. Er wollte Pasta bestellen und fragte mich, ob ich auch etwas essen möchte. Ich war zu Hause und habe gesagt, dass ich nichts essen möchte. Knapp eine Stunde nach seinem hat mich mein Sohn Mert angerufen. Er sagte: „Sie haben meinen Onkel erschossen, komm schnell.“
Çetin Gültekin schweigt an dieser Stelle. Wer weiß, wie oft er sich an diese Szene erinnert und wie weh es ihm tut, wenn er sie erzählt. Nachdem er aufgelegt hat, sei er zum Kurt-Schumacher-Platz in Kesselstadt gegangen, wor sich die Arena Bar befindet.
Als ich dort ankam, lag meine Mutter auf dem Boden. Mein Vater war dort. Es war voll. Die Polizei hat alles abgesperrt. Ich wollte ein paar Mal reingehen, doch sie ließen es nicht zu. Ich habe der Polizei Fotos von Gökhan gezeigt und gefragt, ob er drin ist. Ein Polizist sagte mir, dass sie in der Bar keine Gesichter erkennen können. Schließlich bat ich ihn reinzugehen, damit er mir wenigstens sagen kann, ob Gökhans Telefon klingelt, wenn ich ihn anrufe. Der Polizist kam raus und sagte: „Es klingelt ein Telefon.“ In diesem Moment sind wir zusammengebrochen. Es fühlte sich so an, als ob jemand uns die Arme abgeschnitten hat. Aufgrund der Spurenermittlugnen lag mein Bruder noch stundenlang in der Arena Bar.
Zum ersten Mal zittert die Stimme von Çetin Gültekin.
IslamiQ: Können Sie uns etwas über Ihren Bruder erzählen?
Gültekin: Gökhan war 37 Jahre alt, er war verlobt. Der Grund, warum er bis zu diesem Alter nicht geheiratet hatte, war, dass er sich um meine kranken Eltern kümmerte. Mein Vater war krebskrank. Er ließ ihn nicht allein, während er lebte, und mein Vater ließ ihn nach seinem Tod nicht allein. 39 Tage nach Gökhans Ermordung starb mein Vater.
Als mein Vater starb, wusch ich seinen Körper in einer halben Stunde. Doch Gökhan konnten wir auch in 3,5 Stunden nicht waschen. Aufgrund der Obduktion blutete er noch. Ich bedeckte jeden Schnitt auf seinem Körper mit Watte und wusch ihn so. So etwas kann man nicht vergessen.
IslamiQ: Wie hat sich Ihr Leben und das Ihrer Familie nach dem Anschlag verändert?
Gültekin: Mein Vater kämpfte seit 2,5 Jahren mit seiner Krebskrankheit. Nach dem Anschlag hat er den Kampf verloren. Meine Mutter, eine starke Frau, war nach Gökhans Tod nicht mehr wiederzuerkennen. Die standhafte Frau gibt es nicht mehr, sie ist nun sehr zerbrechlich. Jede freie Minute betet sie für meinen Bruder. Sie bemerkt nicht mal, dass ihre Nase blutet. Jede Nacht gehe ich zu ihr ans Bett, um zu sehen, ob sie noch atmet.
Für Çetin Gültekin änderte sich nach dem Angriff alles. Es ist arbeitsunfähig geworden. Seine Ehe zerbrach, er verlor seine Gesundheit. „Der Attentäter hat mir nicht nur Gökhan genommen“, sagte Gültekin. Außerdem es gab viele bürokratische Hürden, die nach dem Anschlag auf ihn warteten.
IslamiQ: Können Sie uns ihre Gefühle ein Jahr nach dem Anschlag beschreiben?
Gültekin: Mein Bruder ist am 19. gestorben. Ein Jahr ist nun vergangen, doch heute geht es uns schlimmer als am ersten Tag. Wie haben sie es geschafft? Die Schusswunden der Verletzten sind bereits verheilt, doch unsere Wunden sind noch immer offen. Seit einem Jahr schlafe ich nicht mehr. Es stellte sich heraus, dass die schlimmste Folter der Welt Schlaflosigkeit ist. Manchmal fragen sie nach meinem Namen, ich kann ihn nicht sagen. Ich werde behandelt, doch meine Schlaflosigkeit verschwindet nicht.
Ich habe meinen Bruder verloren, ich habe meinen Vater verloren. Zusätzlich zu diesem Schmerz beschäftigte ich mich monatelang mit unzähligen Anträgen und den Behördengängen, wie die Sterbeurkunde oder die Witwenrente meiner Mutter. Ich hatte nicht mal Zeit, mich zurückzuziehen und um meinen Bruder zu trauern. Meine Mutter sah von ihrem Fenster aus den Ort den Anschlags. Um ihr diesen Anblick und die traumatischen Erlebnisse zu ersparen, habe ich bei der Stadt Hanau einen Antrag für eine neue Wohnung gestellt, jedoch ohne Erfolg. Erst nachdem ihr Psychologe einen Bericht anfertigte, konnten wir ihr eine neue Wohnung finden – und dass ohne die Hilfe der Stadt.
IslamiQ: Nach dem Anschlag wurden bundesweit Proteste und Demonstrationen gegen Rassismus veranstaltet. Reicht das?
