Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat eine bewegte Geschichte, der sie ihre heutige Struktur verdankt. Was ihre Erfahrungen und Entwicklung für islamische Gemeinschaften bedeuten (könnten), darüber sprechen wir mit Oberkirchenrat Dr. Detlef Görrig.
IslamiQ: Die Politik fordert oft einen einheitlichen Ansprechpartner auf muslimischer Seite. Versteht sich die evangelische Kirche als Repräsentantin aller evangelischen Christen in Deutschland?
Dr. Detlef Görrig: Der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gehören derzeit 20 Landeskirchen an mit insgesamt über 20 Millionen Kirchenmitgliedern. Sie ist der Zusammenschluss dieser Landeskirchen bzw. Gliedkirchen im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Die Grenzen der Landeskirchen sind historisch entstanden und weichen zum Teil erheblich von denen der Bundesländer ab. Seit Entstehung der EKD im Jahr 1945 hat es zudem mehrere territoriale Zusammenschlüsse von Landeskirchen gegeben.
Die EKD unterstützt auf Bundesebene die Landeskirchen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Sie fördert Aktivitäten, die für die gesamte evangelische Kirche wichtig sind, wie z. B. Diakonie, Bildung oder die Zusammenarbeit mit anderen Kirchen. Außerdem nimmt die EKD auf Grundlage des Evangeliums öffentlich Stellung zu den gesellschaftlichen Debatten der Gegenwart.
Geleitet wird die EKD durch die drei Organe der Synode, des Rates und der Kirchenkonferenz. Die Synode besteht aus 120 Mitgliedern, von denen 100 Personen aus den jeweiligen Synoden der Landes- bzw. Gliedkirchen gewählt werden, der Rat besteht aus 15 Mitgliedern, deren Vorsitzender, Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, die EKD rechtlich nach außen vertritt und sie in der Öffentlichkeit repräsentiert. Die Kirchenkonferenz ist das föderale Organ der EKD und besteht aus den Leitungen der 20 Landes- bzw. Gliedkirchen. Diese Struktur erlaubt es, von einer Repräsentation der Protestantinnen und Protestanten durch die EKD zu sprechen. Mitglied einer Kirche wird man durch die Taufe.
IslamiQ: Trotz der Differenzen in Theologie und Religionspraxis?
Görrig: Eine Besonderheit der EKD besteht darin, dass auch verschiedene Bekenntnistraditionen unter ihrem Dach verbunden sind, also die lutherische, reformierte und unierte Tradition, die in Theologie und Gottesdienstpraxis voneinander abweichen und unterschiedliche Akzentsetzungen haben. Allerdings sind nicht alle evangelischen Christinnen und Christen in Deutschland unter dem Dach der EKD versammelt. Es gibt z.B. auch die Vereinigung evangelischer Freikirchen, der etwa 300.000 Christinnen und Christen angehören.
IslamiQ: Die Gründung der EKD erfolgte in der Nachkriegszeit, im Jahre 1945. Warum war die Gründung bzw. der Zusammenschluss als organisatorische Einheit so wichtig? Was können muslimische Religionsgemeinschaften aus der Geschichte der EKD lernen?
Görrig: Im nordhessischen Treysa kamen im August 1945 rund 120 protestantische Kirchenvertreter zusammen, um über einen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg zu beraten. Bei dieser ersten Konferenz evangelischer Kirchenführer vom 27. bis 31. August 1945 wurde die EKD als Zusammenschluss lutherischer, reformierter und unierter Landeskirchen gegründet. Die Kirchenkonferenz konstituierte den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und bestimmte dessen personelle Zusammenstellung. Zum ersten Ratsvorsitzenden dieser neuen Struktur wurde der württembergische Landesbischof Theophil Wurm gewählt. Dem seinerzeit zwölfköpfigen Rat gehörten sechs Mitglieder aus lutherischen Kirchen, vier aus unierten und zwei aus reformierten Kirchen an.
Auch das Evangelische Hilfswerk, das 1957 zusammen mit der Inneren Mission zum Diakonischen Werk der EKD zusammengeführt wurde, wurde von der Kirchenkonferenz in Treysa gegründet. Es konnte in der Folge erhebliche Spendenmittel – auch aus dem Ausland – aufbringen und Hilfsgüter vor allem an Flüchtlinge und Vertriebene verteilen.
Das Signal der regions- und konfessionsübergreifenden Kooperation, das bei allen vorhandenen Kontroversen und Machtfragen mit der Einsetzung einer vorläufigen Ordnung der EKD 1945 gesetzt wurde, ist sicherlich ein wichtiges Ergebnis, das vielleicht auch für andere Religionsgemeinschaften von Bedeutung sein könnte.
IslamiQ: Wenn es um islamische Gemeinschaft geht, hat man momentan den Eindruck, dass der Staat in vielen Bereichen mitreden und Einfluss ausüben möchte. Waren bei der Gründung der EKD allein innerchristliche Diskussionen ausschlaggebend gewesen? Oder bestand auch ein staatliches Interesse an solch einem Zusammenschluss?
Görrig: Prof. Dr. Jochen-Christoph Kayser hat in einem Vortrag zur Erinnerung an die Gründung der EKD erläutert, wie bereits im 19. Jahrhundert im Zuge der Nationalstaatsbildung „innerhalb des in zahlreiche Landeskirchen zergliederten deutschen Protestantismus ein neues Kirchenbewusstsein“ erwachte, „das sich auf die Bildung gesamtkirchlicher Ordnungsformen im Rahmen einer Einheitskirche richtete“. Er weist allerdings auch darauf hin, wie seinerzeit das Ansinnen „am politischen und kirchlichen Regionalbewusstsein“ scheiterte, dass sich in einer fast 400-jährigen Geschichte des sog. „landesherrlichen Kirchenregiments“ entwickelt hatte. Hinzu kamen theologische Konflikte, die mit den unterschiedlichen konfessionellen Richtungen einher gingen. Lediglich eine „lockere Kooperation“ war seinerzeit möglich mit regelmäßigen Treffen aller deutscher Kirchenbehörden.
