Der Umgang mit den ukrainischen Flüchtlingen zeigt, dass Europa bei diesem Thema mit zweierlei Maß misst. Denn nicht alle Flüchtlinge haben so viel Mitgefühl und Hilfe bekommen. Ein Gastbeitrag.
Tagelang sprachen Politik und Medien fälschlicherweise vom „ersten Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“. Sie sprachen davon, wie unüblich es ist, dass Europäer flüchten. Natürlich gab es auch nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen europäischer Flüchtlinge: Sie waren nur anscheinend weniger wichtig.
Die Leiche eines kleinen Jungen, leblos im Sand liegend, neben den Wellen, die ihn töteten. Das Foto von Alan Kurdi durchbrach für einen kurzen Moment die Gleichgültigkeit der EU-Gesellschaft zum Sterben von Flüchtlingen.
Es dauerte nicht lange. Und auch während es dauerte, im kurzen Sommer der Willkommenskultur, konnte nicht mal Alan durch den Hass einiger Menschen durchdringen. Sie saßen in ihren gemütlichen Wohnungen an ihren teuren PCs und analysierten die Kleidung auf seinem toten Körper. Er sei kein richtiger Flüchtling, weil die Kleidung so gut sei. Es sei eine Tragödie, ja, aber der Mörder ist sein Vater, der ihn auf die Flucht mitgenommen hat. Andererseits sind alleine fliehende Männer, die ihre Kinder nicht mitnehmen, Feiglinge, Verräter und auch keine echten Flüchtlinge. All das konnte und kann man in den Kommentaren auf Alans Tod lesen.
Es war ein starres Festhalten an der Tradition, Flüchtlingen nichts zu gönnen. Eine Kontinuation der „Warum haben sie Smartphones?“-Debatte, die syrische Flüchtlinge aushalten mussten. Natürlich haben sie Smartphones, sie fliehen aus einem Krieg, nicht aus der Steinzeit. Doch das musste man vielen Menschen in Deutschland erst erklären: Dass Syrien, Heimat einer der ältesten Zivilisationen der Welt, ein zivilisiertes Land ist.
Generell gibt es in den Diskussionen um Flüchtlinge eine Tendenz, den Begriff „Zivilisation“ nicht nach seiner wahren Definition zu nutzen, sondern als rassistische Waffe.
In den Anfangstagen des Krieges in der Ukraine konnte man oft hören, Ukrainer seien „relativ zivilisiert“, seien „so wie wir“ und echte Menschen, die echte Hilfe brauchen – im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen.
Viele haben diese Empathielücke bemerkt. Oft wird sie damit begründet, Ukrainer seien ja auch Europäer und das, was dort geschieht, sei so unüblich für den friedlichen Kontinent. Dass das falsch ist, merkt man am besten daran, wie andere europäische Flüchtlinge behandelt wurden und werden.
Eines der größten Verbrechen Europas ist fast niemandem bekannt: die Zwangsassimilation, Gewalt und Vertreibung ethnisch türkischer Menschen aus Bulgarien. Man stelle sich vor, vor rund 30 Jahren hätte Frankreich Hunderttausende Menschen mit italienischen Wurzeln aus dem Land vertrieben, unter Androhung von Gewalt, menschenverachtenden Gesetzen und stiller Zustimmung der internationalen Politik. Wäre das auch so vergessen und ignoriert, wie das Leid der aus Bulgarien vertriebenen ethnischen Türken?
Man stelle sich vor, in China wären 3 Millionen weiße Christen in Konzentrationslagern dem ersten Hightech Genozid der Weltgeschichte ausgesetzt, würden gefoltert und zwangssterilisiert. Es würde alle Titelseiten der EU füllen, bis der Genozid unter enormem Druck aufhört.
Doch man muss sich solche Szenarien auch nicht vorstellen. Während der „Reconquista“ im heutigen Spanien und Portugal wurden alle Juden und Muslime ermordet oder vertrieben. Portugal und Spanien boten den Nachfahren der Vertriebenen Staatsbürgerschaft an. Natürlich nur den jüdischen Vertriebenen, nicht den muslimischen.
