Im Gespräch mit dem österreichischen Kulturphilosophen Franz Martin Wimmer gehen wir dem Thema „Interkulturelle Philosophie“ nach.
Interkulturelle Philosophie bezeichnet eine eigene Denkrichtung in der Philosophie. Diese berücksichtigt ausdrücklich verschiedene philosophische Kulturen und versucht Brücken zu schlagen. Oftmals spricht man auch über eine Transformation der Philosophie. Wir sprachen mit dem bekannten österreichischen Kulturphilosophen Franz Martin Wimmer über Interkulturelle Philosophie.
IslamiQ: Der Anfang der Philosophie wird im Allgemeinen in der griechischen Antike gesehen, dessen ideengeschichtliches Erbe durch den Westen angetreten wurde. Es stellt sich nunmehr die Frage, seit wann dieses Verständnis vorherrscht? Was verstand man im 11. bzw. 16 Jahrhundert unter Philosophie? Wenn die Bedeutung und Wahrnehmung der Philosophie sich seit ihren Anfängen bis heute spürbar verändert hat, so stellt sich die Frage, in welcher Epoche genau diese Veränderung stattfand und wie ist dieser Veränderungs- bzw. Umdeutungsprozess zu verstehen?
Franz Martin Wimmer: Es ist nicht nur im Verständnis der Öffentlichkeit beinahe selbstverständlich, dass Philosophie überhaupt mit europäischer oder westlicher Philosophie gleichgesetzt wird, dasselbe Verständnis herrscht auch in Lehrplänen an Universitäten usw. „Philosophie“ ist im allgemeinen Sprachgebrauch kein kulturell generischer Begriff: Meistens ist nur „westliche“ Philosophie gemeint, wenn jemand von „Philosophie“ spricht. Das ist aber eine gedankenlose Gleichsetzung, denn natürlich ist indische, chinesische, arabische, afrikanische Philosophie genauso Philosophie. Und darum sollte man einfach „westliche“ oder „europäische“ Philosophie sagen, wenn diese regionale Form des Denkens gemeint ist – und eben nicht so reden, als sei Philosophie sowieso nur etwas Westliches.
Wie war das wohl im „11. bzw. 16. Jahrhundert“? Eine interessante Frage – an das 11. Jahrhundert habe ich in diesem Zusammenhang noch nie gedacht, aber im lateinischen 13. Jahrhundert fällt ein Sprachgebrauch auf, bei Thomas von Aquin (º 1273), der etwas Aufschluss geben könnte: In seiner Schrift „Über Seiendes und Wesen“ führt er immer wieder „den Philosophen“ an, er nennt ihn gar nicht beim Namen, er gibt diesen Titel offenbar nur einem Denker, und gemeint ist damit Aristoteles. Außerdem führt er „den Kommentator“ dieses Philosophen an, und auch ihn nennt er nicht namentlich, auch ihn gibt es quasi nur einmal, es ist Averroës wie die Lateiner ihn nannten, also der Andalusier Ibn Ruschd (º 1198). Es sind da also zwei unbestrittene Autoritäten die Wortführer der „philosophia“, ein Grieche und ein Araber. Thomas behandelt in dieser Schrift Fragen der Metaphysik, aber die „philosophia“ zu seiner Zeit bezeichnet noch vieles andere, was erst in der Neuzeit sich ausgegliedert hat, wie zum Beispiel als Physik oder auch als Psychologie. Das lateinische Wort selbst (philo-sophia, Liebe zur Weisheit) stammte ebenso aus dem Griechischen wie seine arabische Form (falsafa), und so verstand es wohl schon im 11. Jahrhundert auch al-Gazzali (º 1111), der in seiner „Widerlegung der Philosophen“ eben auch Aristoteles und außerdem dessen Nachfolger al-Farabi (lateinisch Alpharabius, º 950) und Ibn Sina (Avicenna, º 1037) kritisiert.
Im 16. und 17. Jahrhundert war die Situation in Europa wohl anders. Da wurde eine neue Literaturgattung entwickelt – die in anderen Regionen, z.B. in Indien oder China, fehlt –, nämlich die Beschreibung der Geschichte der Philosophie. Diese neuzeitlichen Philosophiegeschichten entstanden im Zusammenhang mit philologischen Forschungen und die reformatorische Tendenzen, in der Geschichte die „natürlichen“ Denkformen zu finden. Da war von vielen Traditionen der Philosophie die Rede, von einer ägyptischen, chaldäischen, skythischen, gallischen, aber auch von chinesischen, japanischen usw. Der Primat der Griechen wurde zuweilen in Frage gestellt, zugleich gab es das Bemühen, die biblisch-christliche Sicht der Weltgeschichte auch in den Philosophien aufzuweisen – und so finden wir im 17. Jahrhundert Adam und Eva als die ersten Philosophen beschrieben, die „vorsintflutliche“ Philosophie wird hoch geschätzt, und noch im 18. Jahrhundert wird Noah zugleich als Begründer der chinesischen Kultur (als „gelber Kaiser“) und als Vermittler der überlegenen Weisheitstradition vor der Sintflut geschildert. Es gibt da übrigens auch noch die Philosophinnen des (griechischen) Altertums, deren letzte ausführliche Darstellung Ende des 17. Jahrhunderts verfasst und nach langer Vergessenheit erst vor kurzem wieder veröffentlicht wurde.
Erst die Aufklärung im 18. Jahrhundert scheidet alle anderen alten Traditionen außer der griechischen aus und verwirft auch die These von Adam als ersten Philosophen. Aber noch der bedeutendste Philosophiehistoriker dieser Zeit, Jakob Brucker (º 1770) stellt in seiner universell verstandenen Geschichte der Philosophie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr ausführlich nicht-okzidentale Philosophien dar, er fragt sich sogar, ob im südlichen Afrika und in Amerika vor der europäischen Entdeckung philosophisches Denken nachgewiesen werden könnte. Diese Frage taucht nach Brucker erst wieder Ende des 20. Jahrhunderts im Zuge der Entkolonialisierung und des Postkolonialismus auf. Parallel zur neuzeitlichen Kolonisierung der Welt durch Europa verschwinden besonders im 19. Jahrhundert die außereuropäischen Philosophien oder werden als bloße Vorstufen (wie von Hegel) in einen Entwicklungsprozess eingeschrieben, der ganz klar eurozentrisch ist.
Ein moderner Sprachgebrauch von „Philosophie“ sollte die kulturell vielfältigen Ursprünge philosophischer Denkweisen in der Menschheitsgeschichte berücksichtigen, zumindest soweit deren Fortwirken heute noch irgendwo auf der Welt Menschen beeinflusst. Es sollte daher kein kulturzentristischer Begriff sein, sondern einer, der von Grundfragen ausgeht, die mit mehr oder weniger Betonung überall gestellt worden sind. Mein Vorschlag dafür ist sicher von meiner okzidentalen Prägung beeinflusst, aber er ist ein Versuch, den Begriff des Philosophischen von vielen kulturellen Besonderheiten freizuhalten, mit denen er oft verbunden wird. So denke ich nicht, dass bestimmte Ausdrucksweisen (wie Schriftlichkeit), Organisationsformen oder Sprachen da eine Rolle spielen sollten. Ich meine, man kann philosophisches Denken damit kennzeichnen, dass es sich um Reflexion auf eine von drei Grundfragen handelt, nämlich die Frage nach der Grundstruktur der Wirklichkeit, die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen von Wissen und Erkenntnis, oder die Frage nach der Gültigkeit von Werten und Normen – und dass viertens solche Reflexionen durch die Entwicklung einer Metasprache, durch Begriffe und begriffliche Argumentation gekennzeichnet sind. In diesem Sinn findet man Philosophie in sehr differenten Gestalten bei vielen Völkern eigenständig entwickelt.
IslamiQ: Das Hauptmerkmal, das die Lehre der Philosophie von anderen Denkweisen unterscheidet, ist die Bemühung, Gott aus dem Spiel zu lassen. Es zeigt sich das Streben danach, das Sein und Werden ohne jegliche Referenz auf eine metaphysische Entität (transzendental) zu verstehen und zu erklären. Es wird behauptet, dass diese Bestrebung zum ersten Mal im antiken Griechenland zu sehen ist. Nehmen wir an, dass diese Behauptung wahr ist, so muss dennoch geklärt werden, welche Umstände die griechischen Philosophen dazu gebracht haben, auf diese Art und Weise zu denken? Wie konnte die antike Philosophie, trotz oder gerade aus dem Erbe der Großkulturen wie Ägypten oder Mesopotamien, ferner aus dem Erbe der chinesischen und indischen Zivilisation, daran festhalten die Natur und den Menschen, zu verstehen und begreiflich machen zu wollen ohne auf Gott zurückzugreifen?
Franz Martin Wimmer: Ich glaube nicht, dass Sie da ein zutreffendes Bild von der Sache geben. Um bei einem einfachen Punkt anzufangen: Materialistische Welterklärungen hat es wohl in allen Kulturen (auch) gegeben. Ein türkischer Philosophiehistoriker, Bayram Kaya, vertritt beispielsweise die Auffassung, dass die grundlegenden Denktraditionen von Turk-Völkern materialistisch gewesen seien – und als einen der vielen Belege dafür zitiert er etwa von Yunus Emre das Wort „Alles ist wie Hefe“ (Herkes mayasına göredir) … Marxistisch orientierte Geschichtsschreibung der Philosophie hat im Allgemeinen Materialismus und Idealismus unterschieden und für beides jeweils auch Zeugnisse in den unterschiedlichsten Gesellschaften nachgewiesen.
Auffallend ist das sicher im achsenzeitlichen Indien, wo von der Denkschule der Charvaka (auch: Lokayata) eine radikal atheistische, materialistische und hedonistische Lehre entwickelt worden ist. Daran denkt man bei „indischer Philosophie“ meistens nicht. Darüber, dass klassische chinesische Denkschulen mit metaphysischen Fragen wenig am Hut hatten, werde ich später noch etwas sagen. Aber von beiden Traditionen wussten die frühen Griechen sicher gar nichts. Was sie suchten, waren die Gesetzmäßigkeiten hinter den natürlichen Prozessen, die Logik im Denken, die Prinzipien, aus denen alles erklärbar sein sollte. Oft kritisieren sie dabei auch den Götterglauben – das tun die jüdischen Propheten ebenso – was aber nicht heißt, dass sie keine Metaphysik (das ist ja auch ein griechischer Begriff) entwickelt hätten. Wenn Demokrit und Epikur die Welt materialistisch erklären, so tun Platon und Aristoteles dies doch keineswegs, aber griechische Philosophen sind sie alle. Was sie gemeinsam haben ist der Umstand, dass sie Antworten auf grundlegende Fragen im Denken selbst suchen und dazu Methoden, Begriffe, Argumente entwickeln. Sie lassen sich diese Antworten nicht von Orakeln und Priestern irgendwelcher Götter, aus heiligen Büchern oder von anderen übermenschlichen Autoritäten vorgeben. Die haben schließlich alle ja auch keine anderen Urheber als Menschen.
