Antimuslimischer Rassismus fördert die gesellschaftliche Ausgrenzung und Markierung von Menschen als „Muslime“. Wir sprachen mit der Rassismus- und Migrationsforscherin Iman Attia über Hintergründe und Ursachen dieses Phänomens.
Iman Attia ist seit 2009 Professorin für Diversity Studies/Rassismus und Migration; Theorien, Methoden und Praxis interkultureller Sozialer Arbeit an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Orientalismus und antimuslimischer Rassismus. Frau Attia ist zudem unter anderem Mitglied im Rat für Migration, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Avicenna Studienwerks und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Jahrbuchs für Islamophobieforschung.
IslamiQ: Frau Attia, Sie beschäftigen sich seit den 90er Jahren mit dem Themengebiet des antimuslimischen Rassismus. Wie werden die Begriffe „antimuslimischer Rassismus“, „Islamophobie“ und „Islamfeindlichkeit“ definiert? Wie lassen sich diese Begriffe voneinander abgrenzen?
Iman Attia: Islamophobie hat in Deutschland eine andere Begriffsgeschichte als in Großbritannien, wo sie zumindest zunächst als Form von Rassismus eingeführt wurde. Sie findet in verschiedenen Kontexten wie z. B. Alltag, Medien, Communities und Wissenschaft, teilweise unterschiedliche Bedeutungshorizonte.
In den Sozialwissenschaften in Deutschland ist Islamophobie vor allem im Kontext von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und den „Deutschen Zuständen“ konstruiert worden, zusammen mit dem Begriff der Islamfeindlichkeit. Dort wird sie verwendet, um negative Vorurteile in der deutschen Bevölkerung gegenüber Muslimen zu bezeichnen. Sie wird argumentativ in den allgemeinen Zusammenhang von gesellschaftlichen Entwicklungen im Verhältnis von Politik und Kapital gebracht und spezifisch mit der Unfähigkeit der Politik begründet, ihre Bürger zu schützen, die Angst vor islami(sti)schem Terrorismus hätten.
Im Unterschied dazu bezieht sich der Begriff des antimuslimischen Rassismus auf folgende Zusammenhänge: Muslime und Menschen, die als Muslime markiert werden, werden als homogene, essentialistische, dichotome Gruppe konstruiert, die im Verhältnis zur ebenfalls konstruierten Eigengruppe als weniger zivilisiert, weniger emanzipiert, weniger frei und weniger fortschrittlich konstruiert wird
Es werden Diskurse und Bilder mit Bezug auf den Jahrhunderte alten Orientalismus aktualisiert und mit Diskursen und Politiken aus kolonialen und nazistischen Kontexten gekreuzt. Auch mit dem Ende des Kalten Krieges gibt es Überschneidungen zum politischen Feindbild Osten, dann über Arbeitsmigrations- und Flüchtlingsdiskurse neue Einflüsse – und das Ganze mit Schnittstellen zu anderen gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Vor allem bei solchen Themen wie Geschlecht, Sexualität und Klasse. Also haben wir es mit einer komplexen diskursiven Formation zu tun, einem Netz an vermeintlichem Wissen über Muslime als die Anderen Europas, die durch besondere Nähe eine Grenzziehung notwendig zu machen schienen.
Diese Diskurse gehen mit politischen Entwicklungen und Interessen einher, so dass sie schnell aktiviert und öffentlich nutzbar gemacht werden können, transformiert werden oder neue Inhalte bekommen. Das heißt, Bürger, häufig ohne entsprechenden gesellschaftlichen Status, als Muslim zu adressieren, ist bereits Ausdruck ihrer Veränderung und der Rassismus gegen sie erschöpft sich weder in negativen Vorurteilen noch in Angriffen gegen sie als religiöse Menschen bzw. ihre Religion.
Insbesondere werden soziale Vorwürfe und kulturelle Grenzziehungen getätigt. Die Markierung als Muslime de-thematisiert soziale, gesellschaftliche und politische Probleme, wie z. B. die Migrationspolitik, fehlende Sprachkurse, Kettenduldungen, Perspektivlosigkeit, Arbeitsverbote oder institutionelle Diskriminierungen, in dem sie argumentativ mit der fremden Religion und Kultur in einen Zusammenhang gebracht werden.
