Nach 16 Jahren christdemokratischer Regierung wird Deutschland nun von einer Ampel-Koalition aus regiert. Im Koalitionsvertrag gibt es wichtige neue Ansätze in Bezug auf Muslime und Migranten. Aber auch Fragezeichen. Eine Analyse.
Die neue Regierung unter der Kanzlerschaft des Sozialdemokraten Olaf Scholz (SPD) wurde im Dezember vereidigt. Damit hat eine sozial-grün-liberale Koalition das Steuer übernommen und entscheidet für die nächsten vier Jahre über die Geschicke des Landes. Die Frage ist, ob die neue Regierung auch wirklich etwas Neues mit sich bringt, waren die Sozialdemokraten doch schon unter der Kanzlerschaft Angela Merkels Koalitionspartner.
Antworten darauf finden sich in dem 177 Seiten langen Koalitionsvertrag. Dort hat die Regierung ihre Ziele in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Außen- und Innenpolitik, Bildung, Kultur und Umwelt zusammengefasst. In den folgenden Zeilen werfen wir einen kurzen Blick auf die Abschnitte über Migration, Islampolitik und Rassismus.
Zu Beginn ist es sinnvoll, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Denn die Migrations- und Islampolitik sowie die Rassismusbekämpfung sind im Schatten der 16 Jahre andauernden konservativen Politik unter der Führung von Angel Merkel geformt worden. Wobei diese Politik sich vor allem mit der Tatsache schwergetan hat, dass Deutschland in Wirklichkeit ein Einwanderungsland ist.
Auch wenn es in diesen 16 Jahren sowohl bei Merkel selbst als bei den Christdemokraten insgesamt zu einem ernsthaften Wandel gekommen sein mag, ist bei den Themen Migration, Muslime und Rassismus im Grunde eine Distanz zu innovativen Diskursen bestehen geblieben. Beispielsweise im Bereich der Islampolitik dominierte die Sicherheitspolitik. Die „Integration“ der Muslime, der Kampf gegen religiösen Extremismus oder die Imamausbildung standen auf der Agenda der Christdemokraten vorrangig unter dem Vorzeichen der Radikalismusbekämpfung.
Bringt nun die Regierungsbeteiligung von Grünen und Sozialdemokraten, die bei Themen wie Migration, Islam und Rassismus offener sind als Christdemokraten, etwas Neues? Beinhaltet das Regierungsprogramm Ziele, die mit den Realitäten eines neuen Deutschlands kompatibel sind und die einen Beitrag dazu leisten können, die anstehenden Probleme zu überwinden? Wenn man sich vor Augen führt, dass fast ein Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat, mehr als fünf Millionen Muslime in Deutschland leben und es ein offensichtliches Rassismusproblem gibt, wird klar, dass es konstruktiver und beständiger politischer Ziele bedarf. Sieht man sich die betreffenden Punkte im Regierungsprogramm an, kann man ernsthafte Unterschiede erkennen. Diese können als Vorboten einer neuen Ära gewertet werden.
Bei den Themen Migration und Teilhabe dominieren im Regierungsprogramm linkspolitische Ansätze. Prof. Dr. Jochen Oltmer schreibt auf der Plattform Mediendienst Integration (MDI): „Auffällig ist, dass sich die Art und Weise verändert hat, wie über Migration und Integration gesprochen wird. Im Vergleich zu den vergangenen Jahren wird Migration nicht mehr vorrangig als Sicherheitsgefahr dargestellt, auf die man mit Abwehrmaßnahmen reagieren müsse. Eingewanderte werden weniger als spezifische Problemgruppe, sondern vielmehr als Teil der Gesellschaft begriffen.“ Dass dieser Ansatz vorherrscht und sich die Migrations- und Integrationspolitik normalisiert, ist eine positive Entwicklung.