IslamiQ: Parallel zum letzten Punkt möchte ich noch einmal fragen wollen, ob der Grund für die Wiederaufnahme bzw. Wiederbelebung des antiken Erbes seitens der europäischen Philosophen und Denker darin begründet liegt, dass sie sich Schritt für Schritt – aufgrund nachvollziehbarer Gründe – von Religion und Glauben abgewendet haben und Elemente eines gottlosen bzw. von Religion getrennten Weltsicht in dem antiken Erbe erhofft haben?
Franz Martin Wimmer: Es dreht sich nicht immer alles um Religion im Leben und auch nicht bei den Philosophen, und wenn etwas aus einer anderen Kultur übernommen wird, so geschieht das immer wieder auf andere Weise, mit spezifischer Auswahl und in unterschiedlichen Zielsetzungen. Mir scheint, man kann über diesen Punkt nur zwei allgemeine Sätze sagen: Was und wie aus einer anderen Kultur übernommen wird, antwortet einem Mangel in der eigenen. Und: Nach einem Prozess der gelungenen Aneignung ist das Angeeignete Teil des Eigenen und nicht mehr fremd.
Als Japaner im 19. Jahrhundert zuerst französische und englische, dann deutsche Philosophen studierten, übersetzten und kommentierten, hatte das mit Religion oder Gottlosigkeit gar nichts zu tun, sehr wohl aber mit Erwartungen an die Moderne, die man sich zu Eigen machen wollte. Es ging ja um viel mehr als um Philosophie, es ging auch um Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Kriegs- und Rechtswesen, Medizin und so weiter. Was offenbar gar keine Rolle spielte, waren Religionen des Westens, ganz anders als in der frühen Edo-Zeit, als das Christentum vorübergehend eine starke Ausbreitung in Japan erlebte. Nun, in der Modernisierung der Meiji-Zeit, wurde hingegen der traditionelle Shintoismus stark gefördert und hat zum einzigen Mal in der japanischen Geschichte so etwas wie den Rang einer Staatsreligion eingenommen. Man könnte damit nun die Zeit der Reformen in der frühen türkischen Republik vergleichen und würde sowohl starke Ähnlichkeiten, aber auch große Unterschiede feststellen. So etwa hat die Schriftreform (eine solche wurde in Japan ebenfalls erwogen) in der Türkei dazu geführt, dass große Teile des literarischen und kulturellen Erbes weitgehend unzugänglich wurden; Vergleichbares fand in Japan nicht statt.
Aber Ihre Frage geht auf Übernahmen griechischer Denkformen in Europa in früheren Jahrhunderten. Das sind Prozesse, die sich über viel längere Zeit erstrecken, von der Scholastik über die Renaissance bis in die Neuzeit, als die beiden erwähnten Beispiele, und sie lassen sich nicht so simpel auf den Nenner bringen, dass da einfach eine Abkehr von der Religion, also dem Christentum stattgefunden hätte. Es gibt doch auch sehr fromme Philosophen in der europäischen Geschichte und wenn sie auf Griechen wie Platon und Aristoteles zurückgegriffen haben, dann nicht, weil diese gottlos gewesen wären, sondern weil sie weitreichende Methoden des Denkens entwickelt hatten. Viel eher kann man davon sprechen, dass die Entwicklung der modernen Philosophie und Wissenschaften wesentliche Anregungen von griechischen Autoren bekam. Das war ja schon in der arabisch-islamischen Wissenschaftsgeschichte nicht anders gewesen.
Eine tatsächliche Abwendung Erklärungen der Natur und der Welt überhaupt mit Hilfe religiöser Texte und Begriffe findet in Europa auch erst schrittweise mit der Aufklärung statt, und diese hat viel mehr mit modernen Wissenschaften zu tun als mit den Griechen. Dabei ist die Idee, dass aus der Beobachtung der Natur alles Wissen gewonnen werden könne, zuerst von islamischen Autoren artikuliert worden, etwa nach einem frühen Text von Ibn Sina vor allem in dem berühmten Roman des Ibn Tufail (º 1185), dessen Held gänzlich ohne menschliche Gesellschaft und dementsprechend auch ohne Tradition oder Offenbarung aufwächst und nur durch Selbst- und Naturbeobachtung zu einem umfassenden und irrtumsfreien Wissen gelangt. Der Roman war in Europa sehr populär und im 17. Jahrhundert in zahlreichen Sprachen verbreitet. Die Idee, dass der Mensch sich selbst aufklären kann und dazu weder Offenbarung noch Tradition notwendig sind, war sicher attraktiv. Aber war das damit schon ein irreligiöser Text? Eine der Überraschungen in dem Roman liegt doch bekanntlich darin, dass das Wissen aus der Selbstaufklärung sich als übereinstimmend mit dem Koran herausstellt, somit ist auch das nicht eindeutig.
IslamiQ: Damit ein Mensch von Ich sprechen kann, benötigt er einen anderen, bzw. ein Du. Psychologen und Psychater stellen fest, dass ein Baby zur Selbstreflexion bzw. Selbstwahrnehmung ein weiteres Du (ja sogar einen Er – Sie) braucht. Daraus folgernd kann man sagen, dass wir ebenfalls eine andere Kultur bzw. Zivilisation benötigen, damit wir von einer eigenen Kultur sprechen können. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen, kann man sagen, dass der Mensch ein Gegenüber, ja sogar auf einen Feind angewiesen ist, damit ein genuin eigenes philosophisches Denken entstehen kann?
Franz Martin Wimmer: Ende des 20. Jahrhunderts hat Randall Collins eine breit angelegte wissenschaftssoziologische Studie veröffentlicht (The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change), in der er circa 170 Fälle der Entstehung philosophischer Richtungen oder „Schulen“ in den vergangenen 2500 Jahren in vielen Regionen Eurasiens in dem weiten Raum zwischen dem Pazifik und dem Atlantik und auch Amerikas untersucht, also sehr verschiedene Situationen, in denen jeweils andere kulturelle Haltungen, weltanschauliche Überzeugungen, verschiedene wissenschaftliche Standards und auch Stile wirksam waren. Da gibt es natürlich große Unterschiede in den Theorien, wie sie entworfen, diskutiert und wieder verworfen worden sind. Es gibt aber eben auch überraschende Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen – wie zum Beispiel, dass neue Denkansätze meistens als Alternative zu zwei konkurrierenden oder gegensätzlichen Theorien entstehen; dass jeweils in einer Generation nur eine begrenzte Anzahl von plausiblen Denkweisen sich herausbildet; dass die Träger von neuen Ideen sich anscheinend kulturübergreifend und unabhängig von weltanschaulichen und sonstigen Unterschieden überall und zu allen Zeiten auf ähnliche Weise organisieren und verhalten usw.
Immer spielt eben auch eine Rolle, was Sie ja erwähnen: Das jeweils Eigene artikuliert sich gegen etwas Anderes, das ist in der Philosophie nicht anders als in anderen Lebensbereichen. Es macht aber schon einen Unterschied, wie man mit solchen Gegensätzen umgeht, wie ausschließend man das Eigene für richtig erklärt. Ohne jetzt mehr als einen groben Hinweis zu geben, muss man sich doch wundern, in wie hohem Maß eine Art von Koexistenz großer philosophischer Richtungen und auch Religionen in Ostasien entwickelt worden ist, dafür gibt es offenbar keinen Vergleich in Westasien, im Mittelmeerraum oder im europäischen Abendland. Das geht bis in die Gegenwart und bis in die alltägliche Lebenspraxis, es ist beispielsweise in Japan gar nicht ungewöhnlich, dass jemand nach christlichem Brauch heiratet, für seine Kinder Reinigungszeremonien im Shinto-Schrein vollzieht, und seine Toten auf buddhistische Weise beerdigt. Auch wenn das kein allgemeines Verhalten ist, scheint es eben doch auch nicht ungewöhnlich zu sein. Die alte chinesische Formel „Drei Lehren – eine Familie“, womit traditionell eine innere Einheit von Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus bezeichnet wurde, wirkt hier nach.
Vergleichbares Verhalten, sozusagen eine multireligiöse Lebenspraxis nicht nur einer Gesellschaft als ganzer, sondern von einzelnen Individuen, und auch individuell variabel, wäre in mehrheitlich christlichen wie auch in islamischen Gesellschaften wohl undenkbar gewesen und auch heute höchst ungewöhnlich. Das Beispiel kann aber zeigen, dass die Abgrenzung von anderen Denkweisen sehr unterschiedlich gehandhabt werden kann. Eine ausschließende Fixierung auf „uns“ und „sie“ ist jedenfalls nicht etwas Natürliches.
Bei Ihrer Frage kommt aber noch ein anderer Gedanke in den Sinn: Es fällt auf, zumindest in der Philosophie, dass emanzipatorische Diskurse nicht-okzidentaler Regionen sich vorwiegend oder sogar ausschließlich in einer Auseinandersetzung mit „dem Westen“ abspielen, also die gefährliche Formel vom „West and the rest“ mit umgekehrten Vorzeichen gewissermaßen wiederholen. Dass sich lateinamerikanische, afrikanische, indische, islamische etc. Philosophie regelmäßig nur gegen westliches Denken definiert, dass Süd-Süd-Dialoge kaum stattfinden, ist für eine globale Entwicklung nachteilig – und es ist auch gar nicht einleuchtend, dass in einer solchen Fixierung aller „Anderen“ auf ein einziges „Gegenüber“ die Weisheit der Menschheit überhaupt zu finden wäre. Das hat zwar Ursachen in der Geschichte, aber es hat darum doch noch keine überzeugenden Gründe in der Sache, und philosophierende Menschen aller Regionen sollten sich davon doch freimachen können – was auch hinter der Idee von Polylogen steht.
