Der Europäische Gerichtshof hat entschieden: Arbeitgeber dürfen das Kopftuch am Arbeitsplatz verbieten. Unter bestimmten Voraussetzungen. Die Juristin Maryam Kamil Abdulsalam schreibt über die Bedeutung und Auswirkungen dieses Urteils.
Als am 15.07.2021 der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Entscheidung über die Zulässigkeit von Kopftuchverboten am Arbeitsplatz fällte, folgten manche Nachrichtenüberschriften dem alarmistischen Tenor „Arbeitgeber können Kopftuch verbieten“, „Verbannung von Kopftuch, Kreuz und Kippa“ oder „Kopftuchverbot kann rechtens sein“. So wenig differenzierend, wie die Berichterstattung zunächst vermuten lässt, ist die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) jedoch gar nicht. Aber was war geschehen?
Der EuGH hatte sich zum wiederholten Male mit der Frage nach der Zulässigkeit von Kopftuchverboten am Arbeitsplatz befasst. Geklagt hatte diesmal eine Mitarbeiterin einer Drogeriekette, die zunächst von der Kasse in eine andere Tätigkeit versetzt wurde und letztlich entlassen werden sollte, und eine Erzieherin in einer Kindertagesstätte, die mehrfach abgemahnt wurde, nachdem sie angefangen hatte, ein Kopftuch zu tragen. Die beiden Rechtsstreitigkeiten fanden in Deutschland statt und wurden dem EuGH zur Beantwortung unterschiedlicher unionsrechtrechtlicher Fragen vorgelegt.
Die beiden vorlegenden deutschen Gerichte wollten unter anderem wissen, inwieweit unternehmensinterne Neutralitätsregeln mit der Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (RL 2000/78) vereinbar sind. Diese stellt unter anderem die Grundlage für das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) dar.
Zur Vereinbarkeit mit dieser Richtlinie, sprach das Gericht ein recht differenzierendes Urteil, das den nationalen Gerichten einen gewissen Beurteilungsspielraum offenlässt: Zunächst stellte es klar, dass eine unternehmensinterne Regel, die Ausdruck einer Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität des Arbeitgebers ist, keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion darstellt, wenn diese Regel allgemein formuliert ist und unterschiedslos alle Arbeitnehmer unabhängig der jeweiligen religiösen oder weltanschaulichen Orientierung erfasst. Wenn diese unternehmensinterne Regel keine unmittelbare Diskriminierung ist, kann sie aber unbenommen als mittelbare Diskriminierung bewertet werden, wenn lediglich manche Arbeitnehmer – nämlich muslimische Frauen mit Kopftuch – von der ausschließenden Wirkung betroffen werden, andere jedoch nicht. Oder wie das Gericht es formuliert: Wenn manche Arbeitnehmer „besondere Unannehmlichkeiten“ erfahren müssen.
Für die Rechtfertigung einer solchen mittelbaren Diskriminierung präsentiert das Urteil drei wesentliche Kriterien, die in ihren Auswirkungen nicht zu unterschätzen sind. Der Wille des Arbeitgebers, als Teil seiner grundrechtlich geschützten unternehmerischen Freiheit, ist grundsätzlich rechtmäßig und kann eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, sofern erstens der Arbeitgeber ein wirkliches Bedürfnis nachweisen kann, welches entweder in der berechtigten Erwartung der Kunden oder in einer nachteiligen Konsequenz liegen kann. Sprich, wenn dem Unternehmen wirtschaftliche Einbußen und Marktnachteile entstehen und er dies auch derart plausibilisieren kann, dass es der aus der deutschen Rechtsprechungslinie bekannten „hinreichend konkreten Gefahr“ gleichkommt[i]. Zur Plausibilisierung einer solchen reicht es nicht aus, wenn der Arbeitgeber abstrakte Befürchtungen anführt. Vielmehr müssen konkrete Hinweise auf Unruhen innerhalb des Unternehmens oder wirtschaftliche Einbußen vorliegen.
