Die islamische Rechtswissenschaft beschäftigt sich mit sämtlichen Bereichen des Lebens und muss sich auch mit den neuen Fragen, die die digitale Welt mit sich bringt, befassen – und sie auch beantworten. Ein Gastbeitrag.
Alles im Universum verändert sich. Das einzige, was sich nicht verändert, ist die Veränderung selbst – das wusste man schon in der Vergangenheit und auch der moderne Mensch ist sich dessen bewusst. Schwerer zu verstehen ist da schon die Schnelligkeit, mit der in unserem heutigen digitalen Zeitalter diese Veränderung vonstattengeht. Geschwindigkeit ist wohl das, was am meisten hervorsticht, wenn es um die Charakterisierung der modernen Welt geht.
Durch die Digitalisierung werden wir Zeugen von einer Veränderung in allen Lebensbereichen, wie es sie in dieser Art und Geschwindigkeit im Laufe der Geschichte noch nie gegeben hat. Auch Wissen zu schaffen und der Zugang zum Wissen selbst sind sehr viel schneller und einfacher geworden. Laut Berechnungen kursiert heute millionenfach mehr Wissen im Internet, als im Laufe der Geschichte angesammelt worden ist.
Die digitale Welt verändert auch das Verständnis des Begriffes „Wissen“ selbst. Heute steht weniger die Qualität des Wissens im Vordergrund, als seine Quantität. Wichtig ist weniger der Inhalt des Wissens, als vielmehr die Schnelligkeit, mit der es erzeugt wird und wie schnell es mit der Masse geteilt werden kann. Die Digitalisierung des Wissens hat auch neue negative Aspekte mit sich gebracht, wie Informationsverschmutzung oder übermäßigen und ungeregelten Wissenskonsum.
Das digitale Leben hat die Wahrnehmung des modernen Menschen von Kommunikation und Sozialität einer tiefen Veränderung unterzogen. Internet und soziale Medien haben die Kommunikation von ihrer Begrenzung durch Ort und Zeit befreit. Sie haben dem Menschen, der von Natur aus ein kommunikationsfreudiges Wesen ist, auch an anderen Orten ermöglicht, online und zur Kommunikation bereit zu sein. Damit nicht genug, beschränkt sich in diesem technologischen Zeitalter die Kommunikation des Menschen nicht mehr nur auf seine eigene Art. Er kann jetzt auch ein Netzwerk von interagierenden physischen Objekten oder deren Einbindung in noch größere Systeme kontrollieren. Kühlschränke, die Bescheid geben, wenn ihr Inhalt aufgebraucht ist, oder eigenständig neue Lebensmittel bestellen – die Technologie des Internets der Dinge (IoT) macht so etwas möglich.
Produkte des digitalen Zeitalters wie die künstliche Intelligenz, Big Data, Augmented Reality und die Metaverse nehmen immer schneller und fühlbarer Einfluss auf unser Alltagsleben. Apps, die uns ermöglichen einzukaufen, ohne ins Geschäft zu gehen, Bankgeschäfte zu erledigen, ohne zur Bank zu gehen, Online-Vorlesungen, Fahrzeuge ohne Fahrer, operierende Roboter, Chips, die den Gesundheitszustand feststellen und überwachen, Updates, die weder Ruhe noch Schlaf benötigen, künstliche Gliedmaßen usw.
All diese neuen Dinge, die mit der Digitalisierung einhergegangen sind, beeinflussen sowohl die religiöse Praxis im Alltag als auch das Verständnis von Religion und Religiosität. Betrachtet man die Bereiche, in der sich dieser Einfluss zeigt und die Kraft, mit der er dies tut, dann wird klar, dass das Thema Digitalisierung ein sehr vielschichtiges ist, das zum Untersuchungsbereich zahlreicher Disziplinen gehört. Der vorliegende Text präsentiert einige Erwägungen dazu, welche Haltung die islamische Rechtswissenschaft gegenüber der Digitalisierung einnimmt.
Im Folgenden wird die Digitalisierung und der Fiqh in zwei Bereiche unterteilt: Erstens, die Digitalisierung von Arbeitsprozessen, der Fiqh selbst und zweitens, die Statthaftigkeit der digitalen Güter mitsamt den Problemen, die sich durch die Digitalisierung ergeben.