IslamiQ: Aufgrund der Übermacht eines Westens, sei es die materielle, politische oder die finanzielle Überlegenheit, ist zu sehen, dass andere Kulturen ihre eigene Tradition und ihre eigenen Ideen- bzw. Denkgeschichte immer in Reaktion und im opportunistischen Vergleich zum Westen verstehen. Als ein Beispiel könnte man an dieser Stelle die Werke zum Thema Beitrag des Islams bzw. der Muslime in der westlichen Entwicklung, bzw. der Einfluss der islamischen/ muslimischen Tradition in der westlichen Wissenschaftsgeschichte in der türkischsprachigen Literatur nennen.Wahrscheinlich kann man ähnliche Phänomene bei Chinesen und Indern beobachten, die sich aufgrund ihrer Beiträge zur Entwicklunug der Technik und zur Mathematik als Vorreiter bestimmter Wissenschaften sehen. Wie kann man in so einer reaktionären Atmosphäre, geistreiche eigene Ideen entwickeln.
Franz Martin Wimmer: Ja, das „Wir auch!“ ist wohl tatsächlich eine Formel, die einem in Selbstdarstellungen aus Regionen immer wieder begegnet, die man in der Wirtschaftsgeschichte als „Peripherien“ bezeichnet hat. Das bezieht sich nicht nur auf große Räume, es kommt als Tendenz beispielsweise auch bei österreichischen Wissenschaftshistorikern schon im 18. Jahrhundert zum Ausdruck – da wird von Denkern und Werken berichtet, die ihrer Zeit weit voraus gewesen seien, von denen berühmte Männer in Frankreich oder England beeinflusst gewesen seien oder sogar abgeschrieben hätten, die aber leider dort nicht erwähnt würden, und weil französische, englische und deutsche Verlage den Markt bestimmen würden, seien diese außerhalb Böhmens, Siebenbürgens oder Österreichs ganz unbekannt… Die Engländer haben ihren Newton, „wir“ unseren Boscovich. Der berühmte Descartes habe wahrscheinlich von „unserem“ Marcus Marci seine wesentlichen Ideen übernommen und so weiter. „Man“ kennt Newton und Descartes, sie sind weltbekannt, die Unsrigen kennt niemand… Das ist ein eher wenig beschriebenes Phänomen innerhalb von Europa, aber das Peripherie-Syndrom zeigt sich darin auch recht gut.
Wenn es Peripherien gibt, so gibt es auch Zentren. Für die periphere Philosophie und Wissenschaft der habsburgischen Gebiete waren die Zentren im protestantischen Deutschland, in Frankreich und England, und für den Fall, dass solche Selbstdarstellungen wie die eben erwähnte dort wahrgenommen worden wären, wäre eine konsequente Rückfrage von dort ja wohl gewesen: Und warum haben sich euer Boscovich und euer Marci dann nicht durchgesetzt oder warum habt Ihr nichts weiter daraus gemacht?
Bei den vielen Arbeiten über die wissenschaftlichen Leistungen auf allen möglichen Gebieten von Arabern bzw. Muslimen, die ja historisch ganz berechtigt sind, besteht das Mißliche darin, dass sie zeitlich weit zurückgreifen müssen und dass diese Wissenschaftstraditionen in der Neuzeit nicht so erfolgreich fortgesetzt wurden wie das in Europa der Fall war. Die erwähnte Rückfrage ist daher auch hier zu erwarten, sie kommt prompt und macht das Ganze zu etwas bloß Antiquarischen.
Kann man originelles Denken erwarten, wenn das periphere Kaninchen dauernd auf die zentrale Schlange starrt? Nun, im Fall der österreichischen Peripherie hat sich die Situation im 19. und besonders im 20. Jahrhundert doch geändert, es sind da aus den nicht-metaphysischen Traditionen dieses Raums Theorien und Ansätze entwickelt worden, besonders in der Philosophie des Wiener Kreises, die Weltgeltung erlangt haben. – Aber kann man das auch übertragen auf andere Regionen, etwa auf jene, die durch die europäische Kolonisierung tief geprägt worden sind? Übernehmen sie nicht alle mehr oder weniger europäische Denkformen mit mehr oder weniger hilflosen und international wenig beachteten Versuchen, ein eigenes Erbe zu bewahren oder der Welt bekannt zu machen?
Die letzte Formulierung trifft sicher nicht überall zu, sie wäre für Japan und China ebenso falsch wie für Indien. Aber auch afrikanische und lateinamerikanische Denktraditionen spielen in manchen Bereichen eine immer größere Rolle, was nicht immer mit wirtschaftlichen Entwicklungen verbunden ist.
IslamiQ: Ich möchte an dieser Stelle noch eine ähnliche Frage stellen. Sie sprachen davon, dass nicht-europäische Philosophien und Ideen eurozentrisch wahrgenommen und verstanden werden. Ist das eurozentristische Verständnis nicht ein Resultat daraus, das innerhalb einer europäischen Moderne Begriffe der Philosophie inhaltlich neu gefüllt wurden? Denn, wenn Begriffe die Mittel des Verstandes sind um etwas zu beschreiben, so fragt man sich, können denn beispielsweise muslimische Philosophen die Geschehenisse der Moderne mit eigenen Termini verstehen und erklären?
Franz Martin Wimmer: Auf den Kulturzentrismus und das Verstehen der Anderen nach jeweils eigenen Sichtweisen und in jeweils eigenen Begriffen kommen wir noch zu sprechen, das ist etwas ganz Allgemeines. Aber Sie fragen sich hier auch nach der Möglichkeit einer hermeneutischen Souveränität bei einem bestimmten Phänomen, nämlich im Fall der „Moderne“. Verstehe ich Sie richtig, wenn ich annehme, dass Sie da auch einfach an Wörter denken, an alteingesessene arabische oder persische Terminologie einerseits, zweitens an türkische Neubildungen und drittens an Wörter aus europäischen Sprachen? Das alles gibt es ja im heutigen Türkisch, auch in der Philosophie, und manchmal verdoppelt oder verdreifacht sich das Wörterbuch bei der Beschreibung ein und derselben Sache, abhängig weniger vom Phänomen selbst als von der ideologischen oder politischen Ausrichtung der Autoren, die darüber schreiben. Ich nehme das Türkische als Beispiel, denn von der arabischen Wissenschaftssprache weiß ich gar nichts.
Wenn Sie an so etwas denken, und an ein Phänomen der europäischen Moderne, die Säkularisierung, so hätten Sie, wenn ich nicht irre, weder einen arabischen noch einen rein türkischen Ausdruck zur Verfügung, sondern zwei, die aus Europa kommen: laikleşme und sekülarizasyon. Für das erste bzw. für laiklik gibt es auch noch das Synonym laisizm, aber interessanter im Vergleich zum deutschen Fremdwort Laisierung (das der Wortbildung nach laikleşme genau entsprechen würde) ist, dass dieses deutsche Wort nur einen Vorgang im katholischen Kirchenrecht bezeichnet, für den zwar laikleşme ebenfalls verwendet wird, aber nicht in erster Linie, denn eine Laisierung kommt ja in der Türkei lebensweltlich so gut wie nicht vor, so viele katholische Mönche und Priester gibt es da ja nicht. Dafür wieder scheinen sich solche Wörter wie laik hervorragend als Schimpf- und Schlagwörter in politischen oder gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu eignen, wofür ihre deutschen Entsprechungen ganz ungeeignet sind. Ähnliche Überlegungen könnte man zur sekülarizasyon anstellen. Eine „Trennung von Kirche und Staat“, wie bei der deutschen Verwendung des Worts, wird im Türkischen nicht richtig entsprechen, zumal es in der osmanischen Geschichte so etwas wie eine Staatskirche oder die Formel „cuius regio ejus religio“ nicht gegeben hat.
Der allgemeine Punkt, den man jetzt noch genauer überlegen müsste, scheint mir zu sein, dass Wörter und Begriffe übernommen werden, wenn etwas Neues benannt werden soll (von laikleşme könnte in der Tanzimat-Zeit erstmals gesprochen worden sein) – und hin und wieder kann man sogar zeitlich mitverfolgen, wie die Sprache der gesellschaftlichen Entwicklung direkt folgt. Ein Beispiel dafür ist der „Tourist“ in europäischen Sprachen. Touristen als moderne Formen von Reisenden sind ein Phänomen industrialisierter Gesellschaften, und tatsächlich taucht das Wort zuerst im Englischen, später im Französischen auf, und rund um 1830 auch im Deutschen, was genau dem Verlauf des Industrialisierungsprozesses entspricht.
Und manchmal kommen ja in solchen Prozessen auch ganz witzige neue Bedeutungen alter Wörter heraus. Wer hätte gedacht, dass aus der Tasche („cep“) einmal etwas würde, womit man telefonieren, fotografieren und vieles Andere tun kann? Oder das deutsche „Handy“ – das klingt irgendwie englisch, wird aber in keinem englischsprachigen Land so genannt, und kommt angeblich aus dem Schwäbischen. Als ein Prototyp bei Siemens in Stuttgart vorgestellt wurde, soll ein dortiger Ingenieur erstaunt gefragt haben: „Ja, hän die koi Schnur?“ (Ja, haben die keine Schnur?) – und so ist aus einer lokalen Sprachtradition etwas Modernes benannt worden, dessen Name im Deutschen noch dazu irgendwie englisch, also modern und weltläufig klingt.
Aber die Sache ist natürlich komplex – wie soll man z.B. von Interkulturellem sprechen? Es gibt ja die alten Wörter: medeniyet, uygarlık, Ibn Khalduns al-umran ist immerhin als Vorname noch vorhanden,aber es gibt auch kültür und so handelt mein Buch auf Türkisch über kültürlerarası felsefe – und ich bin nicht sicher, ob das immer die beabsichtigten Assoziationen mit sich bringt, denn immerhin unterscheidet das Deutsche ja zwischen Kultur (eher uygarlık) und Zivilisation (eher medeniyet). Ich persönlich mache diese deutsche Unterscheidung zwar nicht mit – sondern meine, dass unter „Kultur“ auch dasjenige subsumiert werden soll, was manchmal als „Zivilisation“ davon unterschieden wird – aber ob das auch mit dem türkischen Wort „kültür“ so ohne weiteres geht, ist damit nicht gesagt.
