MUSLIMISCHE AKADEMIKER

„Antimuslimischer Rassismus getarnt als Religionskritik ist schwer zu identifizieren“

Akademiker widmen sich den wichtigen Fragen unserer Zeit. IslamiQ möchte zeigen, womit sich muslimische Akademiker aktuell beschäftigen. Heute mit Ozan Zakariya Keskinkılıç.

02
06
2021
Ozan Zakariya Keskinkılıç (c)privat, bearbeitet by iQ
Ozan Zakariya Keskinkılıç (c)privat, bearbeitet by iQ

IslamiQ: Können Sie uns kurz etwas zu Ihrer Person und Ihrem akademischen Werdegang sagen?

Ozan Zakariya Keskinkılıç: Ich bin Politikwissenschaftler, Rassismusforscher und freier Autor. Ich promoviere an der Humboldt-Universität zu Berlin über Subjektivierungsprozesse und Selbsttechniken angesichts des antimuslimischen Rassismus‘. 2021 wurde ich als Mitglied der Expertenkomission gegen antimuslimischen Rassismus im Land Berlin berufen. 

Lange Zeit sah ich meinen Traumberuf in der Psychologie. Nach einem Semester wechselte ich dann aber doch das Fach. Mich trieben politische und globalhistorische Fragen um, zu Migration, Nation, Identität und Machtasymmetrien. Ich zog nach Wien, studierte dort Internationale Entwicklung im Bachelor und konnte so früh den Schwerpunkt auf Postkoloniale Theorie und Rassismusforschung legen. Mein Masterstudium absolvierte ich in Berlin (Internationale Beziehungen) und forschte als studentischer Mitarbeiter zu Kolonialgeschichte und Erinnerungskultur. Dann ging alles sehr schnell: Lehraufträge und wissenschaftliche Publikationen. 

Nach dem Abschluss trat ich dann eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an und forschte mit meinen Kolleginnen Prof. Iman Attia und Büşra Okcu drei Jahre zu Gouvernementalität, antimuslimischer Rassismus und Versicherheitlichung. Kürzlich erschien unsere Monographie „Muslimischsein im Sicherheitsdiskurs. Über den Umgang mit dem Bedrohungsszenario“. Und nun konzentriere ich mich hauptsächlich auf meine Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin im Fachbereich Politikwissenschaft.

IslamiQ: Können Sie uns Ihre Dissertation kurz vorstellen?

Keskinkılıç: In meinem Dissertationsprojekt beschäftige ich mich mit Subjektivierungsprozessen und stelle die Frage, welche Selbstbeziehungen Muslime angesichts ihrer Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus entwickeln; und das in einem breiten lebensgeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Kontext. Dazu führe ich biografisch-narrative Interviews und rekonstruiere Selbsttechniken, durch die sich Subjekte konstituieren und formen, um Rassismuserfahrungen zu bewältigen. Unter anderem untersuche ich wie Diskriminierungen erinnert und biografisch verarbeitet werden, welchen Einfluss sie auf Selbstbilder und Lebensverläufe haben und welche Selbstverhältnisse Muslime und als solche wahrgenommenen Menschen in ihrem Alltag kultivieren.

IslamiQ: Warum haben Sie dieses Thema ausgewählt? Gibt es ein bestimmtes Schlüsselergebnis?

Keskinkılıç: Nachdem ich mehrere Jahre dazu forschte, wie sich antimuslimischer Rassismus in medialer Berichterstattung und politischen Debatten ausdrückt, was zentrale Motive und Argumentationsmuster sind und welche Rolle das Erbe des europäischen Orientalismus dabei spielt, war es Zeit für einen Perspektivenwechsel vom hegemonialen Material hin zu den Erfahrungshorizonten der Betroffenen. Meiner Einschätzung nach stehen wir in der Forschung zum antimuslimischen Rassismus noch ziemlich in den Kinderschuhen, vor allem wenn es darum geht, den Stimmen und Erfahrungen von Muslimen und als solche Wahrgenommene Gehör zu verschaffen. 

Ein Schlüsselerlebnis war mit Sicherheit die internationale Konferenz „Living with Islamophobia“ am Jüdischen Museum Berlin im Jahr 2018, an der ich organisatorisch mitwirkte. Wir luden prominente Wissenschaftler aus dem internationalen Raum ein, um den interdisziplinären und transnationalen Austausch anzuregen. Wir wollten die Frage, was es bedeutet mit der Erfahrung von antimuslimischem Rassismus in Europa und den USA zu leben, in den Fokus nehmen. So lernte ich nicht nur inspirierende Persönlichkeiten kennen. Darüber hinaus ermutigte mich die Fachkonferenz dazu, den Perspektivenwechsel in der deutschen Wissenschaftslandschaft zum antimuslimischen Rassismus mit voranzutreiben.

IslamiQ: Haben Sie positive/negative Erfahrungen während Ihrer Doktorarbeit gemacht? Was treibt Sie voran?

