Der Politik- und Kulturwissenschaftler Kien Nghi Ha geht den Begriffen Nation, Ethnizität und kulturelle Identität nach und zeigt, wie man Fremd- und Selbstzuschreibungen bei der Ethnisierung durchbrechen kann. Vielfalt spielt dabei eine besondere Rolle.
Das schwierige Verhältnis von Gleichheit und Differenz durchzieht kontinuierlich die alten und aktuellen Debatten um Wir-Gruppen in den rassistischen wie anti-rassistischen Diskursen. Diese Begriffe sind nicht per se schuldig oder unschuldig, unterdrückend oder emanzipatorisch, sondern unterliegen einem fließenden Bedeutungswandel. Ihre sozialen Wirkungen und semantischen Bedeutungen entfalten sich erst im Kontext der jeweiligen Artikulation. Daher gibt es keine sichere und unveränderliche Position in diesem Diskurs. Es ist diese relative Unbestimmtheit, die eine Auseinandersetzung mit den Fragen nach Einheit und Diversität, Gleichheit und Differenz, Kollektiv und Individuum, Universalismus und Partikularismus so außerordentlich spannend, aber auch schwierig macht.
Statt sich festzulegen, kommt es vielmehr darauf an, die dahinterstehenden Begriffe von Kultur und Identität immer situativ aufeinander zu beziehen. Daher ist es notwendig, diese Begriffe durch die Brille der geschichtlichen Erfahrungen zu betrachten. Im Fall rassifizierter Einwander_innen wird deutlich, dass ihre zurückliegenden wie auch aktuellen Erfahrungen in ihren jeweiligen Lebenswelten durch die vielfältigen Auseinandersetzungen mit Rassismus und den unterschiedlichen Facetten gesellschaftlicher Benachteiligung in den westlichen Nationalstaaten grundlegend geprägt wurden.
Seit der Etablierung der kolonialen Moderne im Rahmen der europäischen Globalexpansionen sind rassistische und nationalistische Ideologien zum historischen Normalfall geworden. Die Nation wie auch der Rassismus bedürfen zur eigenen Konstitution den Ausschluss des Anderen, dem im schlimmsten Fall die Funktion des Feindes und des Opfers zukommt. Ihr existenzielles Bedürfnis nach Totalität hat diese Ideologien nicht nur in die Lebenswelten, Handlungspraktiken und Erinnerungen der rassistischen Subjekte und ihrer Institutionen eingeschrieben. Sie konnten darüber hinaus durch biologistische und kulturelle „Rassenkonstruktionen“ auch eingewanderten Gruppen ihren rassifizierenden Stempel aufdrücken. In der westdeutschen Einwanderungsgesellschaft wendet sich der Rassismus besonders gegen türkischstämmige Migrant_innen, die durch den Einsatz biologischer wie kultureller Stereotypisierungen als fremde außereuropäische Ethnie konstruiert und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Seit der Wiedervereinigung Deutschlands wird die Ablehnung zunehmend mit anti-muslimischen und islamophoben Feindbildern unterlegt. Die Betroffenen werden nun weniger als Angehörige eines minderwertigen „kulturfremden Volkes“, sondern verstärkt aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Islam abgelehnt.
Grundsätzlich ist es wichtig zu beachten, dass die Behauptung von nationalen Gegenidentitäten in migrantischen Communities sich im Kontext eines gesellschaftspolitischen Machtverhältnisses abspielt. Je stärker die Betroffenen aufgrund ihrer ethnischen bzw. nationalen Herkunft rassifiziert und strukturell ausgrenzt werden, desto stärker können Fremd- und Selbstethnisierung ineinandergreifen und sich gegenseitig verstärken. Um die erlittene kulturelle und persönliche Abwertung der deutschen Dominanzgesellschaft zu kompensieren und sich selbst in einem als feindlich erfahrenen Umfeld zu stärken, wird im Gegenzug die eigene kulturelle Identität als unhinterfragbare ethno-nationale Zugehörigkeit idealisiert. Ethnische Zugehörigkeit als Mittel der politischen Mobilisierung und gesellschaftlichen Interessensvertretung einzusetzen, ist im Kampf gegen Diskriminierung durchaus funktional und rational. Jedoch kann die Hinwendung zu den vermeintlich eigenen kulturellen Ursprüngen und Traditionen, die kritiklose Beschwörung der ethno-nationalen Identität der Herkunftsgesellschaft mit einer Distanzierung und Abwertung der deutschen Gesellschaft einhergehen, die als Ort des eigenen Ausschlusses negativ besetzt ist. Als gesellschaftliche Minderheit reicht die eigene unterlegene Machtposition jedoch in keinem Fall aus, um einen „umgekehrten Rassismus“ zu etablieren.