Es wäre sicher keine mögliche Lösung, wenn man fordern würde, jede regionale Gesellschaft dürfte nur mit denjenigen Begriffen beschrieben werden, die sie selbst entwickelt hat. Da käme, wenn man das global und konsequent anwendet, lediglich mehr Unverständlichkeit, sicher nicht ein besseres Verständnis heraus. Irgendwie müssten die Dinge ja dann doch immer wieder übersetzt werden und es wäre zu erwarten, dass sehr oft so etwas dabei passieren würde wie mit dem arabisch-türkischen Wort şehit, das man im Deutschen meistens mit Märtyrer wiedergibt, obwohl die gewöhnliche Bedeutung dieses deutschen Wortes damit sehr oft überhaupt nicht gemeint ist, weil man im Deutschen eher „Gefallener“ sagen müsste, also im Krieg Getöteter, natürlich mit der stillschweigenden Assoziation „für die gerechte Sache“ oder Ähnlichem.
Es ist aber auch keine mögliche Lösung, wenn man einfach die Begriffe, die in einer bestimmten Gesellschaft entwickelt wurden, zur Beschreibung und für das Verstehen aller anderen unverändert überträgt. Darunter leidet dann wohl nicht nur die Kreativität, sondern auch die Genauigkeit.
IslamiQ: Das Denken wird im Westen (insbesondere in letzter Zeit in den Vereinigten Staaten von Amerika) hervorgebracht. Außerdem ist der Einfluss dieses Denkens auf die ganze Welt bemerkbar. Bedeutet dies, dass die materielle und die psychische Überlegenheit notwendig ist für die Authentizität des Gedachten? Haben denn Intellektuelle und Denker anderer Kulturen, obwohl sie dem Westen widersprechen und sich auflehnen, die Überlegenheit des Westens sehen und akzeptieren, überhaupt eine realistische Chance alternative und authentische Gedanken und Ideen aufzustellen?
Franz Martin Wimmer: Das sind für mich schon wieder mehrere Fragen. Dass „das Denken“ jemals in einer einzigen Region hervorgebracht wird, möchte ich schlicht bestreiten. Ob der Einfluss des westlichen Denkens weltweit dominiert, ist eine zweite Frage. Die Frage nach der Möglichkeit von alternativer und authentischer Kreativität und auch Kompetenz ist meiner Auffassung nach noch einmal eine ganz andere. Ich möchte mit dem dritten Punkt beginnen und einfach einmal behaupten, dass es für die Wahrheit, Gültigkeit und Originalität einer Idee, einer Theorie oder eines Arguments vollkommen unerheblich sein muss, in welcher Sprache, in welchem Land, in welchem Medium oder vor welchem Publikum sie vorgebracht werden. Mit anderen Worten: Es ist unerheblich, ob eine philosophische Idee in akademischem Englisch in der Harvard University Press veröffentlicht wird oder ob sie in Suaheli in einem Lied in Mombasa entwickelt wird. Solche äußere Umstände sind aber überhaupt nicht unerheblich, sondern geradezu entscheidend, was die Wirksamkeit, die Verbreitung, oder die Autorität von Ideen angeht. Aber das heißt auch, dass polylogische Prozesse keineswegs selbstverständlich sind, denn in solchen dürfen derartige Machtverhältnisse eben keine Rolle spielen.
Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Diskussionen zwischen PhilosophInnen, deren Denken in kulturell differenten Philosophietraditionen wurzelt und mit deren jeweiligen Ausdrucks- und Begriffsmöglichkeiten verknüpft ist, jemals in irgendeiner Streitfrage unter Bedingungen vollständiger Gleichrangigkeit stattfinden. Für diesen Punkt sei ein einziges, teilweise fiktives, Beispiel ausreichend. Nehmen wir an, es soll geklärt werden, was unter globaler Gerechtigkeit zu verstehen sei. Dazu seien vier Werke, die mit einander nicht übereinstimmen, objektiv gesehen die kompetentesten. Zwei davon seien in Englisch veröffentlicht, eines von der Harvard UP, das andere von der Nairobi UP. Das dritte läge in Arabisch vor, während das vierte im Lied eines Straßensängers in Mombasa auf Suaheli entwickelt würde. In dieser Situation ist es nicht nur möglich sondern zu erwarten, dass im weltweiten Diskurs das erste wahrgenommen werden muss, das zweite ohne weiteres ignoriert werden darf und nach weiteren Stimmen niemand zu fragen braucht, um sich in der Sache akademisch kompetent zu äußern. Das bedeutet, dass auch die Philosophie unter realen Bedingungen betrieben wird, welche in erster Linie Machtverhältnisse spiegeln und nicht automatisch die Qualität von Argumenten.
Aber die Philosophie kann sich von ihrer Zielsetzung her eigentlich nicht mit Argumenten abfinden, hinter denen eine andere Macht als die des Denkens selbst steht, sie war und ist immer auch machtkritisch in ihrem Selbstverständnis, will sich weiter auf nichts stützen als auf die Macht des Denkens. Es ist einer der Kritikpunkte des interkulturellen Ansatzes in der Philosophie, dass das reale Philosophieren sich eben doch oft auf anderes stützt und gestützt hat, auf das Prestige einer Kultur oder einer Sprache, auf hegemoniale Mechanismen oder Ideologien. Aber sofern sie das tut, bildet sie nicht ihre eigene Stärke aus, sondern verlässt sich auf etwas, worauf sie sich eigentlich nicht verlassen will.
Darum wird es auch einer der Programmpunkte der interkulturellen Philosophie sein müssen, das Denken der Menschheit in den Blick zu bringen und nicht nur das Denken eines – aus welchen Gründen und auf welchen Gebieten immer – dominierenden Teils der Menschheit. Denn es geht wirklich um Universalität, da wäre die Annahme, dass Menschen einer einzigen Kultur ohnedies über allen anderen stehen, gelinde gesagt voreilig.
IslamiQ: Wie Sie es schon erwähnt haben, haben wir es in dieser Zeit mit einer globalisierten Menschheitskultur zu tun. Dies ist – egal ob wir es wünschen oder nicht – eine Tatsache, die sich weiterhin verhärtet. Nun, was sind die Nachteile (und Vorteile, wenn es sie gibt) dieser momentanen globalen Situation? Ist es so, dass immer mehr kulturelle Unterschiede verloren gehen und eine neue, sich einigende Kultur etabliert?
Franz Martin Wimmer: Dass wir schon länger in einer Epoche der Menschheit leben, in der zum ersten Mal viele Merkmale und Faktoren kultureller Art – wie beispielsweise Techniken, Formen der Kommunikation und der Organisation von Gesellschaften, Wissenschaften, aber auch Kunstformen usw. – in einem globalen Rahmen sich vereinheitlichen, scheint klar, und ebenso klar ist, dass vieles davon von Entwicklungen im neuzeitlichen Europa seinen Ausgang genommen hat. Man kann daher sagen, dass bestimmte Merkmale einer Kultur sich global verbreitet haben, also extern universell geworden sind. Zudem gibt es mit dem Englischen eine „lingua franca“, die im Unterschied zu früheren Fällen – dem Arabischen, dem Lateinischen oder dem Französischen – auf dem ganzen Globus mehr oder weniger verwendet wird und in einigen Bereichen fast ausschließlich die Terminologie bestimmt.
Aber ist damit auch schon eine global einheitliche Kultur entstanden oder zu erwarten? Die alten Kulturen waren immer dadurch ausgezeichnet, dass sie Verhaltensmuster für alle Lebensbereiche und Situationen lieferten, sie waren sozusagen intern universell, auch wenn sie nur regional vorherrschten. Dieses Merkmal sehe ich bei der entstehenden Globalkultur nicht als gegeben, sie ist offenbar auch damit vereinbar, dass regionale und lokale Besonderheiten sich festigen und mit Mitteln der globalen Kommunikation ihre Werte und Denkweisen überregional oder auch global propagieren.
Aber das ist eine Einschätzungsfrage und vielleicht haben Sie ja Recht, dass kulturelle Unterschiede mehr und mehr verloren gehen, etwa so, wie Sprachen aussterben. Ich habe aber den Eindruck, dass auch wieder neue Differenzierungen auftauchen, die zwar nicht mehr so regional abgrenzbar und vielleicht auch nicht so beständig sind wie es vormoderne Kulturen waren, die aber auch identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend sind.
IslamiQ: Auf der einen Seite bestätigen Sie, dass eine globalisierte Menschheitskultur vorliegt, auf der anderen Seite aber schlagen Sie vor, dass nicht-westliche Philosophien untereinander eine polyloge Beziehung aufbauen sollen. Sind denn überhaupt noch nicht-westliche Philosophien und Ideen vorhanden, die in einem Dialog bzw. wie Sie es nennen, in einem Polylog sich zusammenfinden sollen? Oder müssen wir ihre Empfehlung als eine archäologische Empfehlung, also einen auf die Geschichte gerichteten Vorschlag verstehen?
Franz Martin Wimmer: Meine ersten Formulierungen in dieser Richtung, in den 1980er Jahren, waren tatsächlich sehr stark auf die Geschichtsschreibung der Philosophie bezogen und daher, wie Sie sagen, eher doch eine „archäologische Empfehlung“. Zum Beispiel beabsichtigten meine „Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika“ explizit einen anderen Blick auf die Geschichte der Philosophie. Aber schon die vierte der Fragen, die ich damals artikultierte, zeigt, dass die Archäologie nicht antiquarisch gemeint war, denn sie lautete, an KollegInnen in Afrika, Asien, Lateinamerika gerichtet: „Worin sehen Sie die Beiträge der traditionellen Philosophien Ihres kulturellen Bereiches zum Welt- und Menschenbild der Gegenwart, und wie sind diese Beiträge angesichts des Entstehens einer globalen Kultur fruchtbar zu machen?“ Das halte ich immer noch für eine sinnvolle Frage, man sollte sie an jede, auch an die okzidentale Philosophie stellen, im Allgemeinen wie in besonderen Fällen.