Während also Islamophobie von tatsächlich unterschiedlichen Gruppen ausgeht und die Vorurteile als Angst deutet, setzt der antimuslimische Rassismus am Otheringprozess an und thematisiert das diskursive, gesellschaftliche und politische Machtverhältnis und damit einhergehende Ausschlüsse.
IslamiQ: Was sind die Ursachen zunehmender anti-muslimischer Ressentiments in der deutschen Gesellschaft?
Iman Attia: Ich bin mir nicht sicher, ob die antimuslimischen Ressentiments bzw. der Rassismus in der Gesellschaft zunehmen. Denn es beginnt sich erst seit einigen Jahren ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass das „Wissen“, also die Rassismen, über markierte Muslime und die Art, wie mit ihnen umgegangen wird, ein Problem sein könnte. Es gibt erst seit einigen Jahren Studien über das quantitative Ausmaß.
Ich habe Anfang der 1990er in einer qualitativen Studie im Wesentlichen die gleichen Rassismen gefunden, die wir heute auch haben. Einiges von dem, was „Muslime“ heute erleben, haben sie bzw. ihre Großeltern vor Jahrzehnten als „Fremde“ oder als „Ausländer“ erlebt, bzw. die Begründungen für die Markierungen und Ausschlüsse haben sich verschoben – teilweise jedenfalls.
Anders ist heute, dass viele derjenigen, die als Muslime markiert werden und entsprechende Erfahrungen machen, Teil der Gesellschaft sind und Gleichberechtigung und Partizipation einfordern, sich öffentlich und deutlich wehren und ihre Erfahrungen kommunizieren. Sie werden zwar immer wieder als Fremde behandelt, fühlen sich aber nicht so und wollen auch nicht als solche angesprochen werden. Dennoch kann es sein, dass sich einiges bündelt und zuspitzt, aber dazu gibt es keine verlässlichen Daten, weil es bis vor kurzem kein Problembewusstsein diesbezüglich gab.
Anders sieht es aus, wenn man sich die politischen und medialen Debatten anschaut bzw. die Gesetze im Zusammenhang mit Muslimen. Da gibt es Einiges, was es vor ein paar Jahren nicht gab, aber auch hier stellt sich die Frage, ob Restriktionen gegen und Fokussierungen auf Muslime früher im Wesentlichen die gleiche Gruppe getroffen hat, die aber als Ausländer, Türken, Araber, Arbeitsmigranten und Flüchtlinge bezeichnet wurden.
IslamiQ: Lassen sich Parallelen zum bestehenden Antisemitismus ziehen?
Iman Attia: Im Verhältnis zum Antisemitismus gibt es einige Schnittstellen, Parallelen und gemeinsame Bezüge. So wären beispielsweise zu nennen, die Kritik an der Beschneidungspraxis und Schächtpraxis, Anschläge auf Synagogen und Moscheen, Ablehnung von „Misch“ehen, die Diskussionen um Zugehörigkeit zu Staat und Nation, die Konstruktion von Gruppenzugehörigkeiten über Religion, die Rassialisierung, Ethnisierung und Kulturalisierung von Religion, Vorwürfe wie man wolle die Weltherrschaft und andere Bedrohungsszenarien. Vieles ist weniger zeitgleich zu vergleichen, eher mit einem Jahrhundert zeitlicher Verschiebung.
Aktuelle Schnittstellen lassen sich aber auch finden. Zu nennen wäre etwa die Kritik an Israel versus Kritik an Palästinenser oder Araber, „neuer“ islami(sti)scher Antisemitismus versus kolonialer Rassismus in Israel oder den Siedlungsgebieten. Aber auch über Solidarität zwischen Juden und Muslimen, insbesondere in der Diaspora, wie etwa beim Mord an der Muslimin Marwa el-Sherbini oder im Zusammenhang mit Debatten wie etwa der Beschneidungsdebatte.