Im Koalitionsvertrag finden auch Muslime Erwähnung. Dabei fällt auf, dass spezifische, konkrete Angelegenheiten im Zusammenhang mit Muslimen angeführt werden. Vergleicht man den aktuellen Koalitionsvertrag mit dem Regierungsprogramm von 2018, erkennt man ernsthafte Verbesserungen. Das Thema Islam wird nunmehr innenpolitisch nicht nur unter dem Blickwinkel einer Sicherheitsgefährdung behandelt oder problematisiert.
Unter dem Titel „Muslimisches Leben“ findet man Folgendes: „Wir wollen der Vielfalt des muslimischen Lebens Rechnung tragen und u. a. Jugendvereine unterstützen. Der zunehmenden Bedrohung von Musliminnen und Muslimen und ihren Einrichtungen begegnen wir durch umfassenden Schutz, Prävention und bessere Unterstützung der Betroffenen. Zusammenarbeit der Religionsgemeinschaften und Orte der Begegnung fördern wir“. Aber dem nicht genug, finden sich auch noch Artikel zur Verbesserung der „Beteiligung und Repräsentanz der Religionsgemeinschaften, insbesondere muslimischer Gemeinden“, den „Ausbau der… Ausbildungsprogramme für Imaminnen und Imame an deutschen Universitäten in Zusammenarbeit mit den Ländern“ oder die Förderung der „Zusammenarbeit der Religionsgemeinschaften und Orte der Begegnung“. Dies alles zeigt, welche Haltung die Regierung gegenüber den Angelegenheiten der Muslimen hat.
Wie und ob diese Ziele erreicht werden, wird sich zeigen. Jedes einzelne Ziel könnte es erforderlich machen, mit jeweils anderen Gruppierungen zu sprechen. Einige mögen positiv, andere negativ bewertet werden. Aber sie zeigen, dass die Existenz von Muslimen von der Regierung anerkannt wird und sie deren Belange nicht nur einseitig im Zusammenhang mit Radikalisierung und Extremismus behandeln möchte.
Was für ein grassierendes Problem Rassismus in Deutschland ist, haben die NSU-Morde, die Ermordung von Walter Lübcke, der Terroranschlag von Hanau und der Anschlag auf eine Synagoge in Halle mehr als deutlich gezeigt. Die Regierung hat diese Kette von Ereignissen berücksichtigt und in dem Koalitionsvertrag das wichtige Ziel aufgenommen, „…die Arbeit zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus fort(zu)setzen, inhaltlich weiter(zu)entwickeln und sie nachhaltig finanziell ab(zu)sichern.“ Dass im Anschluss daran auch die „Bekämpfung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (wie) Antisemitismus…, Rassismus…, Islamfeindlichkeit…“ angeführt wird, ist die Haltung, die man von dieser Regierung erwartet.
Auch will die Koalition die Arbeit gegen Hass im Netz und Verschwörungstheorien vorgehen, ein Gesetz zur Förderung der Demokratie beschließen und das Gemeinnützigkeitsrecht im Zusammenhang mit Vereinen modernisieren. Durch solche Schritte will die Regierung den Kampf gegen den Rassismus stärken. Inwiefern diese Maßnahmen ausreichen werden, ist fraglich. Die auf die Bekämpfung von Rassismus spezialisierte Amadeu Antonio Stiftung vertritt die Auffassung, dass den Forderungen der Zivilgesellschaft grundsätzlich Rechnung getragen wird. Sie kritisiert aber, dass insbesondere in Institutionen wie der Polizei der Kampf gegen Rassismus keinen Eingang gefunden hat. Berücksichtigt man, dass hier in den letzten Jahren immer mehr Fälle von Rassismus aufgetreten sind, irritiert die Blindheit der sozial-grün-liberalen Regierung.
Wir hatten zu Beginn die Frage gestellt, ob zusammen mit den Grünen, die Regierungsteilnahme der Sozialdemokraten, etwas Neues bringen wird. Die 177 Seiten des Koalitionsvertrags dokumentieren etwas Neues, sowohl was die Perspektive anbelangt als auch die Inhalte selbst. Wird sich diese Neuerung in der Praxis zeigen, und falls ja, wie? Das werden die kommenden vier Jahre zeigen.