Das wäre immer noch archäologisch, aber eine solche globale Archäologie wäre schon einiges in der Philosophie, wenn man deren Tendenz bedenkt, sich außerordentlich stark auf ihre Geschichte zu beziehen. Wenn das nun nicht nur ihre Geschichte in einer einzigen Kultur, sondern in vielen Kulturen wäre, aus der bei jeglicher Frage Ideen und Vorschläge gezogen würden, die den Studierenden vermittelt würden usw., so bliebe es nicht bei einer antiquarischen und noch dazu kulturell einseitigen Unternehmung, sondern ginge in Richtung globaler Polyloge.
Dazu muss ich nun ein paar Worte sagen. Erstens habe ich wirklich nie gemeint, dass (nur) „nicht-westliche Philosophien untereinander“ polyloge Beziehungen aufbauen sollten. Ich meine zwar, und habe das vorhin auch wieder erwähnt, dass es ein Nachteil ist, wenn nicht-westliche Philosophietraditionen sich gegenseitig ignorieren und sich jeweils nur einseitig gegenüber „dem Westen“ zu definieren suchen – aber mit dem Vorschlag, in der Philosophie überhaupt polylogisch vorzugehen, meine ich doch etwas ganz Anderes. Und natürlich nehme ich an, dass Unterschiede aus kulturellen Prägungen und Traditionen vorhanden sind, die philosophische Fragen betreffen, also wie vorhin gesagt, in Fragen nach der Wirklichkeit, nach Erkenntnis und nach Normen oder Werten. Das möchte ich jetzt nicht weiter ausführen, aber wenn man nur an die umstrittene Idee von allgemeinen Menschenrechten denkt, lässt sich das schwer leugnen.
Was meine ich also mit dem Vorschlag, polylogisch vorzugehen? Zunächst: Polyloge sind nichts anderes als vielseitige Dialoge. „Poly“ heißt ja einfach „viel“, und den Ausdruck habe ich gewählt, weil man bei „Dialog“ im Deutschen und anderen Sprachen (ich weiß nicht, ob es im Türkischen mit „diyalog“ auch so ist) leider meistens nur an Zwei denkt, obwohl das griechische Wort gar nichts mit einer Zahl zu tun hat. Also „poly-„, vielseitig sollte ein Gespräch gedacht und geführt werden, weil es eben viele kulturell differente Auffassungen in einer Frage geben kann oder gibt. Und es sollte dialogisch sein, was dann bedeutet, dass alle von allen lernen wollen und alle einander als Gleiche behandeln. Es gibt keine Hierarchien in einem Dialog und es gibt auch kein Dogma, das jemand außer Debatte stellen könnte, sonst wäre darüber eben kein Dialog möglich.
Ein Polylog, rein gedacht, wäre dann ein vielseitig geführtes Gespräch, in dem jede der beteiligten Personen gleichrangig mit jeder anderen und gleicherweise offen für das Denken aller anderen ist. Auch das Interesse daran, was die Anderen zur inhaltlichen Frage zu sagen haben, wäre allseitig gleich. Und zudem wären alle stets und vollständig bereit, ihre eigenen Überzeugungen aufzugeben – mit Ausnahme von sehr wenigen grundlegenden logischen Prinzipien, ohne die eine gegenseitige Argumentation nicht möglich wäre – wenn, aber auch nur wenn stärkere Argumente für die jeweils andere Position gegeben werden. Denn das Ergebnis ist für alle offen.
Es ist nicht wahrscheinlich, dass die angeführten Bedingungen von Polylogen im realen Leben normaler Weise zu erwarten sind – kaum unter Philosophierenden und noch weniger, sofern Menschen stark in religiösen, politischen oder tiefsitzenden kulturellen Denkgewohnheiten verhaftet sind. Ist das also eine utopische Idee? Das mag sein, wenn man die beschriebene, theoretisch reine Form erwartet. Aber es gibt mögliche und sinnvolle Annäherungen daran, und damit ist es eine positive Utopie. Man kann beispielsweise versuchen, die Anderen für sich selbst sprechen zu lassen wo immer möglich, und nicht nur über sie zu sprechen. So etwas versuchen wir in unserer Zeitschrift.
Und streng genommen gibt es auch gar keine Alternative zu einem polylogischen Vorgehen in der Philosophie, wenn wir die allgemeine Tendenz, alles aus der eigenen Perspektive zu sehen, berücksichtigen und zugleich nicht verzweifeln wollen bei der Suche nach Allgemeinem. Aber auf den Zentrismus kommen wir später noch zu sprechen.
IslamiQ: Nun möchte ich mich auf die Interkulturelle Philosophie beziehen. Sie sind einer der Vorreiter dieser Bewegung. Was bedeutet Interkulturelle Philosophie wie Sie es verwenden? Gleichfalls wäre an dieser Stelle die Frage zu stellen, ob Philosophie nicht längst schon eine Interkulturalität beinhaltet? Die Lehren, die die griechische Philosophie aus Ägypten, Persien, Mesopotamien und anderen fernöstlichen Kulturen und Philosophien entnommen haben, und das Erreichen dieses Erbes durch die Weitergabe durch die Muslime an den Westen; zeigt dies alles denn nicht schon einen interkulturellen Dialog? Um die Fragen zusammenfassen zu wollen: Gab es nicht schon in der Geschichte einen Polylog zwischen den Kulturen? Und welche Neuerung bietet Ihre Terminologie eines kulturellen Polylogs?
Franz Martin Wimmer: Was ich mit der Idee eines Polylogs meine, habe ich vorhin schon gesagt, aber vielleicht noch als Nachbemerkung: So etwas findet, wenn überhaupt, zwischen Menschen statt, nicht zwischen „Kulturen“, allerdings zwischen Menschen, die auf verschiedene Weise kulturell geprägt sind. Ich glaube auch gar nicht, dass die Idee eines Polylogs besonders neu ist (die Terminologie schon), jedenfalls findet sich eine sehr interessante Beschreibung eines vielseitigen Gesprächs im 16. Jahrhundert bei Jean Bodin (º 1596) in seinem Buch „Colloquium Heptaplomeres“. Er lebte in einer Zeit heftiger Auseinandersetzungen in Europa und entwickelt da die Idee, es könnten sich sieben Männer zurückziehen und über ihre unterschiedlichen Auffassungen frei mit einander diskutieren. Sie tun das in Latein, was nicht die Muttersprache von irgendeinem von ihnen ist, und sie fangen mit denjenigen Themen an, über die sie sich einig sind. Was sie vor allem unterscheidet, sind ihre religiösen Überzeugungen – katholisch, lutherisch, kalvinistisch, griechisch-orthodox, islamisch, jüdisch und atheistisch -, also handelt es sich eher um ein interreligiöses, als um ein interkulturelles Gespräch.
Dennoch ist das für mich doch eher ein Beispiel eines Polylogs, als die Fälle, die Sie genannt haben, denn Übernahmen oder Übertragungen gibt es immer wieder in der Geschichte, sie haben aber nicht notwendiger Weise etwas mit Interkulturalität zu tun. Eine Beschreibung solcher Übertragungen der Philosophie von einer Region in andere hat schon al-Farabi im 9. Jahrhundert geliefert. Er nimmt mit seiner Tradition den Ursprung der menschlichen Weisheit bei den Chaldäern, also in Babylonien an, von denen die Ägypter das Wissen übernommen hätte, die Griechen wiederum von diesen. Geographisch verläuft also bei ihm eine Linie von Babylon nach Heliopolis und dann Athen. Von Athen aus sieht er zwei Übertragungssrichtungen, die eine geht nach Rom, sie stelle aber eine Sackgasse dar, denn dort sei die Philosophie verkümmert, das neue Zentrum wird vielmehr Alexandria, wieder in Ägypten. Dabei bleibt es nicht, das Zentrum des Wissens verlagert sich nach Syrien (Antiochia) und später wieder an den Ursprungsort, diesmal ins islamische Bagdad seiner eigenen Zeit. Die spätere Verlagerung in den Iran (Isfahan) und von dort in den fernen Westen (Córdoba) hat al-Farabi nicht vorausgesehen, und natürlich auch nicht eine Fortsetzung in Paris usw.
Ebenso, wie al-Farabi weitere Übertragungen in den Iran, nach Andalusien und Europa nicht vorhersah, sahen spätere Historiker der Philosophie bei ähnlichen Überlegungen nicht vorher, dass eine Übertragung nach Amerika mehr als ein bloßer Ausläufer Europas (ähnlich al-Farabis hellenisiertem Rom) sein könnte. Elmar Holenstein, der das in seinem „Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens“ darstellt, stellt fest: „Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Verhältnisse so, daß die U.S.A. in der Philosophie wie in den Wissenschaften die zentrale Stellung einnehmen und daß die Orientierung an der ‚westlichen Philosophie‘ in sämtlichen Erdteilen in wachsendem Maße von den U.S.A. dominiert, kanalisiert und gefiltert wird.“ Man muss sich fragen, ob das mit entsprechenden Unterschieden und in kleineren regionalen Dimensionen nicht auch für frühere Zentren, etwa für Paris im späten Mittelalter oder für Córdoba zuvor gilt, dass sie das Wissen ihrer Zeit „dominiert, kanalisiert und gefiltert“ haben. Dass sie sich selbst etwa nur als Zwischenstufe, als Weitergebende verstanden hätten, kann man sicher nicht annehmen, das ist immer die Sicht einer späteren Zeit, der Blick eines neuen Zentrums auf die Vergangenheit.
Mit Interkulturalität oder einer interkulturellen Orientierung der Philosophie muss das aber gar nichts zu tun haben. Die hat ihren Grund darin, dass Philosophie immer auf Allgemeines abzielt und zugleich immer nur mit kulturell besonderen Mitteln betrieben werden kann. Das gilt ebenso für arabische, für griechische, chinesische oder anglo-amerikanische Philosophie. Aber in den jeweiligen Zentren wird diese Bedingtheit leicht vergessen, die eigene Kultur wird als das Normale schlechthin vorgestellt. Dann herrscht eine monokulturelle Grundhaltung vor, unabhängig davon, mit welchen anderen Kulturen man sich aus dem einen oder anderen Grund beschäftigt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich auch eine „vergleichende (oder: komparative) Philosophie“ entwickelt, die ihre eigenen Verdienste hat. Sie hat aber bis heute grob gesprochen zwei Schwachpunkte: Einerseits beschränkten sich die Vergleiche vorwiegend auf solche zwischen Philosophien Ostasiens mit dem Okzident, und andererseits sind diese vergleichenden Arbeiten nicht wirklich in inhaltlichen Diskursbereichen der Philosophie wirksam geworden.