Allerdings ist Selbstethnisierung trotz der Aneignung und Umwertung rassistischer Zuschreibungen inzwischen als emanzipative Praxis fragwürdig geworden. Mit der Veränderung des gesellschaftlichen Kontexts haben sich auch die Zielsetzungen antirassistischer Politik weiterentwickelt. Heute geht es nicht nur um die Sicherung des kulturellen und sozialen Überlebens, sondern auch um die Verwirklichung politischer Gleichberechtigung und sozialer Gleichstellung. Aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive formuliert, bedeuten diese Ziele nichts anderes als radikale Demokratisierung und Durchsetzung der universell verstandenen Bürger_innenrechte als erweiterte Menschenrechte. Selbstethnisierung definiert im Gegensatz dazu eine partikularistische Identitätspolitik, die für Gruppen, die kollektiv durch strukturelle Benachteiligung an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden, zeitweilig sinnvoll und berechtigt ist. Diese Frage muss daher immer wieder kontextuell neu entschieden werden. Dabei ist zu bedenken, dass ethnischer Partikularismus letztlich keine positive gesellschaftliche Utopie anbieten kann, weil eine Mindestanforderung an jede Version des guten menschlichen Zusammenlebens im Universalismus, d. h. in der Nicht-Ausgrenzung liegt. Ethnisierung als politische Praxis wird dieser Perspektive nicht gerecht, sondern kann im Gegenteil für rassistische Diskurse anschlussfähig sein.
Verstärkt wird der Zusammenhang zwischen Fremd- und Selbstethnisierung, da auch in der bundesrepublikanischen Multikulturalismus-Debatte Kultur zumeist als ein vergemeinschaftetes Gut verstanden wird, dass die Mitglieder eines ethnisch-nationalen Kollektivs miteinander teilen. Identität wird dabei als einheitlich und starr gedacht. Dahinter steht eine determinierte binäre Vorstellung von kultureller Identität, die das Wir von dem Anderen, das Eigene von dem Fremden trennt und sich dabei in eine privilegierte Position setzt. Nur durch diese totalitäre Vereinnahmung von Kultur ist es möglich, essenzialistische Ethnien und Nationen zu denken. Als Grundlage des Multikulturalismus können Essentialismen keine befreienden Zukunftsvisionen hervorbringen.
Die ethnische Gemeinschaft wird oft als Heimat in der Fremde, als Raum sozialer Beziehungen und ethnischer Ökonomie gedacht, die die Bedürfnisse nach sozio-kultureller Reproduktion und Repräsentation abdeckt. Das auf dieses Verständnis basierende Modell der ethnischen Identität begreift sich daher auch im Migrationsprozess als Verlängerung der Herkunftsgesellschaft mit ihrer nationalen Zugehörigkeit. Sie stellt eine lebensweltliche Abbildung des Versprechens der ethnischen Identität nach essenzialistischer Verbundenheit mit einem kollektiven Wesen jenseits historisch konkreter Zeit dar. Diese mythologische Vorstellung kollektiver Identifikation ist grundsätzlich fragwürdig. Im Folgenden werde ich am Beispiel der türkischen Migration aufzeigen, dass die Aneignung deutsch-türkischer Identität ein aktiver und andauernder Prozess ist, der nur entlang der Kategorie der Differenz erfolgen kann. Weil es einen Unterschied macht, Unterschiede zu kennen, ist die Dekonstruktion der türkischen Ethnizität in der Diaspora eine notwendige Aufgabe.
