Seit dem 1. April ist Murat Gümüş vom Islamrat der neue Sprecher des Koordinationsrats der Muslime (KRM). Im IslamiQ-Interview sprechen wir mit ihm über den Monat Ramadan, die Deutsche Islamkonferenz und den Wahlkampfveranstaltungen in Moscheen.
IslamiQ: In den vergangenen Jahren fand der Ramadan im Schatten der Pandemie und deren Vorschriften statt. Wie verläuft der Ramadan dieses Jahr in den KRM-Moscheen?
Gümüş: Im vergangenen Ramadan waren die Maßnahmen wegen deutlich sinkender Fallzahlen schon gelockert worden und der Fastenmonat verging viel entspannter als 2021. Nach zwei aufeinanderfolgenden Jahren, in denen der Ramadan unter strengen Maßnahmen stattgefunden hatte, konnten 2022 die Muslime die Traditionen des Ramadans in den Moscheen unter weniger einschränkenden Bedingungen genießen. Koran-Lesungen, Iftar-Einladungen und Tarâwîh-Gebete waren unter nicht allzu restriktiven Regelungen möglich.
Allah sei Dank, erleben wir dieses Jahr die Atmosphäre des Ramadans ohne all diese Maßnahmen. Die Freude darüber ist aber auch getrübt, da wir bei den Koran-Lesungen, Iftar-Einladungen und Tarâwîh-Gebet auch die Abwesenheit unserer Geschwister spüren, die wir während der Pandemie verloren haben.
Im Vergleich zum Ramadan in den vergangenen Jahren kommen jetzt sehr viel mehr Besucher in unsere Moscheen. Viel mehr Menschen nehmen an den Iftar-Essen teil und auch die Tarâwîh-Gebete sind viel besser besucht. Das Wichtigste und Erfreulichste ist dabei die große Anzahl junger Menschen insbesondere beim Tarâwîh-Gebet und den Morgengebeten, was man fast überall beobachten kann. Denen, die die klassische Frage stellen, wo denn die Jugendlichen geblieben sind, kann ich in diesem Ramadan antworten: „Beim Tarâwîh-Gebet!“
IslamiQ: Sie haben Anfang April die Sprecherschaft im KRM übernommen. Wo sehen Sie im KRM noch Handlungsbedarf?
Gümüş: Als der KRM vor 17 Jahren gegründet wurde, war er eigentlich als gemeinsames Beratungs- und Austauschgremium der Mitgliedsreligionsgemeinschaften gedacht. Es sollte um Beratung und Austausch hauptsächlich in oder zu den Bereichen des islamischen Religionsunterrichts an Schulen, islamisch-theologische Institute an Universitäten, später muslimische Wohlfahrtspflege und Ähnliches gehen. Es wurden Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem KRM gesammelt. Ich bin überzeugt, dass der Bedarf an zwischen verbandlichem Austausch und Koordinierung mit den Jahren gestiegen ist und dass sich das auch in den Strukturen des KRM niederschlagen müsste und wird. Besonders wichtig finde ich, dass die Jugendlichen der Mitgliedsorganisationen, die die Arbeit des KRM übernehmen werden, zusammenkommen und sich damit befassen, was sie jetzt schon gemeinsam alles unternehmen können.
IslamiQ: In Deutschland leben etwa 6 Millionen Muslime. Es wird behauptet, dass der KRM nicht alle Muslime vertritt. Gibt es Pläne, den KRM zu erweitern?
Gümüş: Die Behauptung, die Mitgliedsgemeinden des KRM würden nicht die Mehrheit der Muslime in Deutschland repräsentieren, beruht auf einem Denkfehler und ist in gleich mehrfacher Hinsicht falsch. Selbstverständlich vertreten Religionsgemeinschaften die Gläubigen, aber das ist nicht ihre Hauptaufgabe. Der Sinn einer Religionsgemeinschaft und ihrer Dienste besteht nicht in erster Linie in der Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder oder Besucher. Das würde sie gleichsetzen mit Parteien, Gewerkschaften oder anderen Interessenvertretungen.
