Die Aufarbeitung rassistischer Taten in Deutschland lässt viele Fragen offen. Rabia Kökten schreibt über die rassistischen Morde in Hanau und die Wahrnehmung von Shishabars.
Der deutsche Staat hat die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger und die Menschen, die sich auf seinem Staatsgebiet aufhalten, vor Diskriminierung, Hass und Gewalt zu schützen. Diese Pflicht ist im Grundgesetz verankert (Özata, 2018). Sollte es dennoch zu entsprechenden Straftaten kommen, so muss er auf angemessene Weise reagieren, indem er jeden Schritt unternimmt, die Tat aufzuklären. Das schließt auch das Erkennen einer rassistischen Tatmotivation beim Täter oder bei der Täterin ein. So muss in Deutschland seit 2015 ein rassistisches oder sonst wie menschenverachtendes Motiv bei der Strafzumessung strafverschärfend einbezogen werden (Schellenberg, 2019). Kommt der Staat dieser Pflicht nicht nach, kann es weitreichende Folgen für Betroffene und auch insgesamt für den Frieden und den Zusammenhalt in der Gesellschaft haben, da es das Vertrauen in den Rechtsstaat und seine Institutionen nachhaltig erschüttern kann.
Seit Jahren warnen migrantische Selbstorganisationen und Experten aus der Wissenschaft vor den Gefahren, die von einer Verharmlosung von Rassismus ausgehen und fordern bessere Gegenmaßnahmen und einen umfassenderen Schutz von Betroffenen. Wie erschreckend tief institutioneller Rassismus in deutschen Institutionen verankert ist, zeigte der „NSU“ Fall allzu deutlich: Die unzumutbare Ermittlungsarbeit der verschiedenen Polizeien in Richtung organisierte Kriminalität, die Suche der Tätern bei den Opfergruppen, die Weigerung der Polizeien, Indizien und Zeugenaussagen bezüglich der rassistischen Tatmotivationen ernst zu nehmen, die Verstrickung des Verfassungsschutz in die Vertuschung, die medialen Berichterstattungen, die die Ermordeten mit Fastfood verglichen und der mangelnde Aufschrei nach der Selbstenttarnung des „NSU“ haben für die sekundäre Viktimisierung mit weitreichenden Konsequenzen für Opfer und ihre Angehörigen gesorgt.
Der Umgang und die fehlende Aufarbeitung und Aufdeckung der NSU-Morde haben sich in das kollektive Gedächtnis der rassistisch markierten Bevölkerung eingeschrieben. Noch heute tauchen die Morde, die auf das Konto des NSU gehen, nicht in der bayerischen Kriminalstatistik zu rechtsextremen Delikten auf. Hinzu kommt, dass das „NSU“ Trio jahrelang – bis zu seiner Selbstenttarnung – in einem Ort untertauchen konnte, in welchem es nicht als Bedrohung wahrgenommen wurde, da die diskursive Bedrohungslage eine andere ist.
Dass die Gefahren durch Rechtsterrorismus in Deutschland nicht ernst genommen werden, zeigt sich etwa durch ihre reflexhafte Verharmlosung als Einzeltaten und der gleichzeitigen Relativierung im Diskurs um Gefahrenpotentiale für die plurale Demokratie. Dieser Umgang zeugt in Deutschland von einer gewissen Kontinuität mit rassistischer Gewalt (wie beispielsweise in Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Mügeln, Halle, Kassel, etc.).
Für Nicht-Weiße, vornehmlich muslimische Frauen, reicht im Gegensatz der bloße Verdacht, Emotionen alleine durch die körperliche Präsenz – also schlicht durch ihre Existenz – auszulösen, um sie aus dem öffentlichen Leben zu verbannen (als Polizistinnen, Lehrerinnen, Juristinnen und Richterinnen). Gleichzeitig erhält der Polizei-Apparat einen Vertrauensbonus, obwohl seine Verstrickung in verschiedenen rechtsradikalen Netzwerken bekannt wurde. Auf der anderen Seite zeigt sich das Bundesinnenministerium nicht selbstkritisch genug und streitet die weitreichenden Rassismusvorwürfe weiterhin ab. So betont Bundesinnenminister Seehofer, dass es keinen Rassismus bei der Polizei gebe, denn das sei ja verboten. Aus diesem Grund blockierte er beispielsweise die Durchführung einer Studie zum Ausmaß des racial profiling in den polizeilichen Behörden. Des Weiteren betonte er, dass sich 99% der Polizeibeamten auf dem Boden des Grundgesetzes aufhalten würden und sich nicht mit „Unterstellungen“ befassen müssten (BMI, 2020). Angenommen, er hat mit seiner Einschätzung recht, dann lehnen immerhin Tausende bewaffnete Polizisten (1%) die demokratische Grundordnung, zu dessen Schutz sie sich verpflichtet haben, in Deutschland. Das scheint keinen Grund zur Sorge zu bieten. Vielmehr drückt sich hier die Angst vor dem Verlust der Deutungsmacht über die Geschehnisse aus.
