Immer mehr Menschen depressiv – auch Muslime. Doch dafür sollte sich keiner schämen. Wie wir ein besseres Bewusstsein für psychische Erkrankungen aufbauen können, erklärt Dr. Ibrahim Rüschoff. Eine Kolumne.
Da Depressionen in ihrer Symptomatik oftmals der Trauer ähneln, sind sowohl Patienten als auch Angehörige häufig verwirrt, wenn sie unerwartet auftritt und damit nachvollziehbar wird. Auch bei der Manie, das Gegenteil der Depression, zeichnet sich durch eine plötzliche und unerklärliche Stimmungsaufhebung aus, wobei die Betroffenen wenig oder gar nicht mehr schlafen, sich übermäßig aktiv verhalten und maßlos und unkontrolliert planen. Häufig schädigen sie dadurch ihren Ruf nachhaltig. Diese Patienten zeigen jedoch meist so starke soziale Auffälligkeiten, dass sie schnell behandelt werden, oft auch gegen ihren Willen, weil sie sich gesund fühlen und sich dementsprechend wehren.
Depressive neigen dagegen zu eher stillen Verhaltensweisen und sind seltener auffällig. Da die Symptome auch die Gefühle betreffen und diese „niederdrücken“ (deprimieren), spüren die Patienten weniger und in schweren Fällen auch gar nichts mehr. Sie suchen nach einer Erklärung für ihre Krankheit und sind verzweifelt, wenn sie sehen, dass ihre Liebe zu Gott und zu ihren Angehörigen abnimmt oder gänzlich verschwindet. Sie bemerken auch, dass ihnen das Gebet und andere Aktivitäten, die sie früher gerne ausgeübt haben, zunehmend gleichgültig sind und dass sie sich nicht mehr konzentrieren können. Ihre Gedanken beschäftigen sich den ganzen Tag mit diesem Zustand.
Für die meisten muslimischen Patienten ist ihre Depression eine Reaktion auf dieses vermeintliche Nachlassen ihres Glaubens. Angesichts dessen versuchen sie verzweifelt mehr zu beten oder im Koran zu lesen. Oft werden sie durch ihre Familien und auch den Imamen darin bestärkt, obwohl sie sich quälen und am Ende erleben müssen, dass es nicht gebracht hat. Doch das Nachlassen ihres Glaubens ist keine Ursache der Depression, sondern deren Folge. Klingt die Krankheit wieder ab, kommen diese Dinge zurück!
Die beschriebenen Dinge sind ein wichtiger Grund für die häufige Tabuisierung der Depression bei Muslimen: sie schämen sich für ihr Erleben und sprechen nicht darüber, sondern leiden an ihren Schuldgefühlen, fühlen sich bestraft für „Sünden“, denen sie in gesunden Zeiten kaum einen Gedanken schenken, wie einmal zu jemandem nicht freundlich genug gewesen zu sein.
Man „darf“ auch keine religiösen Zweifel haben und schon gar nicht darüber sprechen, man muss brennen für seine Religion und sich bemühen, koste es, was es wolle. Ein großes Problem entsteht zusätzlich dadurch, dass Patienten nicht über Suizidgedanken sprechen, die bei Depressionen, insbesondere schwereren Verläufen, sehr häufig sind. Selbstmord ist im Islam natürlich verboten und wird regelmäßig als Ausdruck eines schwachen Glaubens gewertet, der von Allah als Sünde bestraft wird. So heißt es in einem Hadith: „Wer sich von einem Berg herabstürzt und Selbstmord begeht, ist im Höllenfeuer und stürzt sich dort immer wieder herab. Wer Gift zu sich nimmt und Selbstmord begeht, hat das Gift in der Hand und nimmt es in der Hölle für immer zu sich. Und wer sich mit einer Waffe tötet, hat die Waffe in der Hand und ersticht sich damit im Höllenfeuer für immer.“
Es ist hochproblematisch, einen solchen Hadith einfach und unterschiedslos auf depressive, suizidale Menschen anzuwenden. Nach meiner jahrelangen psychiatrischen Erfahrung mit vielen hundert depressiven Muslimen kann ich nur sagen, dass sie eben nicht frei und für ihr Fühlen verantwortlich, sondern wirklich krank und ihren Symptomen ausgeliefert sind!
Was können wir gegen diese Tabuisierung tun, und wie können wir ein besseres Bewusstsein für psychische Erkrankungen schaffen? Dieses Bewusstsein ist von verschiedenen Faktoren abhängig und hat sich auch in der Allgemeinbevölkerung erst in den vergangenen Jahrzehnten langsam verändert. Es hat z. B. viel mit Bildung zu tun, mit Wissen über Krankheiten und deren Charakter. Auch in unserer modernen Industriegesellschaft glauben viele Muslime noch an Aberglauben, und sie neigen dazu, psychische Erkrankungen als Folge von Dämonenbesessenheit oder Zauberei zu betrachten, obwohl es eine wissenschaftliche Erklärung für sie gibt und psychische Erkrankungen nicht nur bei Muslimen auftreten.
Andererseits ist es wichtig, dass psychisch Kranke in der Gesellschaft sichtbar sind und nicht wie früher in abgelegenen, großen Spezialkliniken ausgesondert werden. Jeder Landkreis hat heute seine psychiatrische Abteilung, ähnlich wie eine chirurgische oder internistische Station in einem Krankenhaus. Weiterhin ist es wichtig, dass Patienten sich outen und nicht unbedingt verheimlichen, dass sie psychisch krank sind, und den Umgang mit ihnen ermöglichen, den anderen zu zeigen, dass psychische Erkrankungen nicht ansteckend und psychisch kranke Menschen nicht gefährlicher sind als andere.
Die Muslime des europäischen Mittelalters können uns als Vorbild dafür dienen, wie man mit Vorurteilen umgeht. Ihre damalige Gesellschaft glaubte, dass psychische Erkrankungen von Dämonen und Hexen verursacht würden, was zu einer aufgeklärten Haltung gegenüber der Welt führte. Der Koran ist voll von Aufforderungen, hinzuschauen, nachzudenken und die Welt so zu sehen, wie sie ist. Handeln wir danach! Vielleicht kann meine Reihe zu psychischen Erkrankungen ihren Teil dazu beitragen.