Obwohl verallgemeinernde Annahmen über „die Türken“ sehr verbreitet sind, erweist sich die ethnische Gemeinschaft bei näherer Betrachtung als ein in sozialer, politischer wie kultureller Hinsicht äußerst vielfältiges und widersprüchliches Gebilde. Auch hier zeigt sich, wie wichtig eine sorgfältige Betrachtung der Geschichte bleibt. Bereits die Einwanderung, die ein zentrales Ereignis im Leben der Migrierten darstellt, ist eine mit wichtigen Unterschieden ausstaffierte gemeinsame Erfahrung. Sie nimmt durch die unterschiedliche historische Einbettung innerhalb unterschiedlicher sozio-politischer Kontexte verschiedene Bedeutungen für die Betroffenen an. So lassen sich nicht weniger als sechs verschiedene z. T. ineinanderlaufende, z. T. strikt voneinander getrennte Phasen oder Einzelgeschichten unter dem Metabegriff der türkischen Einwanderung in die BRD ausmachen. Sie betreffen voneinander differierende Menschengruppen aus verschiedenen Regionen mit bestimmten politischen oder ethnischen Hintergründen, geschlechts-, alters- und bildungsspezifischen Merkmalen. Durch diese Differenzierung werden sie im Einwanderungsland BRD in jeweils eigene Rechts- und Sozialpositionen eingewiesen. Die türkische Politologin Nermin Abdan-Unat unterscheidet zwischen einer experimentellen und temporären Arbeitsmigration bis 1961, die von der staatlich geförderten Masseneinwanderung bis 1973 abgelöst wurde. Danach folgte die unerlaubte Niederlassung mit Touristenvisa bis Anfang der 1980er Jahre und der Familiennachzüge, die um die andauernde Zuwanderung durch türkische und kurdische Flüchtlinge ergänzt wurde.
Wie realitätsmächtig soziale Differenzierungen und die mitgebrachten Geschichten innerhalb der vorgestellten ethnischen Gemeinschaft auch in der Gegenwart sind, lässt sich etwa anhand der räumlichen Verteilung der deutsch-türkischen Bevölkerung in West-Berlin aufzeigen, die nach regionaler Herkunft und sozialer Schichtung relativ getrennt wohnt. Während die durch ihre ländliche Herkunft und ihren Bildungshintergrund am stärksten marginalisierten Familien sich hauptsächlich in den traditionell proletarischen Innenstadtbezirken niederlassen, können sich Angehörige der westlich gebildeten Mittelschicht mit der Zeit in den bürgerlichen Bezirken im Südwesten Berlins etablieren.
Obwohl die strukturelle Benachteiligung weiter besteht, steigt die soziale Differenzierung innerhalb der deutsch-türkischen Community stetig an, ebenso wie sie sich politisch und religiös zunehmend ausdifferenziert. Die Entstehung einer Mittelklasse aus selbstständigen Kleinunternehmern, der sich häufende Aufstieg ins Angestellten- und Facharbeiterverhältnis und der beginnende Zugang zur Universität zeigen eine soziale Mobilität in Richtung Bildungs- und Kleinbürgertum an. Diese Ausdifferenzierungen nehmen gerade zwischen den Generationen verstärkt zu. Andere Unterschiede, die sich auf „traditionell-türkische“ kontra „westlich-moderne“ Wertorientierungen oder regionale und soziale Herkünfte beziehen, verlieren mit zeitlichem Fortschreiten der Niederlassung eher an Bedeutung. Sie werden durch neue Differenzierungsprozesse überlagert und schließlich abgelöst. Für die in der BRD geborenen Kinder spielen viele historisch überlieferte türkische Attribute in ihrem bundesrepublikanischen Alltag kaum noch eine Rolle, während erfundene Traditionen und neue kulturelle Stile an Bedeutung gewinnen.
