Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Ozan Zakariya Keskinkılıç.
IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und Ihrem akademischen Werdegang sagen?
Ozan Zakariya Keskinkılıç: Ich bin Politikwissenschaftler, Rassismusforscher und freier Autor. Ich promoviere an der Humboldt-Universität zu Berlin über Subjektivierungsprozesse und Selbsttechniken angesichts des antimuslimischen Rassismus‘. 2021 wurde ich als Mitglied der Expertenkomission gegen antimuslimischen Rassismus im Land Berlin berufen.
Lange Zeit sah ich meinen Traumberuf in der Psychologie. Nach einem Semester wechselte ich dann aber doch das Fach. Mich trieben politische und globalhistorische Fragen um, zu Migration, Nation, Identität und Machtasymmetrien. Ich zog nach Wien, studierte dort Internationale Entwicklung im Bachelor und konnte so früh den Schwerpunkt auf Postkoloniale Theorie und Rassismusforschung legen. Mein Masterstudium absolvierte ich in Berlin (Internationale Beziehungen) und forschte als studentischer Mitarbeiter zu Kolonialgeschichte und Erinnerungskultur. Dann ging alles sehr schnell: Lehraufträge und wissenschaftliche Publikationen.
Nach dem Abschluss trat ich dann eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an und forschte mit meinen Kolleginnen Prof. Iman Attia und Büşra Okcu drei Jahre zu Gouvernementalität, antimuslimischer Rassismus und Versicherheitlichung. Kürzlich erschien unsere Monographie „Muslimischsein im Sicherheitsdiskurs. Über den Umgang mit dem Bedrohungsszenario“. Und nun konzentriere ich mich hauptsächlich auf meine Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fachbereich Politikwissenschaft.
IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?
Keskinkılıç: In meinem Dissertationsprojekt beschäftige ich mich mit Subjektivierungsprozessen und stelle die Frage, welche Selbstbeziehungen Muslime angesichts ihrer Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus entwickeln; und das in einem breiten lebensgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Kontext. Dazu führe ich biografisch-narrative Interviews und rekonstruiere Selbsttechniken, durch die sich Subjekte konstituieren und formen, um Rassismuserfahrungen zu bewältigen. Unter anderem untersuche ich wie Diskriminierungen erinnert und biografisch verarbeitet werden, welchen Einfluss sie auf Selbstbilder und Lebensverläufe haben und welche Selbstverhältnisse Muslime und als solche wahrgenommenen Menschen in ihrem Alltag kultivieren.
IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselergebnis?
Keskinkılıç: Nachdem ich mehrere Jahre dazu forschte, wie sich antimuslimischer Rassismus in medialer Berichterstattung und politischen Debatten ausdrückt, was zentrale Motive und Argumentationsmuster sind und welche Rolle das Erbe des europäischen Orientalismus dabei spielt, war es Zeit für einen Perspektivenwechsel vom hegemonialen Material hin zu den Erfahrungshorizonten der Betroffenen. Meiner Einschätzung nach stehen wir in der Forschung zum antimuslimischen Rassismus noch ziemlich in den Kinderschuhen, vor allem wenn es darum geht, den Stimmen und Erfahrungen von Muslimen und als solche Wahrgenommene Gehör zu verschaffen.
Ein Schlüsselerlebnis war mit Sicherheit die internationale Konferenz „Living with Islamophobia“ am Jüdischen Museum Berlin im Jahr 2018, an der ich organisatorisch mitwirkte. Wir luden prominente Wissenschaftler aus dem internationalen Raum ein, um den interdisziplinären und transnationalen Austausch anzuregen. Wir wollten die Frage, was es bedeutet mit der Erfahrung von antimuslimischem Rassismus in Europa und den USA zu leben, in den Fokus nehmen. So lernte ich nicht nur inspirierende Persönlichkeiten kennen. Darüber hinaus ermutigte mich die Fachkonferenz dazu, den Perspektivenwechsel in der deutschen Wissenschaftslandschaft zum antimuslimischen Rassismus mit voranzutreiben.
IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?
Keskinkılıç: Es wird nicht verwundern, dass die Corona-Pandemie den Arbeitsprozess überschattet und das bereits seit über einem Jahr. Promovieren mit Kind ist ohnehin für viele Doktoranden eine große Herausforderung; wenn dann auch noch pandemiebedingt Betreuungsangebote wegfallen, ist das umso schwieriger. Zu meiner Freude habe ich Familie, Freunde und Kollegen, die unter die Arme greifen und ein offenes Ohr haben.
Ich darf mich zudem glücklich schätzen, mit Prof. Naika Foroutan und Prof. Iman Attia zwei Doktormütter zu haben, von deren langjähriger Expertise und Unterstützung ich profitieren kann. Die regelmäßigen Colloquien, die seither digital stattfinden, gehören zum wichtigen Bestandteil, um Krisen in der Forschung zu besprechen, Fortschritte in der Arbeit zur Diskussion zu stellen und mit kritischen Köpfen weiterzudenken. Natürlich spielt auch die Finanzierung des Promotionsvorhabens eine wichtige Rolle.
Als Stipendiat des Avicenna-Studienwerks habe ich das große Privileg, finanziell und ideell gefördert zu werden. Auch dieses persönliche und professionelle Umfeld von Geschäftsstelle und Mitstipendiaten verschiedenster Fachbereiche und Lebensorte bereichert den Promotionsalltag. Genauso wie meine Forschung selbst am empirischen Material, das methodische Herantasten und die theoretischen Abstraktionen. Ich sitze Tage, manchmal auch Wochen an einzelnen Interviewsequenzen und tauche ein in die biografischen Erzählungen von Muslimen, die mir aus ihrem Leben berichten und sich mitteilen. Es sind oft sehr emotionale Momente, diese Arbeit berührt mich sehr.
Die Promotion hat mich im Grunde auch zu philosophischen und psychologischen Fragestellungen über Affekte, Selbstwahrnehmungen und Bewältigungsstrategien geführt, mit dem Unterschied, dass ich sie nun in einen rassismuskritischen Zusammenhang von Macht, Diskurs und Subjekt setze und an die Arbeit der letzten Jahre anknüpfen kann.
IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?
Keskinkılıç: Tatsächlich knüpft die wissenschaftliche Relevanz direkt an die gesellschaftspolitische an. Mit dem antimuslimischen Rassismus haben wir es mit einer Diskriminierungsform zu tun, die im Deckmantel der Religions- und Kulturkritik getarnt wird und salonfähig ist. Vielen fällt es schwer, antimuslimischen Rassismus zu identifizieren, oder etwas dagegen zu unternehmen. Mit meiner Forschung rücke ich Möglichkeiten der Selbstermächtigung und des Umgangs mit Rassismuserfahrungen ins Zentrum. Im besten Fall fließen die Erkenntnisse direkt in die Bildungsarbeit ein, um Muslimen in ihrem Umgang mit Rassismus zu stärken, und finden Eingang in gesellschaftspolitische Maßnahmen zu gleichberechtigter Teilhabe und Partizipation.