Psychologische Beratung

Muslime und Sucht – Ist der Glaube zu schwach?

Die Sucht ist nicht nur ein Randproblem der Gesellschaft, sondern betrifft viele Menschen in Deutschland. Auch Muslime. Wie es ist, daran zu erkranken – und was hilft, erklärt Dr. Ibrahim Rüschoff.

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03
2023
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Symbolbild: Sucht © shutterstock, bearbeitet by iQ
Dr. Ibrahim Rüschoff über Sucht © shutterstock, bearbeitet by iQ

Sucht und Abhängigkeit sind gekennzeichnet durch einen starken und nicht kontrollierbaren Drang zum Konsum und eine Unfähigkeit, diesen zu kontrollieren. Der Konsum gewinnt zunehmend an Bedeutung und bestimmt zunehmend das Denken und Handeln des Abhängigen, obwohl dieses Verhalten eindeutige Schädigungen und negative Konsequenzen nach sich zieht. In vielen Fällen kommt es zu Entzugssymptomen und einer Toleranzentwicklung, sodass der Konsum immer höher wird, um denselben Effekt zu erzielen.

Aus medizinischer Sicht unterscheidet man substanzgebundene Abhängigkeiten wie Rauschmittel (z.B. Alkohol, Drogen), Tabak, Schmerzmittel, Medikamente von substanzungebundenen Abhängigkeiten wie Spielsucht, Essstörungen (z.B. Magersucht), Internetsucht, Kaufsucht oder Pornografiekonsum. Grundsätzlich kann jedes menschliche Verhalten zu einer Sucht entarten. 

Ein paar Zahlen

In Deutschland trinken über 15-Jährige jährlich zehn Liter reinen Alkohol, 1,6 Millionen Menschen zwischen 18 und 64 Jahren sind alkoholabhängig, über 70.000 Menschen sterben jährlich an den Folgen ihres Alkoholkonsums. 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen sind medikamenten- und geschätzte 166.000 opioidabhängig (2016), zumeist von Heroin. 2021 wurden 1.826 Drogentote gezählt, 15 % mehr als im Jahr zuvor. Zudem sterben jährlich127.000 sterben jährlich an den Folgen des Rauchens. Die dabei verursachten Krankheitskosten belaufen sich auf über 20 Milliarden Euro jährlich.

Was sagt der Islam? 

Es gibt vermutlich keinen Muslim, der nicht weiß, dass berauschende Stoffe in seiner Religion verboten sind. So heißt es im Koran: „O die ihr glaubt, berauschender Trank, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Greuel vom Werk des Satans. So meidet ihn, auf dass es euch wohlergehen möge. Der Satan will zwischen euch nur Feindschaft und Hass sähen durch berauschenden Trank und Glücksspiel und euch vom Gedenken Allahs und vom Gebet abhalten. Wollt ihr damit nun aufhören?“ (5:90-91).

Auch wenn beim Thema Alkoholkonsum unter den Gelehrten Konsens herrscht, ist die Lage beim Rauchen nicht so eindeutig, sodass man in Deutschland aufgrund der vielen Nationalitäten und unterschiedlichen Rechtsschulen auf sehr verschiedene Zustände trifft. In den Freitagsgebeten der Moscheen wird jedoch ohne Ausnahme gepredigt, dass der Konsum von Alkohol, Zigaretten und ähnlichen Genussmitteln sowie Drogen, die den Verstand des Menschen trüben und Körper wie Seele vergiften, verboten ist.

Folgen der Sucht

Die Folgen von Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen betreffen besonders drei Bereiche: Sie betreffen in erster Linie die persönliche Gesundheit, die Allah uns anvertraut hat und für das wir verantwortlich sind. Die obigen Zahlen verdeutlichen die Bedeutung des Themas. Der zweite Bereich betrifft das unmittelbare soziale Umfeld, insbesondere die Familien, wo in mehr als der Hälfte von häuslicher Gewalt die Täter unter dem Einfluss von Alkohol und anderen Suchtmitteln stehen. Aber auch Spielsucht verursacht große familiäre Probleme, vorwiegend, wenn der Hauptverdiener spielsüchtig ist und die Familie wirtschaftlich ruiniert. Als dritten Bereich betrifft Sucht aber auch die Gesellschaft als Ganzes, zu der auch wir Muslime zählen und für die wir eine Mitverantwortung tragen: Verkehrsunfälle und Straftaten unter Alkohol, Beschaffungskriminalität bei Drogenabhängigkeit, Kosten für die Volkswirtschaft und das Gesundheitswesen.

Muslime und der Umgang mit Sucht

Wir müssen uns eingestehen, dass auch Muslime in den oben genannten erschreckenden Zahlen enthalten sind. Mag der Alkohol vielleicht nicht unser größtes Problem sein, sind es allerdings Tabak-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit. Auch die Spielsucht tritt immer wieder auf. Für die meisten Muslime ist Sucht ein besonders heikles Thema, da sie zumeist in religiösen und moralischen Zusammenhängen beurteilt und mit persönlichem Versagen und schlechtem Glauben assoziiert wird. Sucht und Abhängigkeit sind schwere Krankheiten, aus denen Patienten nicht mehr herausfinden und die Krankenkassen die Behandlungskosten übernehmen. Dennoch besteht ein hohes Maß an Tabuisierung und Verleugnung, was eine sachgerechte Behandlung erschwert oder unmöglich macht. 

Die Süchtigen betonen, dass sie eigentlich jederzeit aufhören könnten. Die Familien sorgen sich, dass andere davon erfahren und versuchen, die Betreffenden durch Liebe und Nachsicht von ihrer Sucht abzubringen, was aber nicht funktioniert und nur Enttäuschungen nach sich zieht. Auch führen falsch verstandener Gehorsam und Respekt vor den Eltern dazu, dass z.B. der spielsüchtige Vater immer wieder Geld einfordert oder zweckentfremdet und sich niemand traut, dagegen etwas zu unternehmen. 

Eine professionelle Beratung aufsuchen

Es ist für alle schwierig, ein liebevolles, aber dennoch konsequentes Vorgehen an den Tag zu legen und klare Forderungen aufzustellen, sich in einer Suchtberatungsstelle beraten zu lassen und vielleicht sogar die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung anzustreben, um den Ruin der Familie aufzuhalten. Dabei geht es oft um hohe Beträge und Schulden, Betroffene und Angehörige sollten sich daher an den Hausarzt oder eine Suchtberatungsstelle zwecks einer professionellen Beratung und Therapie wenden, die sie im Internet über den Wohnort und die Postleitzahl suchen können.

Laut dem pädagogischen Prinzip „Ihr könnt eure Kinder erziehen, wie ihr wollt, sie werden euch dennoch alles nachmachen!“, sind die Vorbildfunktion der Eltern und die Fähigkeit zu konstruktiven Gesprächen und Konfliktbewältigung in den Familien von großer Bedeutung, sodass man möglichst nichts mehr „untertauchen“ oder sich „zudröhnen“ muss. 

Die muslimische Gemeinschaft kann und sollte sich auf der gesellschaftspolitischen Ebene für das Verschwinden von Zigarettenautomaten aus der Öffentlichkeit und für ein Verkaufsverbot von Alkohol an Tankstellen einsetzen. Ein solches Verbot würde vermutlich tausende Rückfälle verhindern. Die 16,8 Mrd. Euro Einnahmen aus der Alkohol- und Tabaksteuer (2021) können somit für Prävention und Behandlung zur Entlastung der Krankenkassen verwendet werden.