Keskinkılıç: Es wird nicht verwundern, dass die Corona-Pandemie den Arbeitsprozess überschattet und das bereits seit über einem Jahr. Promovieren mit Kind ist ohnehin für viele Doktoranden eine große Herausforderung; wenn dann auch noch pandemiebedingt Betreuungsangebote wegfallen, ist das umso schwieriger. Zu meiner Freude habe ich Familie, Freunde und Kollegen, die unter die Arme greifen und ein offenes Ohr haben. 

Ich darf mich zudem glücklich schätzen, mit Prof. Naika Foroutan und Prof. Iman Attia zwei Doktormütter zu haben, von deren langjähriger Expertise und Unterstützung ich profitieren kann. Die regelmäßigen Colloquien, die seither digital stattfinden, gehören zum wichtigen Bestandteil, um Krisen in der Forschung zu besprechen, Fortschritte in der Arbeit zur Diskussion zu stellen und mit kritischen Köpfen weiterzudenken. Natürlich spielt auch die Finanzierung des Promotionsvorhabens eine wichtige Rolle. 

Als Stipendiat des Avicenna-Studienwerks habe ich das große Privileg, finanziell und ideell gefördert zu werden. Auch dieses persönliche und professionelle Umfeld von Geschäftsstelle und Mitstipendiaten verschiedenster Fachbereiche und Lebensorte bereichert den Promotionsalltag. Genauso wie meine Forschung selbst am empirischen Material, das methodische Herantasten und die theoretischen Abstraktionen. Ich sitze Tage, manchmal auch Wochen an einzelnen Interviewsequenzen und tauche ein in die biografischen Erzählungen von Muslimen, die mir aus ihrem Leben berichten und sich mitteilen. Es sind oft sehr emotionale Momente, diese Arbeit berührt mich sehr. 

Die Promotion hat mich im Grunde auch zu philosophischen und psychologischen Fragestellungen über Affekte, Selbstwahrnehmungen und Bewältigungsstrategien geführt, mit dem Unterschied, dass ich sie nun in einen rassismuskritischen Zusammenhang von Macht, Diskurs und Subjekt setze und an die Arbeit der letzten Jahre anknüpfen kann.

IslamiQ: Inwieweit wird Ihre Doktorarbeit der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland nützlich sein?

Keskinkılıç: Tatsächlich knüpft die wissenschaftliche Relevanz direkt an die gesellschaftspolitische an. Mit dem antimuslimischen Rassismus haben wir es mit einer Diskriminierungsform zu tun, die im Deckmantel der Religions- und Kulturkritik getarnt wird und salonfähig ist. Vielen fällt es schwer, antimuslimischen Rassismus zu identifizieren, oder etwas dagegen zu unternehmen. Mit meiner Forschung rücke ich Möglichkeiten der Selbstermächtigung und des Umgangs mit Rassismuserfahrungen ins Zentrum. Im besten Fall fließen die Erkenntnisse direkt in die Bildungsarbeit ein, um Muslimen in ihrem Umgang mit Rassismus zu stärken, und finden Eingang in gesellschaftspolitische Maßnahmen zu gleichberechtigter Teilhabe und Partizipation. 