IslamiQ: Sie möchten, dass Menschen sich der Geschichte nicht eurozentriert, sondern polylog annähern. Ist das wirklich möglich? Wie wahrscheinlich ist es, dass unterschiedliche Kulturen sich gegenseitig in ihren eigenen Rahmenbedingungen verstehen und beurteilen können? Wenn wir einen eigenen Standpunkt haben müssen um zu verstehen, bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass wir das beobachtete Feld uns eigen interpretieren?
Franz Martin Wimmer: Mit dem Verstehen sprechen Sie das weite Feld der Hermeneutik an, das können wir nicht so in der Kürze abhandeln. Aber ein Punkt ist vielleicht in unserem Zusammenhang der wichtigste: falsch Verstehen, Missverstehen, Nichtverstehen sind nicht Dinge, die erst problematisch werden im Verhältnis zu anderen Kulturen, das alles findet innerhalb jeder Kultur, in jeder Gesellschaft selbst statt. Andererseits gibt es offenkundig auch das Phänomen, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen, deren Lebenswelten aber ähnlich sind, einander oft leichter verstehen, zumindest in grundlegenden Belangen, als Menschen ein und derselben Kultur, deren Lebenswelten weit auseinander liegen. Das hat dann wenig bis gar nichts mit der Sprache zu tun, sondern viel mehr mit ähnlichen Lebenserfahrungen. Darüber kann man aus Arbeiten des schon genannten Elmar Holenstein viel lernen. Ich meine, dass auch Ram Adhar Mall recht hat, wenn er von zwei Verstehensmodellen spricht, die nicht geeignet sind, um die Realität der Kommunikation zu erfassen. Er nennt das eine ein „Identitätsmodell“, das andere eine „Hermeneutik der Differenz“ – ersteres geht davon aus, dass alles immer nur aus dem Eigenen verstanden werden könne, was letztlich auf einen Solipsismus hinauslaufen würde. Die Differenzhermeneutik wiederum hält im Grunde alles nur in seinem jeweiligen Kontext für verstehbar, was ebenfalls in eine Sackgasse der Kommunikation führt. Mall plädiert daher für eine „analogische“ Hermeneutik, die aufmerksam ist für inhaltliche „Überlappungen“ und kurz gesagt weder Deckungsgleichheit noch Inkommensurabilität annimmt, wo man auf Differenzen stößt.
Mir scheint das einleuchtend, aber man müsste das jetzt genauer überlegen. Jedenfalls denke ich, dass es schon Möglichkeiten gibt, zumindest Missverstehen zu reduzieren (was ja noch kein Verstehen garantiert), und dafür hat wieder Holenstein mit seinen „Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse“ wichtige Hinweise gegeben, ich nenne als einziges Beispiel daraus seine vierte Regel („auch wir-Regel”), dass man bei etwas, was einem bei Anderen nicht akzeptabel erscheint, danach suchen sollte, was es Ähnliches in der eigenen Tradition gibt, das auch nicht akzeptabel ist. Er sagt dazu: „Es ist gut, realistisch zu sein, aber dazu gehört, dass man die Linie zwischen dem, was man »nachsichtig« vergibt, und dem, was man »nachtragend« verurteilt, gerade nicht zwischen der eigenen und der fremden Kultur zieht.“ Denn: „Nicht nur die anderen, »auch wir« (nos quoque) verhalten uns der Tendenz nach unter gleichen Bedingungen gleich.“ Das scheint aber gar nicht so einfach zu sein, die Grenze des Vergebens oder Verurteilens nicht zwischen der eigenen und der fremden Kultur – oder Nation, oder Religion – zu ziehen.
Dahinter steht so etwas wie die „Goldene Regel“, dass man anderen nicht tun darf, wovon man nicht will, dass es einem selbst getan wird. Die Idee, auch als ethische Maxime ausgeführt, findet sich ja bekanntlich in so gut wie allen großen Traditionen der Menschheit. Und man glaubt es kaum, bei einer so verbreiteten und eigentlich so einfachen Idee, dass sie in der Praxis so schwierig sein soll. Aber es werden ja bei allen möglichen Differenzen regelmäßig doppelte Standards gesetzt, man fordert Toleranz für sich und gewährt sie anderen nicht, man plädiert für Menschenrechte, aber nur für gewisse Rechte und vor allem für die eigene Gruppe, und so weiter.
IslamiQ: Die polylogische Kommunikation und die interkulturelle Philosophie scheinen eine Reaktion gegen den Eurozentrismus zu sein. Wenn ich mir Ägypten, die Griechen, die Römer und die Osmanen vor Augen führe, frage ich mich, ob nicht alle großen Zivilisationen versucht haben sich selber in den Mittelpunkt zu stellen, um aus dieser Position die Welt zu erklären?
Franz Martin Wimmer: Kulturelle Zentrismen sind wohl etwas Universelles. Das gehört ja wohl zu jeder Kultur einfach dazu, dass sie ein Bild der Welt, eine Sicht vom Eigenen und vom Anderen entwickelt – und diese Bilder sind bei den verschiedenen Kulturen eben verschieden, aus vielen Gründen. So bilden sie jeweils ein Zentrum, „selbsternannt“ sind sie alle, wer oder was sonst als sie selbst sollte ihnen denn diesen Status zuschreiben? Aber es gibt doch unterschiedliche Typen davon, und das ist im gegenseitigen Umgang miteinander nicht unwichtig, besonders in einer globalen Gesellschaft.
Es kann in einer Kultur zum Beispiel die Überzeugung vorherrschen, dass „unsere“ Maßstäbe fraglos die richtigen für alle Menschen auf der Welt sind. Wenn andere Menschen anders denken, nach anderen Werten und Vorstellungen handeln, so muss es eben irgendwie dazu kommen, dass sie diese aufgeben. Am Schluss, als Zielvorstellung müssen alle Menschen nach „unseren“ Werten und Ideen leben, weil das eben die normalen, die allgemein menschlichen sind. „Wir“ brauchen und dürfen gar nichts von „ihnen“ übernehmen oder auch nur ernst nehmen.
Mit einer solchen Idee können aber gegensätzliche Strategien des Verhaltens gegenüber den Anderen verbunden sein. Eine Strategie kann darin bestehen, dass „wir“ alles tun müssen, damit die Gültigkeit „unserer“ Werte und Ideen auch überall auf der Welt durchgesetzt wird. Christlich-religiös gesprochen wäre das die Verpflichtung zur Missionierung, säkular gesprochen zur Zivilisierung der Welt. Eine ganz andere Strategie aus derselben Überzeugung kann darin bestehen, überhaupt nicht nach außen zivilisatorisch oder missionarisch tätig werden zu wollen, sondern ganz auf die Attraktivität des Eigenen zu vertrauen. „Sie“ (onlar), die „Anderen“, so könnte man annehmen, werden ohnedies zwangsläufig die Überlegenheit „unserer“ Lebensart erkennen und übernehmen wollen.
Ich nenne die erstgenannte Strategie expansiv zentristisch, die zweite integrativ zentristisch“. In der Realität kommt keine davon in reiner Form vor, aber es gibt tendenziell die Vorherrschaft der einen oder der anderen zu verschiedenen Zeiten und wohl auch in verschiedenen Kulturen, darum ist es sinnvoll, über ihre Konsequenzen nachzudenken. Mir scheint, dass die okzidentale Geschichte insgesamt stark von einem expansiven Zentrismus geprägt ist, wogegen sich in der chinesischen Geschichte viel deutlicher Ideen eines integrativen Zentrismus finden. Von der Idee her ist beiden gemeinsam, dass wirkliche Dialoge mit dem jeweils Fremden nicht stattfinden werden, obwohl natürlich Kulturbegegnungen und entsprechend auch Bemühungen, das Fremde zu beschreiben und zu verstehen, in beiden Fällen vorkommen. Dennoch wird man in beiden Fällen zum majestätischen Singular tendieren, wird also von „der Geschichte“ sprechen, wenn man die eigene Geschichte meint, oder von „der Philosophie“, wenn die eigene Philosophie gemeint ist. Das sind aber nicht die einzigen Typen, die uns begegnen, und es sind auch nicht diejenigen, von denen etwas wirklich Neues bei Kulturbegegnungen zu erwarten ist.
Ein dritter Typ von Kulturzentrismus liegt dann vor, wenn man davon ausgeht, dass eine Überwindung kultureller Gegensätze eigentlich nicht möglich ist. Unter dieser Annahme kann man eine Strategie verfolgen, die ich separativ zentristisch nenne. Sie hätte ihr Ziel im Erhalten von Differenzen, der kulturellen Vielfalt. Unter bestimmten Bedingungen kann damit auch gegenseitige Hochachtung oder wenigstens Anerkennung verbunden sein. Multikulturalität im globalen Rahmen wäre in dieser Perspektive das Ideal, als historische Annäherungen könnte man etwa an bestimmte Epochen im andalusischen Mittelalter denken. Dazu müsste man jetzt Einiges sagen, aber ich beschränke mich auf die theoretische Möglichkeit, dass nur die Annahme der Vielheit, der Gleichrangigkeit und der inhaltlichen Verschiedenheit praxisbestimmend sind. Unter dieser Annahme wird man solche Kulturen „rein“ erhalten und Einflüsse „von außen“ ablehnen wollen. Dann aber finden wieder, wie in den beiden ersten Fällen, keine wirklichen Wechselwirkungen oder Dialoge statt. Jede solche kulturelle Gruppe wird nach innen Geschlossenheit und nach außen Abgrenzung praktizieren müssen. Jede wird auch ihre eigene Denkweise pflegen und vielleicht in einer quasi transkulturellen, global verwendbaren Sprache propagieren – was aber nichts weiter als eine Vielheit von Ethnophilosophien ergeben würde.