Nach dem Ende des ersten Weltkriegs und dem damit einhergehenden Ende der Symbiose von Thron und Altar, sprich: dem Ende des Staatskirchentums, lag es nahe, dem neuen Staat gegenüber einheitlicher aufzutreten durch einen engeren Zusammenschluss auf Reichsebene. Daraus wurde 1922 die Bildung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes, keiner Einheitskirche.
In der Zeit des Nationalsozialismus entstand dann eine Form der Bundeskirche, die von den sog. „Deutschen Christen“ dominiert und trotz anderslautender Verfassung die Eigenständigkeit der Landeskirchen mehr und mehr ignorierte. Unter anderem aus dem Widerstand gegen diese Entwicklungen entstand die sog. „Bekennende Kirche“, die eine Alternative zur Reichskirche darstellte, allerdings auch konfessionelle Spannungen zu verzeichnen hatte. Der politische und kirchliche Druck, der im Unrechtsstaat des Nationalsozialismus ausgeübt wurde, um die evangelische Kirche in eine zentralistische und politisch gleichgeschaltete Organisation zu verwandeln, war in jedem Fall ein Dämpfer für Einigungsbestrebungen, wie sie sich dann erst nach 1945 und mit einer anderen staatlichen Ordnung entwickeln konnten.
IslamiQ: An der Gründungskonferenz der EKD nahmen nicht nur Menschen aus unterschiedlichen Kirchen bzw. Konfessionen teil. Es gab zudem auch Teilnehmer, die unterschiedliche politische Positionen hatten. Wie war es möglich, sowohl unterschiedliche protestantische Konfessionen als auch politische Positionen?
Görrig: Generell lässt sich vielleicht sagen, dass unterschiedliche politische und theologische Überzeugungen in einer Kirche immer das Potential zu Konflikten und Spaltungen in sich bergen. Andererseits ist Kooperation auf Dauer nur möglich, wenn mit diesen Unterschieden versöhnlich umgegangen wird und wenn es die Überzeugung gibt, dass das Zusammenbleiben von Verschiedenem letztlich für alle Beteiligten erfolgversprechender und zielführender ist als die Vereinzelung.
Die Debatten bei der Gründung der EKD vor 75 Jahren in Treysa sind sehr hitzig verlaufen, alle mussten Kompromisse eingehen, doch letztlich gab es eine pragmatische Entscheidung. Der heutige Vorsitzende des Rates der EKD hat es so ausgedrückt: „Errichtet wurde kein stolzer Dom, sondern eher eine Baracke – aber eine erstaunlich wetterfeste.“
IslamiQ: Kann man sagen, dass die EKD die Herausforderung der Repräsentation des Protestantismus in Deutschland erfolgreich gemeistert hat? Welche Rolle spielt hierbei die christliche Ökumene?
Dr. Görrig: Mit der Beurteilung des eigenen Erfolges sollte man immer vorsichtig sein. Richtig ist aber, dass der Umgang mit der Vielfalt des Protestantismus in Deutschland auch eine gute Voraussetzung für den Umgang mit der Vielfalt der christlichen Ökumene insgesamt bildet. Beim Stichwort Repräsentanz muss es ja darum gehen, die vorhandene religiöse Vielfalt zu bejahen und zu fördern und gleichzeitig auch das Gemeinsame und Einheitlichkeit zu betonen.
IslamiQ: Die evangelischen und muslimischen Repräsentanten treffen sich regelmäßig. Welche organisationalen Unterschiede gibt es zwischen ihnen?
Dr. Görrig: Muslimische Organisationen und Dachverbände sind keine Kirchen. Wie Kirchen und Moscheen unter dem Dach des Religionsverfassungsrechtes in Deutschland so ihren Platz finden können, dass Vergleichbares vergleichbar und Unterschiedliches unterschiedlich gehandhabt wird, ist derzeit eine wichtige Frage. Das zeigt sich beispielsweise beim Religionsunterricht an öffentlichen Schulen oder im Ringen um die rechtliche Stellung islamischer Verbände in Deutschland, etwa bei der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechtes, die die Kirchen und einige andere Religionsgemeinschaften in Deutschland haben.
IslamiQ: Sie sind Referent und Beauftragter für christlich-islamischen Dialog in der EKD. Welche „Baustellen“ gab es, die die evangelische Kirche und die muslimische Gemeinschaft im Dialog angehen mussten? Welche Herausforderungen bestehen weiterhin?
Görrig: Ich würde nicht von „Baustellen“, sondern eher von einer „Lerngeschichte“ sprechen, die sich im Dialog zwischen der EKD und den muslimischen Gemeinschaften und Organisationen ereignet hat. Dazu gehören Schritte der Vertiefung des wechselseitigen Wissens voneinander, die Bereitschaft aufeinander zu hören und von- und miteinander zu lernen ebenso wie das kooperative Herangehen an bestehende Probleme und Anliegen. Fragen nach der Gestaltung des sozialen Klimas und des friedlichen gesellschaftlichen Miteinanders verschiedener Akteure im öffentlichen Raum beschäftigen uns nach wie vor sehr. Hier zu weiteren Fortschritten zu gelangen, wird auch in Zukunft eine bleibende Aufgabe sein.
Oberkirchenrat Dr. Detlef Görrig ist Referent für Interreligiösen Dialog im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).