Leserkommentare

Dilaver Çelik sagt:
Moderne sowie postmoderne Religionskritik ist Religionsfeindlichkeit mit intellektuellem Gewand (siehe u.a. "Frankfurter Schule"). Und Religionsfeindlichkeit ist nichts anderes als eine Krankheit. Insbesondere der antimuslimische Rassismus. Diese Krankheit kann nur durch Aufklärung durch Religionsgelehrte geheilt werden. Islamische Gelehrte, welche die Zeichen der Zeit erkannt haben, haben Bücher verfasst, in welchen Einwände widerlegt und der Islam bewiesen werden. Man muss diese Bücher studieren und verinnerlichen, um gewappnet zu sein. Und dies auf wissenschaftlicher Ebene in Gestalt einer Doktorarbeit zu verfassen ist zu begrüßen. Damit antimuslimischer Rassismus im Besonderen und Religionsfeindlichkeit im Allgemeinen die Köpfe der Menschen nicht mehr vergiften und schlichte Gemüter nicht mehr verunsichern kann.
02.06.21
18:59
Vera Praunheim sagt:
In einem anderen Gastbeitrag formulierte der muslimische Akademiker und Autor: "Wenn ich höre, wie viele sich vom Islam bedroht fühlen...dann dreht sich mir der Magen um." Der Theologe und Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide thematisierte im September 2020 den islamistischen Terror und offen extremistische Gruppen wie die Salafisten und den legalistischen Islamismus beziehungsweise Politischen Islam, der - so meint Khorchide - "weniger gefährlich wirkt - aber gerade das macht ihn ja so gefährlich." Und er spricht von einer "Ideologie, die den Islam nicht als spirituelle Angelegenheit des Einzelnen sieht, sondern als Herrschaftssystem mit der Absicht, die Gesellschaft entsprechend solchen Werten umzugestalten, die im Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Ihre Vertreter...befürworten Integration...aber nach innen predigen sie die Abgrenzung von den 'Ungläubigen' und ihren 'unislamischen Werten'. Ihre politische Agenda läuft darauf hinaus, die Gesellschaft zu unterwandern, indem sie Einfluß in Parteien, Gremien, Stiftungen gewinnen. Unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit fordern sie vom Staat immer mehr Sonderrechte und versuchen gezielt, die Anpassung von Muslimen an die westliche Kultur zu verhindern. Letztes Ziel ist die Umwandlung Europas in ein islamisches System. so utopisch das klingt...Die Gefahr ist real." Bei allem Verständnis für 'antimuslimische Rassismus-Erfahrungen' und die Vielfalt unterschiedlicher Islam-Verständnisse dürfen die von Mouhanad Khorchide genannten Problembereiche bzw. Gefahren nicht kleingeredet, uminterpretiert oder marginalisiert werden. Wenn das jemand tut, dann dreht sich nämlich bei mir der Magen um.
02.06.21
19:24
grege sagt:
Kritik stellt ein wunderbares Instrument dar, mit dem Misstände identitiziert und anschließend mittels geeigneter Handlungsmaßnahmen eliminiert werden. Genau dieses Instrument ist ein Garant für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess. Wer jedoch Kritik ignoriert, oder schlimmer noch pauschalisierend und stigmatisierend in Feindseeligkeit umdeutet, verharrt in den Missständen. Genau diese prägen den Islam im Hier und Jetzt. Diese Tatsache ist kein Wunder vor dem Hintergrund, dass Islamkritiker und Personen mit einem anderen Islamverständis in islamischen Ländern von den dortigen Regierungen verfolgt werden und sogar in Deutschland unter Polizeischutz leben müssen, wie das Schicksal von Samad, Korchide oder Mansour verdeutlichen.
03.06.21
13:44
charley sagt:
Ihc möchte dem Herrn Ozan Zakariya Keskinkılıç nicht absprechen, redlich akademisch zu arbeiten und arbeiten zu wollen.Vielleicht liegt es eben auch an islamiq. Die Kernaussage kommt ziemlich am Ende: "Mit dem antimuslimischen Rassismus haben wir es mit einer Diskriminierungsform zu tun, die im Deckmantel der Religions- und Kulturkritik getarnt wird und salonfähig ist." Ich staune, dass genau dieser Punkt, der in der Überschrift angekündigt wird, so wenig differenziert wird. - Ist jede (!) Religions- und Kulturkritik dann auch gleich "antimuslimischer Rassismus"? - Ist Religions- und Kulturkritik damit in jedem Fall auch gleich diskreditiert? - Vielleicht speist sich "antimuslimischer Rassismus" auch noch aus ganz anderen Quellen? Der Autor spricht Muslimen individuelle "animuslimische Rassismuserfahrungen" zu. Haben evtl. sich "antimuslimisch" entwickelnde Menschen nicht auch höchst individuelle Erfahrungen mit Moslems gemacht? Die Realsatire dazu liefert dann Dilaver Çelik, der religionskritische Menschen schlichtweg für krank erklärt! Er behauptet also gleich noch, dass "Islam bewiesen" werden kann. Da hat der gute Mann einige Jahrhunderte Kulturentwicklung nachzuholen. Vor allem erst mal seinen "beweisbaren islam" zu definieren! Wenn ich nicht genug Moslems kennte, die ich als Menschen achte und wertschätze, Dilaver Çelik wäre ein guter Anlass, den Islam für ......... zu erklären (die Punkte ..... habe ich eingefügt, damit dieser Kommentar durch die Zensur von Islamiq kommt.)
04.06.21
16:40
Ethiker sagt:
Die Gründe warum man Kulturkritik und Religionskritik bemüht und eigentlich das "Andere" verteufelt sind denkbar einfach. Dominanzstreben, Selbstüberhöhung des Eigenen (Kultur, Geschichte Ethnie aber gemeint ist nicht selten Rasse), Unwissen, Drang zu verändern und sich einzumischen, paranoider Kontrollwahn, Prophetengetue und Wahrheitsverkünder im Sinne der Bewahrung und des Schutzes der Kultur, Geschichte Ethnie aber gemeint ist nicht selten Rasse, Übertragung von eigenen Unsicherheiten und einer ungefragten fragilen Identität auf das "Andere", Ablenkung der eigenen Probleme, Bestimmung fremder Lebensbereiche, Absprechung des Menschseins und des Wetvollen (legitimiert auch weiteres Vorgehen), Nichzulassen einer eigenen Entwicklung, Wahrung der herrschenden Ordnung zum eigenen Wohle und in letzter Konsequenz legitimierte Eigensucht, Habgier und Macht, weil das Defizitäre, das "Andere" nicht zur Selbstbestimmung geboren, sondern zur Fremdbestimmung seinen Platz in der Welt finden muss. Und das mit "erlaubter", selbst geschaffenen Gewalt.
04.06.21
17:13