Interkulturell in dem Sinn, dass „zwischen“ (lateinisch: inter) kulturell geprägten Denktraditionen etwas geschieht, das Neues und Gemeinsames hervorbringt, ist keine der drei genannten zentristischen Strategien. Es lässt sich aber eine vierte denken und auch praktizieren, die zwar von der Überzeugung ausgeht, dass das Eigene „das Beste“ ist, die aber dem Anderen ebenso zugesteht, sein Eigenes für „das Beste“ zu halten. Wer sagt „Meine Mutter ist die Beste“, der wird verstehen, was ein Anderer meint, der dasselbe über seine Mutter sagt, ohne dass er behaupten müsste, dass es nur auf eine der beiden oder der vielen Mütter „wirklich“ zutreffen könne. Man kann die „Mutter“ in einem solchen Satz auch durch andere Begriffe ersetzen wie z.B. die Sprache, die Nation, die Religion oder die Kultur. „Meine“ kann man selbstverständlich durch „unsere“ ersetzen. Philosophinnen und Philosophen könnten hier solche Begriffe wie Ethik, Logik, Erkenntnis usw. einsetzen. Sie würden dann, wenn sie – intrakulturell oder interkulturell – auf andere Denkweisen stoßen, nicht monologisch (wie bei den zwei ersten Typen) und auch nicht nur abgrenzend (wie im dritten Fall) vorgehen müssen, sondern einen Zentrismus praktizieren können, den ich tentativ zentristisch nenne (von lateinisch tentare, was soviel wie „versuchen“ im Sinn von çalışmak heißt), also in einer offenen dialogischen Begegnung, einem Bemühen, gemeinsam weiter zu kommen.
IslamiQ: Die Religion ist ein wichtiger Teil der Kultur und sie prägt diese in großen Maßen. Ich denke, das gleichsam moderne Gesellschaften, die unter dem Verdacht stehen, sich von der Religion zu entfernen, von Religionen beeinflusst werden. Ist also die interkulturelle Philosophie nicht gleichfalls eine Form der interreligiösen Philosophie? Kann man den Polylog als die Bemühung des gegenseitigen Verständnis der Philosophen mit unterschiedlichem religiösen Hintergründen verstehen?
Franz Martin Wimmer: Nein, gar nicht. Ich denke dabei überhaupt nicht an Diskurse zwischen, sagen wir, US-amerikanischen Phänomenologen, von denen einer ein Buddhist, ein anderer Jude, ein dritter Katholik und ein vierter Atheist mit anglikanischen Wurzeln wäre – sie hätten alle sehr viel gemeinsam durch die gemeinsame Lebenswelt, die gemeinsame Muttersprache usw. Wenn sie beispielsweise über eine Frage der Logik oder der Erkenntnis diskutieren, so werden ihre unterschiedlichen religiösen Anschauungen wohl gar keine Rolle spielen. Ich denke bei Polylogen vielmehr an Gespräche über philosophische Fragen, die von kulturell unterschiedlich geprägten Sichtweisen her geführt werden. Ob solche Menschen verschiedene oder identische oder auch gar keine religiösen Überzeugungen haben, ist höchstens sekundär. Daher sind philosophische Polyloge auch keine interreligiösen Verfahren.
Religionen sind ein wichtiger Teil von Kulturen, das ist zweifellos so, und Sie haben wohl auch darin recht, dass in modernen Gesellschaften Religionen nicht verschwinden, es entstehen sogar immer wieder neue Spielarten davon, und alte werden wiederbelebt. Aber das heißt überhaupt nicht, dass man Kulturen mit Religionen gleichsetzen sollte. Wenn man nur an einige der großräumig verbreiteten Kulturen denkt, so sind diese sicher nicht auf jeweils eine Religion zu reduzieren, sie sind alle multireligiös. Und andererseits sind die großräumig verbreiteten Religionen – die sogenannten Weltreligionen – in keinem Fall auf jeweils eine einzige Kultur beschränkt.
Interkulturelle Philosophie hat so viel und so wenig mit Religion zu tun wie eben Philosophie überhaupt. Religiöse Ideen, Begriffe oder Inhalte können Gegenstand philosophischer Reflexion sein, genau so, wie das mit politischen, ästhetischen oder ökonomischen Ideen der Fall ist. Natürlich können Philosophen religiös sein – und auch wenn sie es nicht sind, werden die jeweils in ihrer Gesellschaft traditionell vorherrschenden Religionen ihr Denken irgendwie beeinflussen – aber gleichsetzen sollte man das nicht.
Polyloge beschränken sich auch nicht auf ein gegenseitiges Verstehen. Sie zielen wie jedes philosophische Verfahren auf die Klärung von Begriffen, die Lösung von Fragen, Entwicklung von Argumenten ab. Das Verstehen dessen, was andere mit ihren Begriffen und Thesen oder Theoremen meinen, ist dabei eine notwendige Vorstufe, und oft wird darin auch eine beinahe unabschließbare Aufgabe liegen. Aber von der Sache her ist das Verstehen nicht das Ziel, nur ein Mittel.
IslamiQ: Wie Sie bereits erwähnt haben, beinhaltet die Entwicklung der Islamischen Philosophie kulturelle und politische Elemente des Islams. Ich möchte gerne wissen, ist dies nur für den Islam eigen? Sieht das in Indien, China und anderen Ländern anders aus? Ist es in Europa vor der Aufklärung anders gewesen? Ist die Religion in anderen Kulturen außerhalb der islamischen Welt weniger entscheidend für diese Entwicklung gewesen?
Franz Martin Wimmer: Es fällt mir bei dieser Frage auf, dass Sie zuerst von „kulturellen und politischen Elementen“ und dann doch gleich wieder nur von der Rolle der „Religion“ sprechen. Ich kann und will diese Bereiche wie vorhin schon gesagt nicht gleichsetzen und auch nicht so automatisch assoziieren – obwohl das häufig geschieht. Es erinnnert mich etwa an offiziöse katholische Texte, in denen auch dem Wortlaut nach von „kulturellen“ Differenzen gesprochen wird, in Wirklichkeit aber doch nur „Religion“ gemeint ist. Aber jetzt zu Ihrer Frage, wie ich sie verstehe. Die Entwicklung der Fragestellungen wie auch der Theorien der Philosophie, denke ich, ist überall von kulturellen – und auch politischen – Elementen mitbestimmt. Das ist in China nicht anders gewesen als in Griechenland usw. Wichtige kulturelle Faktoren sind etwa die Sprache und die Entwicklung der Organisation des Wissens, aber auch Gesellschafts- und Moralvorstellungen, Wertbegriffe oder Kommunikationsformen.
Die Religion – um die letzte Formulierung Ihrer Frage zu nehmen – spielt keineswegs überall dieselbe Rolle in der Entwicklung des philosophischen Denkens. Man kann wohl sagen, dass bei frühen griechischen Philosophen die Kritik an verbreiteten Göttervorstellungen sehr wichtig war und dass zweitens religiöse Ideen und Mythen manchmal auch für scheinbar ganz abstrakte Fragen und Theorien einen Hintergrund dargestellt haben.
Wahrscheinlich ist das sogar im Allgemeinen so. Aus späterer Zeit sind vielleicht solche Fälle aufschlussreich wie die Reflexionen in der christlich geprägten Philosophie über die Personalität des Menschen – die deutlich ihren Ursprung in theologischen Debatten über die Trinität Gottes hatte. Oder über die Willensfreiheit: Die Frage nach einem freien Willen – also, ob ich frei bin, A und zugleich nicht-A zu wollen – macht ja eigentlich überhaupt nur einen Sinn, wenn es so etwas wie sündhaftes Wollen gibt (was eine christlich-religiöse Idee ist). Auch scheinbar ganz abstrakte philosophische Fragestellungen können ihre Wurzel im religiösen Denken haben, wie dies etwa bei der Atomtheorie der Mutazila im frühen Islam der Fall ist. Wie eine solche Frage dann behandelt, wie Thesen darüber bewiesen oder widerlegt werden, ist Sache der Philosophie, nicht mehr der Religion.
Für bedeutende Philosophen des lateinischen Mittelalters gilt, dass sie (wie etwa Thomas von Aquin) der Philosophie die Rolle zuschrieben, Dienerin der Theologie (ancilla theologiae) zu sein, was man allerdings in zweifachem Sinn lesen muss, nämlich dass sie nichts weiter als eine „Dienerin“ sei, oder auch, dass eine brauchbare „Dienerin“ eben die Philosophie (und nicht etwas anderes) sei. So sehen das ja bis heute Vertreter einer „christlichen Philosophie“, die aber manchmal sogar so weit gegangen sind, zu behaupten, dass die „richtige“ religiöse Offenbarung (in diesem Fall natürlich die christliche) auch die Philosophie anderen Philosophien gegenüber überlegen mache. Mit einer derartigen Annahme sind dann, egal von welcher Religion man ausgehen will, keine echten Dialoge oder Polyloge mehr möglich, denn darin wäre Gleichrangigkeit grundlegende Voraussetzung und bei einer derartigen Annahme ist Gleichrangigkeit ausgeschlossen.
Die Entstehung der Philosophie im Islam – in der Phase vor der Übersetzung griechischer Philosophen ins Arabische, also in den Reflexionen des Kalam, der Mutazila, der Aschariten – sehe ich deutlich mehr als in einigen – nicht allen – anderen Fällen im Zusammenhang mit dem Islam als Religion. Es waren offenbar in erster Linie religiöse Ideen, Begrifflichkeiten des Koran, die da zur Entwicklung von Theorien und Argumenten geführt haben. Und das ist eben nicht immer so. Sehen wir uns kurz ein ganz anderes Beispiel an:
Wie verhält es sich mit chinesischer Philosophie der klassischen Zeit? Sie ist nicht – im Unterschied zu einigen anderen Ursprüngen von Philosophie – gekennzeichnet von der Auseinandersetzung mit einer Religion. Die Grundfrage war, wie eine gute Gesellschaft zu schaffen und zu erhalten sei, und das war keine metaphysische und auch keine religiöse Frage. Konfuzius verweigert ausdrücklich, sich zu Fragen nach dem Jenseits oder nach Göttern zu äußern, er scheint in solchen Punkten schlicht agnostisch gewesen zu sein. Bei den klassischen Daoisten ist von religiösen Fragen auch keine Rede, ebensowenig natürlich bei den Legalisten. Einzig im Mohismus taucht die Gottesfrage auf, und selbst da kann man den Eindruck haben, dass es lediglich um eine ordnende Instanz geht, die für eine Gesellschaft für notwendig gehalten wird. Obwohl sich dann sowohl der Konfuzianismus als auch der Daoismus zu Religionen mit Ritualen, einem Götter- und Heiligenkosmos etc. entwickelt haben, ist seit der vorchristlichen Achsenzeit in China – wie später in anderen Ländern Ostasiens – Agnostizismus und Atheismus auch für Beamte in höchsten Staatsämtern stets eine selbstverständliche Option gewesen.