Zweitens: Die Regelung, die eine Ungleichbehandlung von muslimischen Frauen etabliert, muss dazu geeignet sein, die Neutralitätspolitik auch wirklich umzusetzen, was eine konsequente und systematische Befolgung dieser Regelungen erfordert. In einem Betrieb, der eine solche Neutralitätspolitik verfolgt, müssen also Kopftuch, Kippa, Kreuz, Dastar, buddhistische Tattoos und alle denkbaren religiösen, weltanschaulichen und politischen Bekenntnisse gleichbehandelt werden. Und eine Gleichbehandlung bedeutet hier, die vollständige Eliminierung aus dem unternehmerischen und betrieblichen Kontext. Ist die Regel zur Verfolgung einer Neutralitätspolitik geeignet, muss sie drittens auf das unbedingt erforderliche Maß begrenzt werden.[ii]
In der Parallelentscheidung zur KiTA-Erzieherin nahm das Gericht noch weitere zentrale Wertungen vor: So wie der Wille des Arbeitgebers zur neutralen Unternehmenspolitik eine mittelbare Diskriminierung rechtfertigen kann, kann dies unter Umständen auch das Anliegen der Eltern, ihre Kinder nach ihren religiösen und pädagogischen Vorstellungen innerhalb der Kindertageseinrichtung aufwachsen zu lassen. Denn es sei auch ein durch Art. 14 GRCh geschütztes Anliegen der Eltern, eine Erziehung und einen Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen einzufordern. Wenn es also dem Elternwunsch entspricht, ihre Kinder ohne religiöse Einflüsse in Form von gelebter Religion durch die muslimische Erzieherin mit Kopftuch aufwachsen zu lassen, dann sei dies eine sachliche Rechtfertigung. In Abwendung zu den Schlussanträgen des Generalanwalts Anathasios Santos schließt das Gericht eine Differenzierung nach der Größe – bzw. Großflächigkeit und Auffälligkeit – der sichtbaren Äußerung aus. Denn eine unternehmensinterne Neutralitätspolitik könne nur dann gerechtfertigt werden, wenn jede sichtbare Ausdrucksform gemeint ist; ein Verbot, das sich nur auf das „Tragen auffälliger großflächiger Zeichen“ beschränkt, ist nicht denkbar.
Zuletzt räumt das Urteil dem jeweiligen Mitgliedstaat – hier Deutschland – bei der Bewertung von entsprechenden Fällen einen Wertungsspielraum ein. Die Feinarbeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist somit den deutschen Gerichten überantwortet, um den „Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Vielfalt der von diesen verfolgten Ansätze in Bezug auf den Platz, den sie in ihrem Inneren der Religion oder den Überzeugungen einräumen, einen Wertungsspielraum“ zu überlassen[iii]. Vor dem Hintergrund der besonderen Bedeutung von Art. 4 Abs. 1, 2 GG als vorbehaltslos gewährleistetem Grundrecht, das in einem deutlich höheres nationales Schutzniveau als in den meisten europäischen Mitgliedstaaten etabliert ist, ist absehbar: Pauschale Kopftuchverbote am Arbeitsplatz sind weiterhin unzulässig und in der deutschen Rechtsprechungspraxis wird sich nichts ändern müssen, denn die deutsche Rechtsprechung verfolgt in den sog. Kopftuchfällen eine religionsfreundliche Linie mit hohen Hürden.
Dass die Große Kammer den Empfehlungen des Generalanwalts nicht folgt, ist bemerkenswert, aber nur sinnvoll: Denn eine Differenzierung anhand des Kriteriums der Größe würde immer wieder zu praktischen Auseinandersetzungen führen, die sich in schlicht nicht sinnvoll zu beantwortenden Fragen kulminieren würden: „Was ist groß und was ist klein? Und auf wessen Empfinden kommt es an?“ Nicht nachvollziehbar ist daher, dass der EuGH letztlich doch eine Art Differenzierung anhand der Größe vornimmt. Denn eine an die Größe und Auffälligkeit anknüpfende Regelung stellt eine unmittelbare Diskriminierung dar; eine Regelung ohne diese Differenzierung allerdings nur eine mittelbare Diskriminierung. Eine klare Ungleichbehandlungsdogmatik ist darin jedenfalls nicht zu erkennen.
