Interview mit İsmail Ertuğ

„Eine geringe Wahlbeteiligung begünstigt die Rechtsextremen.“

Warum sollen die Menschen in Europa wählen gehen? Im Gespräch erläutert İsmail Ertuğ die europäische Idee und warum eine große Wahlbeteiligung bei den anstehenden Europawahlen vor allem die demokratischen Parteien stärkt. Er warnt: eine geringe Wahlbeteiligung begünstigt Rechtsextremisten.

19
05
2014
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Ismail Ertuğ ist Fraktionsmitglied in der Allianz der Sozialisten und Demokraten (S&D) im Europäischen Parlament und zugleich einer der wenigen türkischstämmigen Abgeordneten. Wir sprachen mit ihm über die bevorstehenden Europawahlen und die Bedeutung des Europäischen Parlaments.

IslamiQ: Herr Ertuğ, wie ist die europäische Politik entstanden auf und welche Macht hat sie?

İsmail Ertuğ: Die gemeinsame Europapolitik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Friedensprojekt initiiert. Um den Frieden zu gewährleisten, verfolgte man das Ziel die Zusammenarbeit von Jahr zu Jahr zu intensivieren und auszubauen. Diese Zusammenarbeit begann zunächst mit der Vereinigung der Eisen- und Stahlindustrie in der sogenannten „Montan-Union“, die danach als Wirtschaftsunion zu einem gemeinsamen Markt umgewandelt wurde. Schließlich wurde der Zusammenschluss zur Europäischen Union (EU) weiterentwickelt, der sich nun auch auf einer gemeinsamen Wertebasis gründet. Mit der Demokratie als Grundlage dafür, allen Bürgern die gleichen Möglichkeiten zu bieten, wurden entsprechende Gesetze verabschiedet. Es wurden unverzichtbare und universelle Prinzipien durchgesetzt und etabliert wie beispielsweise die Grundrechte, die wirtschaftliche und soziale Freizügigkeit und eine gemeinsame Währung. Die EU ist offen für alle europäischen Länder, die diese politischen und wirtschaftlichen Mindeststandards erfüllen, sodass inzwischen 28 Länder in die EU als Vollmitglieder aufgenommen wurden. Für diese Länder bedeutete dies vor allem Fortschritt und Wohlstand.

 

IslamiQ: Welche Aufgaben und Funktionen übernimmt das Eu-Parlament neben der Budgetbestimmung, und auf welche politischen Erfolge kann das Parlament zurückblicken?

İsmail Ertuğ: Das Europäische Parlament hat seit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon den gleichen politischen und rechtlichen Status wie das bisherige gesetzgebende Organ, der Rat der Europäischen Union. Mit anderen Worten: In der EU kann kein Gesetz in Kraft treten, ohne die Zustimmung des Europäischen Parlaments. In der Landwirtschaftspolitik übt das Europäische Parlament großen Einfluss aus. Da sich das Europäische Parlament aus den gewählten Vertretern des Volkes zusammensetzt, besteht seine Aufgabe darin, den einseitigen Interessen der Mitgliedsländer entgegenzuwirken und stattdessen die Interessen der gesamten Union anzuvisieren. Das Parlament hat insbesondere auf dem Gebiet der Verbraucherrechte und der Grundrechte wichtige Erfolge erzielt. Dazu zählen unter anderem Regelungen in Bezug auf die Qualität des Trinkwassers, zur Kontrolle der gesundheitlichen Unbedenklichkeit von Lebensmitteln, zur Kontrolle von Kinderspielzeug auf Freiheit von Giftstoffen, zur Kontrolle der Qualität von sensiblen Produkten (Stents, Prothesen, Implantaten, usw.), die in schwierigen Operationen eingesetzt werden, zum Schutz unserer persönlichen Daten vor der Weitergabe an Dritte und vor der Verwendung durch Firmen, Regelungen zur Bestrafung von rassistischer und religiöser Diskriminierung, sowie Regelungen zur Gewährleistung der Gleichheit von Mann und Frau am Arbeitsplatz und im Alltag.

 

IslamiQ: Wie sieht der Tagesablauf im europäischen Parlament aus?

İsmail Ertuğ: Im Parlament herrscht jeden Tag Hochbetrieb. Wir müssen 40 Wochen im Jahr in Brüssel oder in Straßburg verbringen. Ich fahre montags von München nach Brüssel, kehre donnerstags in meine Wahlregion zurück und arbeite dort freitags, samstags und sonntags. Ich kann sagen, dass ich einen erheblichen Teil meines Lebens im Flugzeug, im Zug und im Auto verbringe. Der Beuf des EU-Angeordneten strapaziert das Privatleben sehr stark. Da ich in Brüssel Mitglied der Verkehrskommission bin, beschäftige ich mich insbesondere mit Gesetzen bezüglich Verkehr und Infrastruktur. Daneben werden in unseren Gruppenversammlungen und den Versammlungen der deutschen Delegation gemeinsame Schritte diskutiert und eine Roadmap entworfen. Außerdem gibt es sehr oft Treffen mit der Europäischen Kommission, die befugt ist Gesetzesvorschläge einzureichen.