Im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gibt es natürlich keine Parallelen, wohl aber Effekte des Nationalsozialismus, die auch Muslime betreffen. Der Postnazismus hat die deutsche Gesellschaft insgesamt geprägt und hat insbesondere im Zusammenhang mit Asyl und Migration, der Bewertung des Nahostkonflikts und Israels Folgen für als Muslime markierte Menschen.
IslamiQ: Wie beurteilen Sie die Entwicklungen seit der Sarrazin-Debatte im Hinblick auf das Phänomen des nunmehr salonfähig gewordenen Rassismus?
Iman Attia: Der Rassismus war vorher schon salonfähig. Sarrazin hat einiges zugespitzt, aber in beide Richtungen – Einigen hat er auch die Augen geöffnet. Sie haben Zusammenhänge zwischen alltäglichen, auch eigenen Verstrickungen in rassistische Diskurse und sarrazinsche Auswüchse gesehen und angefangen, alltäglichen antimuslimischen Rassismus zu reflektieren, den sie zuvor nicht wahrnehmen wollten oder konnten.
Aber es gibt Andere, die sich nun trauen, mit Sarrazin im Rücken Einiges deutlicher auszusprechen. Ich würde also sagen, er hat die Debatte in beide Richtungen zugespitzt bzw. in verschiedene Richtungen.
Insgesamt ist das, was als zunehmender antimuslimischer Rassismus thematisiert wird, häufig eine Differenzierung in verschiedene Richtungen: es gibt deutlichere negative, aggressive Grenzziehungen und Anfeindungen, aber es gibt auch sehr viel mehr Reflexion, ernsthafte Beschäftigung, Erschrecken, Solidarität und Differenzierung.
IslamiQ: Wie kann man gegen anti-muslimischen Rassismus vorgehen?
Iman Attia: Auf allen Ebenen, auf denen antimuslimischer Rassismus wirkt, sei es strukturell, institutionell, diskursiv oder inter-subjektiv, kann er zum Gegenstand der Auseinandersetzung und der Intervention werden: Durch Reflexion, durch Zuhören, durch Differenzierung, durch Gesetze oder ihre Abschaffung, durch die Aufhebung von Arbeitsverboten, durch Quotierung, durch die Analyse und Überwindung institutioneller Diskriminierung etc. – durch alle Maßnahmen, die dazu beitragen, gleiche Rechte für alle und gleiche Möglichkeiten zur Partizipation für alle einzulösen.
Sobald es Religionsunterricht an Schulen gibt, müssen die verschiedenen vertretenen Religionen und die Möglichkeit keiner Religion anzugehören gleichermaßen berücksichtigt werden. Wenn Menschen arbeiten, um sich selbst zu ernähren, dann muss das für alle gelten – auch für Frauen mit Kopftüchern und für Menschen ohne oder mit prekärem Aufenthaltsstatus.
Wenn es Volksabstimmungen gibt, dann müssen alle, die dort ihren Lebensmittelpunkt haben, sich daran beteiligen können und nicht nur jene mit deutschem Pass. Wenn Kinder in der Schule singen oder etwas über Geschichte lernen, dann darf sich das nicht an einem antiquierten, homogenisierenden Volks- oder Nationenverständnis orientieren.
Wenn Museen oder Musikschulen über Steuergelder finanziert werden und keine Sondereinrichtungen für spezifische Bevölkerungsgruppen sein sollen, dann muss sich die Diversität der Gesellschaft und der Sichtweisen in ihrem Angebot und ihrem Personal wiederfinden.
IslamiQ: Wie schätzen Sie zukünftige Entwicklungen ein, um die Gesellschaft für dieses Thema zu sensibilisieren?
Iman Attia: Schwer zu sagen. Rückblickend ist einiges geschehen. Ich erlebe in Seminaren und Vorträgen viel mehr Zustimmung bzw. kann schneller in Details und in die Tiefe gehen, weil es bereits Auseinandersetzungen gibt – das war vor 20 Jahren noch nicht so. Prognosen kann ich aber keine machen.