Seit Jahren beobachten Experten mit Sorge die Verrohung der Sprache in politischen Debatten über Migration und Flucht. Solange sich dieser diskursive Deutungsrahmen um muslimisch und migrantisch markierte Körper und die Aushandlung ihrer Zugehörigkeit der sie gleichzeitig dämonisiert, nicht verändert, wird der Nährboden bestehen bleiben und antimuslimische und rassistische Gewalt nicht abnehmen. Wenige Stunden nach den kaltblütigen Morden in Hanau sprach der hessische Innenminister Peter Beuth beispielsweise von „Fremdenfeindlichkeit“ als Motiv des Täters. Wessen Perspektive auf die Geschehnisse kommt damit eigentlich zum Ausdruck? An wessen Körpern werden damit Gefahrenpotentiale implizit festgemacht? Was bedeutet es für die Einordnung von Morden letztlich, wenn Opfer als Fremde gerahmt werden?
Bundespräsident Steinmeier, Hessens Ministerpräsident Bouffier, OB der Stadt Hanau Kaminsky – Sie alle betonten mehrmals in ihren Ansprachen auf der Gedenkfeier, dass die Opfer keine Fremde waren. An wen richten sie ihre Worte? Ist diese Art der Ansprache angemessen in Anbetracht der Entmenschlichung, Entwürdigung und feigen Ermordung von zehn Menschen? Wäre es nicht angemessen gewesen, die Opfer zu Hause zu besuchen? Vor ihrer Haustür die Schuhe auszuziehen, einzutreten, den Blick zu senken und angesichts der überwältigenden Trauer einfach zu schweigen, zuzuhören und mitzutrauern? Warum wurden die Opferangehörigen nicht besucht, obwohl sie in der Nähe wohnten? Warum betont man überhaupt so stark, dass es keine Fremden waren? Sprechen sie alle damit nicht aus dem Deutungsrahmen des Täters heraus und stärken seine Rahmensetzung, die manche der in Deutschland lebenden zu Fremden und andere zu Einheimischen macht? Wann wird dieser Deutungsrahmen endlich durchbrochen?
Rassistisch motivierte Kriminalität zeichnet sich dadurch aus, dass Orte und Personen bewusst gewählt werden. Das Handeln hat einen Symbolcharakter: Es ist eine Botschaft an alle Menschen, die es auch hätte treffen können. Auch der Mörder von Hanau wählte den Ort seiner Tat nicht zufällig. Er wählte ihn, weil er ihn für einen migrantischen Ort, einen Ort von Fremden hielt. Er wählte diesen Ort nicht zufällig, er ging davon aus, dass er dort auf Menschen treffen könnte, die er als fremd rahmte. Er wählte diesen Ort letztlich aus strategischen Überlegungen heraus. Er wollte so viele Menschen wie möglich in den Tod reißen.
Die Shishabar wird darüber hinaus diskursiv als ein Ort gerahmt, von dem Gefahren ausgehen würden. Mit dieser Einschätzung ist der Täter nicht alleine: Die zahlreichen Doku-Reihen über „arabische Großfamilien“, die politischen und medialen Darstellungen über polizeiliche Razzien und Gefahren, die von Shishabar-Besitzern ausgehen würden, die zahlreichen Debatten über den Sexismus migrantischer und muslimischer Männer; sie alle sprechen aus diesem rassistischen Deutungsrahmen heraus und befeuern die Naturalisierung von rassistischen Zuschreibungen und zementieren gleichzeitig die Einteilung der konstruierten Eigengruppe als gut, zivilisiert, friedlich und aufgeklärt und der konstruierten Fremdgruppe als binären Gegenpol. Diese Affektlogik ist für Rechtsradikale gekoppelt mit der Argumentation, man müsse die eigene Heimat vor einer Invasion durch Fremde schützen. Diese Heimat schließt selbstverständlich alle aus, die der Täter nicht als Zugehörige rahmt. Der Schutz von „Deutschen“ und Deutschland ist eine Argumentation, die auch schon der OEZ-Attentäter oder der Auto-Terrorist von Bottrop und Essen ins Spiel brachten.
Angesichts der Pandemiemaßnahmen, die durch COVID-19 zu einer bundesweiten Solidaritätswelle geführt haben, hat die Weigerung zur effektiven Handlung gegen Rassismus und Rechtsradikalismus einen bitteren Beigeschmack. Solidarität und mit ihr gekoppelte Maßnahmen zum Schutz von rassistisch markierten Menschen erscheinen weiterhin als die Ausnahme von der Regel. Nichtsdestotrotz sind jüngere Bemühungen gegen Rassismus, wie beispielsweise das Maßnahmenpaket des Kabinettsausschusses der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus und Rassismus ein Schritt in Richtung mehr Glaubwürdigkeit und hoffentlich mehr Sicherheit für alle Menschen.
Literatur
Britta Schellenberg (2019): Hasskriminalität und rassistische Gewalt: Konzeptionalisierungs- und Bearbeitungsprobleme, in: Hans-Jörg Albrecht, Rita Haverkamp, Stefan Kaufmann und Peer Zoche (Hrgs.): (Un-) Sicherheiten im Wandel. Reihe: Zivile Sicherheit. Schriften zum Fachdialog Sicherheitsforschung, Berlin: Lit Verlag.
Onur Özata (2018). Staatliches Versagen und die Folgen für die Opfer mit Blick auf die Taten des NSU und den Anschlag am OEZ. In: IDZ (Hrsg.) Gewalt gegen Minderheiten (4), 108-115.
BMI. Pressemitteilung vom 20.10.2020. Abrufbar unter: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/ pressemitteilungen/DE/2020/10/keine-studie-rechtsextremismus-polizei.html (letzter Zugriff: 19.01.2021)