 

IslamiQ: Viele europäische Länder sind von soziodemografischen Entwickelungen betroffen, die pluralistische Gesellschaftsstrukturen und religiöse Vielfalt zur Folge haben. Wie reagiert das europäische Parlament auf die veränderte Realität? Inwiefern werden im Parlament die Interessen der Muslime berücksichtigt und repräsentiert?

İsmail Ertuğ: Obwohl die Unterscheidung zwischen Christen und muslimen für die EU-Politik nicht relevant ist, kommt es vor, dass Menschen in den einzelnen Mitgliedsländern aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit diskriminiert werden. Um dagegen anzugehen, verabschiedet die EU neue Gesetze und Richtlinien. Zum Beispiel ist die Antidiskriminierungsrichtlinie, die wir aus Deutschland kennen, ein EU-Gesetz, und muss von jedem EU-Mitglied in die nationale Gesetzgebung verankert werden. Im EU-Parlament arbeiten auch muslimische Abgeordnete aus verschiedenen Ländern mit. Wenn 6% der Bevölkerung muslimisch ist, würde ich gerne in allen Parlamenten eine diesem Verhältnis entsprechende Vertreterquote sehen.

 

IslamiQ: Welche Vorteile hat es für Muslime, wenn sie an den Wahlen für das Europäische Parlament teilnehmen, und auch über die EU-Politik informiert sind?

İsmail Ertuğ: Die Existenz der islamischen Religion in Europa ist politische und gesellschaftliche Realität, die nicht wegdiskutiert werden kann und deshalb akzeptiert werden muss. Vor allem sind Muslime Staatsbürger der Länder, in denen sie leben. Infolgedessen wirkt sich jeder Beschluss, der in der EU gefasst wird, direkt auf sie aus. Ich möchte insbesondere das Thema Grundrechte hervorheben. Wenn Muslime in ihren Ländern nicht diskriminiert werden wollen, müssen sie den Wahlen zum Europäischen Parlament die größte Beachtung schenken. Denn Brüssel ist eines der wichtigsten Instanzen, im Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte. Außerdem wirken sich die Beschlüsse, die im Europäischen Parlament verabschiedet werden, direkt auf das Arbeits-, Schul- und Alltagsleben der Menschen aus. Beispielsweise plant derzeit die rechtsextreme Partei in Frankreich Halal-Lebensmittel in Schulen zu verbieten. Ebenfalls auf der Tagesordnung stehen das Beschäftigungsverbot für Frauen mit Kopftuch und die Beschränkung der kulturellen Aktivitäten von Vereinen. Jeder Muslim, der solchen Diskriminierungen Einhalt gebieten will, muss am 22-25. Mai 2014 seine Stimme abgeben. Zwischen der Stimmabgabe und der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus besteht folgende Verbindung: Zum Beispiel bereiten sich in Deutschland fremdenfeindliche und insbesondere islamfeindliche Parteien wie die NPD, die Republikaner und die AfD auf die Parlamentswahlen vor. Da der Stimmenfang dieser Parteien eher als gering prognostiziert wird, bleibt unklar, ob sie ins Parlament einziehen werden. Wenn aber die Wahlbeteiligung niedrig ausfällt, können Parteien dieser Art auch mit einem Stimmenergebnis von 0,8 bis 1 % Abgeordnete ins Europäische Parlament schicken. Wenn die Beteiligung hoch ausfällt, kann es sein, dass diese Stimmen nicht ausreichen, um gewählt zu werden. Zudem versucht in Frankreich die Partei namens Front National, deren Agitationsziel insbesondere Muslime sind, die Führung aller judenfeindlichen und antieuropäischen Parteien zu übernehmen und sie unter einem Dach zu vereinen. Wenn rechtsextreme Parteien aus mindestens durch 7 Mitgliedsstaaten im Europäischen Parlament vertreten sind, erhalten sie damit den Status einer Fraktion. Daher sollte niemand sagen „Was ändert meine Stimme schon?“ Denn eine solche Haltung erleichtert es diesen Parteien, ihre Ziele zu erreichen. Die These, dass der Anstieg der Abgeordneten aus rechten Parteien im Europäischen Parlament das Leben der Minderheiten, insbesondere der Muslime, erschweren würde, ist selbstredend. Und ich kann unseren Wählern nur empfehlen, ihre Stimmen Parteien aus dem linken politischen Spektrum zu geben.