Hessen

Prozess um „NSU 2.0“ beginnt vor Frankfurter Landgericht

Die Adressaten der „NSU 2.0“ Drohschreiben konnten nicht wissen, ob den Worten Taten folgen würden, ob womöglich eine organisierte Gruppe hinter den Schreiben stand. Nun beginnt der Prozess gegen den mutmaßlichen Verfasser.

09
02
2022
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Drohschreiben mit NSU 2.0 verschickt, Göttingen
Drohschreiben mit NSU 2.0 verschickt, Göttingen

Die Drohungen richteten sich vor allem gegen Frauen – Frauen, die für Selbstbewusstsein und politisches Engagement standen. Nicht nur sie, teilweise auch ihre Angehörigen wurden vom „NSU 2.0″ mit dem Tod bedroht und unflätig beschimpft. Vom kommenden Mittwoch (10.00 Uhr) an muss sich der mutmaßliche Verfasser vor dem Frankfurter Landgericht verantworten. Ihm wird Beleidigung in 67 Fällen, versuchter Nötigung und Bedrohung vorgeworfen, außerdem öffentliche Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung, Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften sowie ein Verstoß gegen das Waffengesetz.

Mit der Festnahme des damals 53 Jahre alten Mannes in seiner Berliner Wohnung im Mai 2021 war eine Drohserie zu Ende gegangen, die auch einige Trittbrettfahrer gefunden hatte. Begonnen hatte alles im Jahr 2018 mit Todesdrohungen gegen die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız und ihre Familie. Die Drohschreiben waren mit „NSU 2.0″ unterzeichnet in Anspielung auf die rechtsextreme Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).

Başay-Yıldız hatte im Münchner NSU-Verfahren Angehörige der Opfer des rechtsextremen Terrors als Nebenklageanwältin vertreten. Wie sich im Verlauf der Ermittlungen herausstellte, waren kurz zuvor ihre privaten Daten von einem Polizeirechner in einem Frankfurter Revier abgerufen worden. Auch in den Fällen der Linken-Politikerin Janine Wissler und der Kabarettistin Idil Baydar, die ebenfalls Adressatinnen von „NSU 2.0″ Drohschreiben waren, war es zu Datenabfragen an Polizeirechnern gekommen.

Rechtsextremist verfasste 116 Drohschreiben

Der Angeklagte soll zwischen August 2018 und März 2021 insgesamt 116 selbst verfasste Drohschreiben verschickt haben – per E-Mail, Fax oder SMS. Dabei habe er regelmäßig die Grußformel „Heil Hitler“ verwendet sowie sich selbst „SS-Obersturmbannführer“ genannt.

Empfänger der Schreiben waren Privatpersonen, Personen des öffentlichen Lebens sowie Behörden und Institutionen. Die Schreiben enthielten massive verbale Beleidigungen wie „Abfallprodukte“, „Volksschädling“ oder drastische Schimpfwörter gegen Menschen mit türkischen Wurzeln. Gedroht wurde unter anderem mit „Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst“ oder damit, dass Familienangehörige „mit barbarischer sadistischer Härte abgeschlachtet“ würden.

„Wir erhoffen uns aus dem Prozess Antworten darüber, warum und wie die Opfer ausgewählt wurden“, sagte Herman Schaus von der Fraktion der Linken im Hessischen Landtag. Außer Wissler hatten auch andere Linke-Politikerinnen Drohschreiben erhalten. Schaus hoffte, dass in dem Verfahren geklärt werden kann, ob Verbindungen zu anderen Drohschreibern bestanden und vor allem: wie der mutmaßliche Verfasser an die Daten der Opfer kam.

Fall NSU 2.0: Bildungsstätte sieht Aufklärungsbedarf

„Bei aller Erleichterung darüber, dass der mutmaßliche Täter ermittelt und angeklagt wurde, steht für uns aber auch fest, dass es neben diesem Verfahren weitere Aufklärungsdimensionen gibt“, sagte Schaus. „Warum wurde der Fall so lange nicht-öffentlich gehalten, obwohl die Verwendung von Behördendaten mit Bezugnahmen auf den NSU beziehungsweise auf eine NSU-Opferanwältin vorlagen? Warum wurde den möglichen illegalen Datenabfragen bei der Polizei in Wiesbaden wenn überhaupt nur schleppend nachgegangen und dies wiederum nicht öffentlich gehalten?“

„Wir sehen dringend weiteren Aufklärungsbedarf im Fall ‚NSU 2.0.'“, sagte auch eine Sprecherin der Bildungsstätte Anne Frank. „Selbst wenn man der Polizei Glauben schenkt, dass alles ein Versehen gewesen sein soll: Wie kann es sein, dass personenbezogene Daten, die in polizeilichen Datenbanken mit Sperrvermerk versehen sind, versehentlich in Umlauf kommen? Lässt sich eine aktive Zuarbeit vonseiten einzelner Beamten wirklich ausschließen – zumal eine Polizistin Mitglied einer rechten Chatgruppe war?“ Das beschädigte Vertrauen in die Behörden werde sich nicht so einfach wieder herstellen lassen, auch wenn innerhalb der hessischen Polizei seitdem einige Reformen angestoßen worden seien. (dpa, iQ)