Mit digitaler Fiqh-Anwendung ist gemeint, dass Arbeitsprozesse im Zusammenhang mit der Fiqh durch die Anwendung neuer Technologien digitalisiert werden. Digitalisierung in dieser Kategorie kann man als „Fiqh-Technologie“ bezeichnen. Als Beispiel mögen die gegenwärtig verfügbaren digitalen Fiqh-Produkte gelten:
Apps, die Gebets- und Fastenzeiten angeben; Programme, die die Zakat und die Erbschaft berechnen; Online-Enzyklopädien, die einen leichten Zugang zu den Quellen der Fiqh ermöglichen; Kanäle in sozialen Medien; Online-Plattformen, die einen schnellen Zugang zu benötigten aktuellen Fatwas ermöglichen; Online-Foren und Symposien, die Fiqh-Gelehrten einen Ideenaustausch ermöglichen; online verfügbares Material für die Fiqh-Ausbildung sowie E-Learning; auch die unlängst angekündigten VR-Brillen, mit denen es möglich ist, die Kaaba zu sehen und einem das Gefühl der Berührung zu vermitteln, können dazu gerechnet werden.
Die digitalen Fiqh-Anwendungen standen unter Kritik. So wie man schon die Druckereien kritisierte, dass die Kalligrafen und Kopisten nun erwerbslos werden würden, so wurde darüber diskutiert, ob es aus Sicht der Religion erlaubt sei, den Koran mithilfe von digitalen Medien hören oder lesen kann. Ähnlich ist es heute, wenn über die Social-Media-Anwendungen des Internets diskutiert wird, mit dem Argument, dass dadurch die Gewinne der Telekommunikationsunternehmen geschmälert würden und auch zum Thema für eine bilanzrechtliche und gesetzliche Regelung werden. Die Möglichkeiten und Vorteile führten dazu, dass die Diskussionen bezüglich des theologischen Urteils zu diesen neuen Produkten über kurz oder lang zu nostalgischen Erinnerungen gehören werden.
Etwas anders in unserer schnelllebigen Epoche ist aber die relativ kurze Zeitspanne, nach der schon die Diskussion über die Legitimität der neuen digitalen Produkte an Aktualität verliert. Dass diejenigen, die noch bis vor ein paar Jahren mit religiösen Argumenten untermauerte Fatwas herausgaben, welche die Verwendung des Internets verboten, heute selbst zu Phänomenen der sozialen Medien geworden sind, ist ein prägnantes Beispiel dafür. Kurz gesagt, ist es an der Zeit ist, im Bereich der Fiqh-Technologien zu investieren, um Zuverlässigkeit, Ergiebigkeit und finanzielle Vorteile zu sichern. Man muss es als Chance, und Notwendigkeit sehen, die Fiqh-Praxis zu digitalisieren, unter der Bedingung, die möglichen Risiken abzuwägen und eine Gewinn-Verlust-Rechnung zu erstellen.
Der zweite Bereich der Beziehung zwischen Digitalisierung und Fiqh ist die Frage, ob digitale Güter sich in Harmonie mit den Gesetzen der Fiqh befinden sowie die Analyse aus der Sicht derselben der Probleme, die sich aus der technologischen Entwicklung ergeben.
Es ist klar, dass die Fiqh, sämtliche Bereiche unseres Lebens umfasst und uns alles ermöglicht, auch im Bereich der digitalen Innovation etwas zu sagen hat. Dabei ergeben sich aber eine ganze Reihe von Problemen: Unklarheiten, Probleme der Kontrolle, Verwirrung um die Zuständigkeit und mangelnde Wirksamkeit der Regelungen. Was ist, wenn etwa falsche Accounts verwendet oder es durch entfremdete Verwendung von Computersystemen zu Cyber-Kriminalität kommt und die Täter aufgrund mangelnder Beweise nicht festgestellt werden können? Was kann man tun, wenn die Verbrechen, die mit digitalen Werkzeugen verübt werden, in einem anderen Land stattfinden, wo es eine Gesetzgebung wie in dem betroffenen Land selbst nicht gibt?
Falls man das Verbrechen und die Täter ermittelt, wird es nun möglich sein, eine internationale Gesetzgebung anzuwenden? Wer haftet im Falle von Problemen bei fahrerlosen Fahrzeugen oder Operationsrobotern, sind es die Softwarefirmen? Oder die Besitzer dieser autonomen Maschinen? Wenn Handlungen im wirklichen Leben von der Fiqh nicht gebilligt werden, gilt dies dann auch in jeder Hinsicht in der Metaverse?