Im Vergleich dazu ist philosophisches Denken im frühen Islam, wie übrigens auch in der europäischen Neuzeit, viel stärker mit der vorherrschenden Religion verbunden gewesen, ob das nun in apologetischer oder in kritischer Haltung bestand.
IslamiQ: Ich versuche mich in Ihre Lage zu versetzen… Gehen wir davon aus, dass die gesamte Menschheit den gesamten Kosmos mit einem türkisch-islamisch zentriertem Blick betrachten würde; das würde mich persönlich Stolz machen und ich würde mir wahrscheinlich keine Mühe machen etwas daran zu ändern. Was wird es uns, aber vor allem Europa bringen, wenn wir den Eurozentrismus durchbrechen können?
Franz Martin Wimmer: Sind Sie sicher? Wenn Sie schon einen „türkisch-islamischzentrierten“ Blick ansprechen, so sollte ich meinerseits wohl gar nicht an Europa denken, sondern an etwas Nationaleres, aber an was? An Österreichisches? Oder doch wegen der gemeinsamen Sprache an Deutsches? Und wenn ich dann an das System der Ortsangaben auf dem Globus dächte, sollte ich wohl traurig sein, dass die Längengrade von Greenwich aus gemessen werden und nicht von Wien oder Berlin aus? Oder ein bisschen stolz, weil London doch auch zu Europa gehört?
Und was wäre mit zweifelhaften Denkprodukten? Soll ich etwa stolz darauf sein, dass in Europa Rassentheorien entwickelt worden sind, die auch weltweite Auswirkungen haben und dennoch sowohl falsch als auch menschenverachtend sein könnten? Wären Sie zum Beispiel stolz, wenn die eine Zeit lang von Atatürk favorisierte Theorie vom Türkischen als der Ursprache der Menschheit, die Sonnensprachtheorie (Güneş Dil Teorisi) überall geglaubt worden wäre, selbst wenn sie falsch war?
Was gegen jeden Kulturzentrismus spricht, der mit einem Universalitätsanspruch auftritt, ist die Gefahr der Blindheit gegenüber den Leistungen der Anderen. Damit wird ein Verlust in Kauf genommen, ein Verlust für die Menschheit zugunsten einer anmaßenden Geltung des beschränkten Eigenen. Das ist jetzt ganz allgemein gesagt, aber denken Sie zum Beispiel an einen Begriff, der im Zusammenleben von Menschen ziemlich wichtig ist, den Begriff der (Religions-)Toleranz. In so gut wie allen bei uns gängigen Darstellungen dieser Idee wird eine ausschließlich europäische Geschichte dieses Begriffs erzählt, als wäre so etwas den Menschen anderer Kulturen nicht in den Sinn gekommen. Nun ist diese europäische Geschichte der Toleranzidee als eine Geschichte des Widerstands reich und eindrucksvoll. Das bleibt sie aber auch dann, wenn man nicht verschweigt, dass Ashoka (º 232 vAZ), der buddhistische Herrscher Indiens im dritten vorchristlichen Jahrhundert Gesetzestafeln an den Grenzen seines Reiches aufstellen ließ, auf denen die Diskriminierung von religiös Andersgläubigen verboten wurde. Und auch, wenn man daran erinnert, dass frühe Suren im Koran Toleranz für die „Menschen des Buches“, also für Juden, Christen und Sabäer, vorschreiben. In keiner anderen der großen Religionen gibt es einen vergleichbar zentralen Text dazu. Dass das osmanische Imperium über lange Jahrhunderte Religionstoleranz praktizierte, wie sie damals im zeitgenössischen Europa undenkbar gewesen wäre, gehört ebenso zu dieser Geschichte wie ein Traktat von Katib Çelebi (º 1657), der unter Berufung auf ein Konzept von Ibn Khaldun (º 1406) die Verpflichtung zur Toleranz von Andersdenkenden aus der Natur des Menschen begründet. Eine Weltgeschichte der Toleranzidee kann sich also eigentlich gar nicht auf deren Geschichte in Europa beschränken. Dass unsere Lehrbücher das tun, ist eine Anmaßung und eine Schwäche.
Dies sind jetzt nur einige wenige „archäologische“ Hinweise und sie betreffen mit dem Toleranzbegriff nur einen Begriff der praktischen Philosophie. Ich meine sie auch nur als Hinweis und als Aufforderung, in der Geschichte des menschlichen Denkens zu philosophischen Fragen sich generell möglichst nicht auf eine einzige Kultur zu beschränken. Es tut niemand weh, auf der Suche nach brauchbaren Ideen sich nach Anregungen anderswo auf der Welt umzusehen. Außer natürlich, man ist sowieso der Meinung, dass nur in der eigenen Tradition alles Wichtige und Richtige zu finden sei. Aber selbst dann hätte man einen guten Grund, sich anderswo umzusehen, um nämlich diese Meinung möglichst starken Überprüfungen auszusetzen.
Was das Europa bringen könnte? Naja, wäre das nichts, wenn man eine Borniertheit erkennt, wo eine Borniertheit vorliegt? Und wenn einem damit etwas Neues erst zugänglich würde? Mir ist das seinerzeit ziemlich peinlich gewesen, als ich meine Dissertation zu einer Frage der Geschichtsphilosophie geschrieben und veröffentlicht hatte, dieses Gebiet auch an einer Universität unterrichtete und dann erst draufkam, dass ich vom ersten wirklich bedeutenden Geschichtsphilosophen der Menschheitsgeschichte keine Zeile gelesen hatte, dass mir nicht einmal sein Name in all den Texten begegnet war, auf denen mein Wissen beruhte. Ich hatte also eine provinzielle Wissensgrundlage auf diesem Gebiet, und der Theoretiker, dem ich erst später begegnete, kam aus einer anderen Provinz des menschlichen Denkens, es war der schon erwähnte Ibn Khaldun. Und er hatte bemerkenswert viel zu sagen. – Wie es mir da im Fall der Geschichtsphilosophie ergangen ist, kann es einem durchaus auch auf anderen Gebieten ergehen, dass nämlich die Welt des menschlichen Denkens viel reicher ist, als einem die eigene Tradition weismacht.
IslamiQ: Zum Abschluss würde ich Sie fragen wollen, wann die Interkulturelle Philosophie als ein Gegenvorschlag zum Eurozentrismus der Philosophie aufkam? Von welchen Personen kam jener und wie kann die Interkulturelle Philosophie in der Breite der Philosophie etwas verändern?
Franz Martin Wimmer: Der Ausdruck „interkulturelle Philosophie“ wurde zuerst in meinem Buch von 1990 (Interkulturelle Philosophie. Theorie und Geschichte) und ab dann zuerst im Deutschen, später auch im Englischen und anderen Sprachen zunehmend verwendet. Von mir war damit ein philosophischer Zugang gemeint, in dem kulturelle Bedingtheiten von Philosophie ernst genommen, aber zugleich auch Interaktionen angezielt werden sollten, die über bloßes Vergleichen (in einer „komparativen Philosophie“) hinausgingen. Mir scheint diese doppelte Abgrenzung immer noch wichtig und sinnvoll, einige AutorInnen halten mittlerweile jedoch die Unterscheidung von „komparativ“ (oder vergleichend) und „interkulturell“ für eher unwichtig und verwenden beide Ausdrücke gleichbedeutend. Bereits zuvor hatten – ohne diesen neuen Ausdruck – andere Arbeiten einen sehr ähnlichen Ansatz verfolgt, vor allem in philosophiehistorischer Absicht, wie z.B. Bücher von Ram Adhar Mall und Heinz Hülsmann (Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa, 1989), von einer Autorengruppe um Ralf Moritz (Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde?, 1988) oder auch in einem Sammelband von mir (Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika, 1988). Im deutschen Sprachraum erschienen zudem in den frühen 1990er Jahren Arbeiten von Heinz Kimmerle zur afrikanischen Philosophie, von Raúl Fornet-Betancourt und Heinz Krumpel zur Philosophie in Lateinamerika, wie auch verstärkt zu anderen nicht-europäischen Philosophien. Mit der Gründung einer internationalen „Gesellschaft für interkulturelle Philosophie“ (GIP, 1992), regelmäßigen Kongressen usw. verbreitete sich der Ansatz in dieser Zeit. Inhaltliche Schwerpunkte bildeten neben philosophiehistorischen Themen vor allem Fragen der Ethik, der Gesellschaftstheorie, aber auch der Logik, sowie der Kultur- und Religionstheorie. Das sind wahrscheinlich auch die Gebiete, in denen der interkulturelle Ansatz im Rahmen akademischer Philosophie sich zuerst etablieren kann.
IslamiQ: Sie sind einer der Vorreiter der Interkulturellen Philosophie in Wien. Soweit ich weiß, versuchen Sie seit einem Viertel Jahrhundert den eurozentristischen Blick in der Philosophie zu durchbrechen. Sie publizieren seit 1998 die Zeitschrift Polylog. Konnten Sie mit Ihren Bemühungen in der Philosophie einen Paradigmenwechsel auslösen? Wenn es einen Paradigmenwechsel gab, war diese Veränderung nur in deutsprachigen Ländern zu beobachten oder hatten Sie ein internationales Echo?
Franz Martin Wimmer: Von einem Paradigmenwechsel innerhalb der Philosophie kann man im Allgemeinen sicher nicht sprechen. Die Zeitschrift, die von einer Redaktionsgruppe und der „Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie“ (WiGiP) herausgegeben wird, ist vorwiegend im deutschen Sprachraum verbreitet und ihr Konzept entspricht nicht gerade dem Zeitgeist: Ein großer Teil der Beiträge zu den jeweiligen Schwerpunktthemen kommt aus nicht-okzidentalen Regionen, muss aus verschiedenen Sprachen ins Deutsche übersetzt werden – wogegen man heute häufig mit „international“ in der Praxis lediglich Englisches assoziiert. Aber die Idee entwickelt sich doch zunehmend international mit Veröffentlichungen und anderen Projekten in verschiedenen europäischen wie auch außereuropäischen Sprachen. International ist das Echo durchaus, unüberhörbar ist es nicht.
Das Gespräch führte Ahmet Faruk Çağlar