Die Community ist und kann kein Ort einer uneingeschränkten Homogenität und fraglosen Solidarität sein. Nur durch die Überzeugung, dass die alten wie die neuen gesellschaftlichen Konflikte darin ihren Platz finden, kann ein produktiver Begriff von Gemeinsamkeit entwickelt werden, der mit den bestehenden Interessensgegensätzen auskommt. Inzwischen ist es unumgänglich geworden, durch das Erkennen der unterdrückten Differenzen innerhalb jeder Gemeinschaft eine kritische Position einzunehmen. Mit diesem Blickwechsel geht auf theoretischem Terrain eine dekonstruktivistische Reformulierung des Ethnizitätsbegriffs einher. Identitätspolitik ist ein spannungsreicher Prozess, der permanent nach einer selbstkritischen Überprüfung und Distanzierung verlangt. Genauso ist auch eine andere, komplexere und widersprüchlichere Sichtweise von Kultur ist nötig. Der amerikanisch-palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said dachte die eigene Kultur als das Andere: “Far from being unitary or monolithic autonomous things, cultures actually assume more ‘foreign’ elements, alterities, differences, than they consciously exclude”.
So wie die türkische war auch jede andere unter Zwang homogenisierte und den Gewalten der Moderne ausgesetzte Nationalkultur nie vereinheitlicht, und ist es bis heute nicht. Denn das Türkische vereinigt in sich auch die zum Schweigen gebrachten und doch lebendigen kurdischen, armenischen, griechischen, syrischen, jesidischen und unzähligen anderen regionalen Präsenzen, die für sich wiederum einen eigenen Mikrokosmos bilden. An dieser Stelle ist daher auf einen Kulturbegriff zu verweisen, der seine differenziellen Anteile nicht ableugnet, sondern sie als das Zentrum seines Wesens, als das Wesentliche seiner Existenz betrachtet. Kultur ist demnach immer eine Kultur des Vermischens (gewesen), das Unreinheit, Unschärfe und Interferenz produziert.
Ethnische Identitäten, weil sie nur kulturell begründet werden können, sind weit davon entfernt ein gegebenes, natürliches oder transzendentales Verhältnis zu repräsentieren. Bei der Konstruktion von Ethnizität fließen unweigerlich gesellschaftliche Macht- und Anerkennungskämpfe mit ein, die um die Besetzung umstrittener Begriffe und Bedeutungen ringen. Erfundene Traditionen und symbolische Ethnizitäten, die beim Abwehrkampf gegen die rassistisch konnotierte Geschichts- und Subjektlosigkeit mit ihren selektiven Rekonstruktionen von Geschichte operieren, müssen sich von dem Versuch distanzieren, eine neue Totalität zu errichten. Auch wenn Ethnizität wie auch andere Formen kultureller Identitäten politische Projekte sind, die auf der Grundlage kollektiver Solidarität und der gegenseitigen Anerkennung als gleiche Teilhabe an der Gesellschaft fordern und den heimatlos Gewordenen ein neues Zuhause bieten, ist diese Identitätsform nie durch einfache, singuläre Identifikation zugänglich.
Dabei geht es um eine Denkweise, in der Ethnizität und Differenz zusammen gedacht werden können, anstatt sich wie im Nationalismus auszuschließen. Ihre Bedeutungen sind wandelbar, weil sie erst aus dem jeweiligen Kontext hervorgehen. Der Bezug zum postkolonialen Diskurs ergibt sich unmittelbar aus dieser Denkrichtung. In diesem Diskurs werden aus den Perspektiven der ehemals Kolonisierten in den Peripherien und rassifizierter Menschen of Color in den westlichen Zentren Geschichten, Kulturen und Identitäten rekonstruiert und für die Vision der Grenzüberschreitung und Hybridisierung geöffnet. Diese kulturellen Repräsentationen der Differenz mit ihren widersprüchlichen wie wandelbaren Identitäten können für eine Kultur des Widerstandes im Diskurs und im diasporischen Alltag bedeutsam werden. Als eine politische Praxis, die die Eindeutigkeit von sozialen, kulturellen, politischen und geografischen Grenzen verwirrt, kann sie die Grundlage des Freund-Feind-Schemas, auf die jeder Rassismus und Nationalismus angewiesen ist, ins Leere führen.