Wenn man diese und ähnliche Fragen aus dem Blickwinkel der Fiqh untersucht, kann man grundsätzlich die zu verfolgenden Ansätze folgendermaßen zusammenfassen: Zunächst sollte man den Ansatz aufgeben, unter dem Vorwand, dass das Internet Möglichkeiten bietet, die im islamischen Recht nicht gebilligt werden, die Nutzung aller digitaler Produkte als illegitim zu erklären. Es muss jedes einzelne Produkt auf sämtlichen Ebenen daraufhin überprüft werden, inwieweit es den Gesetzen der Fiqh entspricht und das Urteil muss unter Berücksichtigung sämtlicher Vor- und Nachteile gefällt werden. Da es in den virtuellen Medien ständig zu Veränderungen kommt, müssen auch die Urteile der Fiqh nach Bedarf aktualisiert werden. Zum Beispiel sollte schnellstens wieder auf die rechtliche Situation von Kryptowährungen eingegangen werden, die bis heute nicht erlaubt wurden, weil sie mit vielen Unsicherheiten behaftet sind, sobald diese Unsicherheiten bereinigt worden sind.
Bei der Urteilsfindung müssen auch die Paradigmenwechsel berücksichtigt werden, die sich durch die Digitalisierung ergeben. Dass in der modernen Welt nämlich die Veränderungsgeschwindigkeit der Dinge, zusammen mit der Globalisierung, immer vertrackter werden, erschwert es, klare Grenzen zu ziehen und allgemeingültige Urteile zu fällen. Es ist zum Beispiel keine Frage, dass das Familienleben, das „mahram“ bleiben soll, unbekümmert im Netz zu teilen, nicht gebilligt werden kann. Auch die Wahrnehmung des Begriffes „mahram“ hat sich geändert. Es wäre nicht zufriedenstellend zu sagen, dass jemand, der verschiedene Gegenstände bei sich zu Hause fotografiert, diese dann teilt, und seinen Lebensunterhalt damit verdient, den Mahram-Zustand verletzt hätte.
Ein weiteres Prinzip für eine Urteilsfindung gemäß der Fiqh besteht darin, alle Ergebnisse von Innovationen, die für die digitale Welt spezifisch sind, aus einer breiteren Perspektive zu betrachten. Experten sagen zum Beispiel, dass die Verwendung von Profilen und Avataren in der virtuellen Welt, wenn das auch keine Schuld oder Sünde darstellt, zur Ausbildung von Persönlichkeiten mit Doppelcharakter und Disidentifikation führen kann. In ähnlicher Weise sagt man auch, dass ein Übermaß an Wissen das Denkvermögen vermindert und zu Oberflächlichkeit führt. Auch gibt es Fälle, in denen Wissen durch unqualifizierte Personen missinterpretiert oder von böswilligen Personen missbraucht wird.
Während der Pandemie wurde im weltweiten Maßstab der Online-Unterricht durchgeführt. Trotz zahlreicher Vorteile hat sich aber auch gezeigt, dass er den Präsenzunterricht nicht ersetzen kann. Auch haben neue Krankheiten und Süchte Eingang in die medizinische Literatur erhalten. Darunter „Crackberry“ (ohne Telefon nirgends hingehen können), „Netlessphobia“ (in einer Umgebung ohne Internet nicht sein zu können), oder „photolurking“ (stundenlang in den sozialen Medien die Alben der Menschen stöbern). Es ist also für einen Rechtsgelehrten unumgänglich, sich mit all diesen Situationen auseinanderzusetzen.
An dieser Stelle sollte daran erinnert werden, dass das islamische Recht ein Rechtssystem ist, das dem Einzelnen sowohl eine weltliche als auch eine jenseitige Verantwortung auferlegt und daher sein Gewissen anspricht. So geben uns die folgenden Ratschläge des Propheten einen allgemeinen Rahmen dafür vor, wie man sich den Unklarheiten der digitalen Welt gegenüber verhalten soll: „Halal und Haram sind deutlich, aber haltet euch fern von Zweifelhaftem (um eure Religion zu schützen)“[1]; „Wenn die Muftis auch ein Fatwa erstellen (dafür, das etwas zulässig ist), so befragest du trotzdem dein Herz.“[2]
[2] Ahmed b. Hanbel, Müsnad, 1/194