Es ist ein offenes Geheimnis, wer als Flüchtling akzeptiert wird und wer nicht, wer Mitgefühl und Hilfe bekommt, statt Hetze. Bei diesen Fragen schwingt in der EU sehr viel Rassismus mit. Muslime, Afrikaner und andere marginalisierte Gruppen sind nicht Teil des selbst ernannten Clubs der Wertvollen. Vielleicht das beste Beispiel dafür ist der Umgang mit dem Genozid an bosnischen Muslimen 1992-1996.
Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen den Angriffskriegen gegen Bosnien und die Ukraine. Es sind Angriffskriege eines nationalistischen Diktators mitten in Europa und das Leid der hellhäutigen Opfer wird direkt auf die TV-Bildschirme der hellhäutigen Zuschauer transportiert. Doch wenn es um die Reaktionen europäischer Politik geht, könnten sie kaum unterschiedlicher sein. In der rassistischen Logik gibt es nämlich einen großen Unterschied zwischen „Sie sehen so aus wie wir“ und „Sie sind wie wir“ – und nur die letztere Gruppe bekommt wahres Mitgefühl.
Die Ukraine bekommt Waffenlieferungen aus mehreren Ländern, es war sogar ein internationaler Skandal, als Deutschland den Waffenlieferungen nur langsam zusagte.
Bosnien hingegen bekam ein Waffenembargo, sodass es Waffen nicht mal selbst anschaffen durfte. Als Bosnien angegriffen wurde, war es zwar schon ein unabhängiger, international anerkannter Staat, doch hatte keine Armee. Angegriffen von einer der größten Militärmächte Europas, ohne Armee, mit selbst gebastelten Waffen oder Holzteilen, die in eine waffenähnliche Form geschnitten wurden, damit die Angreifer aus der Ferne denken man hätte Waffen und nicht erkennen, wie hilflos man wirklich ist. Ohne Uniformen, in Jeans und Turnschuhen. Die meisten „Soldaten“ waren einfache Zivilisten – Mathelehrer, Kellnerinnen, Rentner, die nur zwei Optionen hatten: Im Keller auf den eigenen Mord warten, oder sich wehren.
Doch im Gegensatz zur Ukraine wurde Bosnien nicht erlaubt, sich zu wehren. Es ist kein Geheimnis, dass der damalige Präsident Frankreichs, François Mitterrand, Bosniens Unabhängigkeit nicht gefiel. Laut Bill Clintons Biografie sahen britische Diplomaten den vierjährigen Genozid als „schmerzvolle, aber notwendige Rückkehr zum christlichen Europa“. Auch andere EU-Diplomaten teilten die Auffassung, ein muslimisches Land in Europa wäre „unnatürlich“.
Die Armee Bosniens kämpfte hart und mutig, vier Jahre lang. Doch wie kann man sich widersetzen, wenn fast der ganze Kontinent gegen einen ist? Wenn man kaum Unterstützung hat?
Ukrainische Soldaten werden in Medien, Politik und Gesprächen überwiegend als Helden gesehen. Die Javelins, mit denen sie russische Panzer zerstören, wurden zum Symbol des Widerstandes. Ein einziger Javelin mit einer einzigen Rakete kostet mehr als alle Waffen, die die gesamte Stadt Srebrenica hatte, um sich zu verteidigen. Das Resultat davon ist ja bekannt.
Niederländische Friedensstifter beschmierten Srebrenicas Wände mit rassistischen Graffiti, serbische und russische Mörder beschmierten sie mit Blut. Französische, britische und deutsche Politiker sahen tatenlos zu. Europäische Zusammenarbeit.
All das ist nicht die Schuld ukrainischer Flüchtlinge. Diese Menschen machen gerade die grauenvollste Zeit ihres Lebens durch und versuchen einfach nur, durchzuhalten. Es ist die Schuld derer, die nicht erkennen, dass das gleiche auch für andere Flüchtlinge gilt.