Gültekin: Rassismus ist in Deutschland nicht nur gegenwärtig, sondern wird auch von allen Ebenen genährt und finanziert. Früher gaben Rechtsextreme Rockkonzerte und schlugen auf vorbeikommende ausländisch aussehende Menschen ein. Aber jetzt planen sie Anschläge und gründen Organisationen. Früher konnte man einen Rechtsextremen an den langen Stiefeln, der grünen Jacke und dem kahlen Kopf erkennen. Heute tragen sie Krawatten und sitzen im Bundestag. Sie sind in allen Institutionen vertreten. Sie verstecken sich nicht mehr. Deutschlands größte Oppositionspartei ist die AfD. Was ist, wenn diese auch an die Macht komm?
Nach dem Holocaust sagten wir: „Nie wieder!“ 80 Jahre später werden neun Menschen erschossen? Was hat dieses Land seit 80 Jahren gegen Rassismus und Rechtsextremismus getan? Ich habe noch nie von einem einzigen Rassisten gehört, dem sein Waffenschein entzogen wurde. Wie lange werden wir noch warten müssen?
IslamiQ: Vor kurzem hat der Vater des Attentäters die Waffen seines Sohnes verlangt und wilde Verschwörungstheorien aufgestellt.
Çetin Gültekin ist der Meinung, dass der Vater des Attentäters immer noch eine Bedrohung für die Familien darstellt. Er warnt vor der wirklichen Gefahr, indem er erwähnt, dass er weiterhin im Umfeld der Opferfamilien lebt.
Ich habe in der Ermittlungsakte gelesen, wie der Attentäter seine Mutter getötet hat, und wie ihr Zustand war. Seine Mutter war pflegebedürftigte. Er hat sie in ihrem Pflegebett getötet. Natürlich ist die Mutter auch ein Mensch, aber wir sind dagegen, dass man von zehn Opfern spricht. Denn es waren nur neun Menschen, die augrund eines rassistischen Motivs getötet wurden.
Auch sein Vater ist eine Bedrohung. Nachdem ich in den Medien über den Vater des Angreifers gelesen hatte, stellte ich fest, dass wir in Deutschland allein waren. Der Mann will die Waffe seines Sohnes zurück. Er sagt, dass andere für die Rache seines Sohnes sterben müssen. Trotzdem werden wir von Polizei angerufen und gewarnt. Macht bloß keinen Blödsinn und greift den Mann nicht an, heißt es. Was wäre, wenn er die Waffen seines Sohnes zurückbekommen hätte? Vielleicht würde er uns töten! Und was nützen Vorsichtsmaßnahmen, nachdem ich gestorben bin?
Wir haben Breitscheidplatz, Nizza und Trier erlebt. Wir wissen, dass es Angreifer gibt, die Menschen mit dem Auto angreifen. Dieser Mann muss diese Nachbarschaft verlassen. Die Polizei ist für den Schutz und die Sicherheit der Bürger da. Wo ist unsere Sicherheit? Wer beschützt uns?
In Çetin Gültekins Kopf schwirren hunderte Fragen, mit denen er sich täglich auseinandersetzt. Er bekam Zugang zu den tausendseitigen Ermittlungsakten, aber die Fragen wurden nicht weniger.
IslamiQ: Welche Fragen sind für Sie weiterhin offen?
Werden Personen, die einen Waffenschein beantragt, genügend überprüft? Der Attentäter ging zweimal pro Woche zum Schützenverein und feuerte jedes Mal Hunderte Kugeln ab. Woher bekommt dieser arbeitslose Terrorist, der in das Haus seiner Eltern gezogen ist, weil er seine Miete nicht bezahlen konnte, so viel Geld für Kugeln? Laut Ermittlungsakte fiel der Angreifer, nachdem er sich selbst erschossen hatte, auf die Waffe, die er in der Hand hielt. Wie ist das möglich?
Die Polizei umstellte das Haus des Terroristen um 12 Uhr nachts nach dem Angriff und landete mit Hubschraubern auf dem Dach. Doch stürmen sie erst gegen 4 Uhr das Haus. Warum hat die Polizei das Haus 4 Stunden lang nicht betreten? Nachdem sie um 4 Uhr das Haus betreten haben, finden sie den Mörder und seine Mutter erst um 6 Uhr in dem winzigen Haus. Bei seinem Vater wurde keine ballistische Untersuchung durchgeführt. Als wir die Polizei danach fragten, antworteten sie: „Er war nicht verdächtig.“ Wie hat sein Vater in diesem Haus überlebt? In Anbetracht der früheren rassistischen Aussagen seines Vaters fragen wir uns, ob sein Vater ein Meister und sein Sohn ein Lehrling war.
Wir sind am Leben. Wir bemühen uns, jeden Tag Antworten auf unsere Fragen zu bekommen. Ich kämpfe für alle Menschen. Ich möchte nicht warten, dass nach meinem Bruder jemand namens Ahmet oder Mehmet getötet wird. In der Zwischenzeit werde ich mich bemühen, Gökhans Namen am Leben zu erhalten, so dass er nicht in Vergessenheit gerät. Ich möchte, dass der Name meines Bruders in Ağrı, wo er begraben liegt, und an vielen anderen Orten auf den Straßen, Alleen und Plätzen am Leben bleibt. Mindestens das hat Gökhan verdient.
Das Interview führte Elif Zehra Kandemir.