Auch der Verweis auf den Wunsch der Eltern und ihre religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen, ist recht eindimensional. Man denke an eine Elternschaft, die zur einen Hälfte der erzieherischen Überzeugung folgt, freie religiöse Entfaltung der Kinder könne nur dann gelingen, wenn sie ohne jeglichen religiösen und weltanschaulichen Einfluss aufwachsen, während die andere Hälfte davon überzeugt ist, religiöse Toleranz könne nur dann gelingen, wenn Vielfalt und religiöse Diversität im Alltag vorhanden und sichtbar, und gemeinschaftlicher Umgang damit eingeübt werde. Was gilt dann? Wessen Elternwunsch wiegt schwerer?
Vermutlich können weder der EuGH noch die betroffenen Unternehmen bereits absehen, was das Kriterium der unterschiedslosen und konsequenten Anwendung in der Praxis bedeuten wird. Wenn keine religiösen und weltanschaulichen Bezüge im Unternehmen und in der KitA existieren dürfen, dann bedeutet das auch, dass keine betrieblichen Weihnachtsfeiern, sondern nur noch Jahresendfeiern stattfinden, kein Osternest, sondern nur noch Frühlingsschmuck aufgestellt und kein St. Martinsfest mehr gefeiert werden darf. Solche Spitzfindigkeiten nutzen selbstverständlich niemandem – insbesondere nicht einer Gesellschaft, die sich als vielfältig, divers und tolerant verstehen möchte. Sie wären aber die Konsequenz der Kriterien, wenn man sie denn zu Ende denkt.
Aus emanzipatorischer Perspektive ist dieses Urteil wieder mehr als nur kontraproduktiv: Muslimische Frauen, die nach einer guten Ausbildung oder einem Studium ihr selbstbestimmtes Leben durch einen Beruf und ein Einkommen bestreiten möchten, sehen sich erheblicher Unsicherheit und Ängsten ausgesetzt, die seit Urteilsverkündung bereits jeden Moment Realität werden können. Die Unsicherheit über die tatsächliche Rechtslage in Deutschland kann in Zukunft nur durch engagierte Aufklärungsarbeit gemindert und vermutlich durch zahlreiche Prozesse gerichtlich ausgeräumt werden. Aber die Ängste muslimischer Frauen in Bewerbungsprozessen werden noch lange bleiben, denn Arbeitgeber werden dieses Urteil – sei es gut- oder bösgläubig – als Freifahrtschein nutzen und Bewerberinnen mit Kopftuch von vornherein ausschließen.
Was in dieser juristischen bzw. politischen Debatte untergeht: Urteile von nationalen Gerichten und auf Unionsebene sowie zahlreiche Gesetzesentwürfe verhandeln muslimische Frauen mit Kopftuch als „Gefahr“ für den sozialen Frieden, für den Schulfrieden, für die Funktionalität der Justiz. Für diese sich in dieser Gesellschaft einbringenden und engagierten Frauen werden nicht nur Chancen strukturell verbaut, sondern durch dieses Vokabular werden Gefühle hervorgerufen: Negative Gefühle.
[i] So Ibold, Zündstoff für die Gleichheitsdogmatik – Deutsche Kopftuchverbote vor dem EuGH, verfassungsblog.de, 18/07/2021 (https://verfassungsblog.de/zuendstoff-fuer-die-gleichheitsrechtsdogmatik/).
[ii] EuGH (Große Kammer), Urt. V. 15.07.2021 – C-804/18, C-341/19, Rn. 70; https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=244180&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1.
[iii] EuGH (Große Kammer), Urt. V. 15.07.2021 – C-804/18, C-341/19, Rn. 86.