Das Band zwischen einer Religionsgemeinschaft ist weit über den Zweck der Interessenvertretung hinausreichend und vollzieht sich auf einer diesseitigen wie auch jenseitigen, theologischen wie auch sozialen, gemeinschaftlichen wie auch persönlichen, freudigen wie auch seelsorgerischen Ebene. Die Mitglieder im KRM umsorgen die Muslime von der Wiege bis ins Grab und darüber hinaus in allen nur erdenklichen Lebenslagen. Sie bieten ein sehr breites Spektrum an theologischer, spiritueller, gottesdienstlicher wie auch sozialer, seelsorgerischer und freizeitlicher Angebote bzw. Dienste an.
Die allermeisten Muslime in Deutschland kommen entweder mit allen oder einzelnen dieser Dienste in Berührung. Ob es sich dabei um die zwei Festtagsgebete im Jahr handelt oder um die Beerdigung von Bekannten, spielt für die Gemeinschaften keine Rolle. Daher ist es falsch, das Verhältnis zwischen den Religionsgemeinschaften und Muslimen in formellen Mitgliedschaften ähnlich wie bei den Kirchen auszumachen, sondern an den aussagekräftigeren Voraussetzungen ‚Vertrauen, Kompetenz und die Inanspruchnahme einiger religiöser Dienste‘ aus dem umfassenden Gesamtspektrum.
Die einzigen Organisationen, die ein ähnliches Leistungsspektrum anbieten und nicht Mitglied des KRM sind, sind die bosnischen Gemeinden. Wir arbeiten aber bereits mit ihnen zusammen und auch mit ihnen wurden Gespräche über einen KRM-Beitritt begonnen.
IslamiQ: Hat sich durch den politischen Wechsel im Innenministerium für Muslime und muslimische Gemeinschaften etwas geändert? Insbesondere im Kontext der Deutschen Islamkonferenz.
Gümüş: Ja und nein. Eine Veränderung gibt es. Während der Amtszeit von Herrn Seehofer wurde bei der Eröffnungsrede zur vierten Runde der Deutschen Islamkonferenz die steigende Islamfeindlichkeit nicht erwähnt. Die jetzige Innenministerin, Frau Faeser, hat der Islamfeindlichkeit in ihrer Eröffnungsrede zur fünften Runde einen breiten Raum gewidmet. Aber: Sieht man sich die Themen von Frau Ministerin Faeser genauer an, erkennt man eine Fortsetzung des Kurses der DIK, dessen Weichen in der Amtszeit von Herrn Seehofer gelegt wurden: Imam-Ausbildung, Projektunterstützung für Integrationsprojekte von Moscheen, Suche nach einem direkten Kontakt zu lokalen Moscheen bei gleichzeitiger – im Vergleich zu den vorigen Runden -Distanzierung von den Dachverbänden der Gemeinden oder Antisemitismus unter Muslimen. Das alles sind Themen, die schon in der Ära Seehofer und auch zuvor davor auf der Agenda waren.
Ich denke, dass die Deutsche Islamkonferenz einen eigenen Fahrplan hat, der über den Parteien steht. Jeder neue Minister oder jede neue Ministerin, welche Partei auch immer, kann seine oder ihre eigenen Nuancen hinzufügen, aber der Kurs bleibt weitestgehend gleich. Dieser Kurs ist darauf ausgerichtet, das politische Klima stärker im Blick zu haben als die wesentlichen Bedarfe der Muslime. Auch und gerade bei der Themenbesetzung und der Auswahl der Akteure, die bei der DIK „mitreden dürfen“. Daraus eine Balance zu schaffen, ist schwierig. Im politischen Wettbewerb und in der aktuellen Atmosphäre des weitverbreiteten Argwohns gegenüber Muslimen und ihren Organisationen kann man mit den Anliegen der Muslime keine Stimmen holen. Im Gegenteil, viele Politiker betrachten den Dialog mit Muslimen als Risikofaktor, der ihnen Stimmen kosten könnte. Wichtig finde ich deshalb, dass Muslime Instanzen bilden, in denen sie unabhängig vom politischen Klima ihre eigenen Bedarfe artikulieren, sie sammeln und darüber ihr Agenda Setting durchführen können.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Deutsche Islamkonferenz nicht unergiebig war, sondern einen ernsten Beitrag dazu geleistet hat, eine Tradition des Dialogs zwischen muslimischen Gemeinschaften und dem Staat zu etablieren. Sie ist eine Plattform mit einem hohen symbolischen Wert. Dabei darf man aber nicht übersehen, dass diese Plattform nicht unabhängig vom politischen Klima ist. Die Themenwahl einzig ihr zu überlassen, würde weder ihr noch den Muslimen nutzen. Muslime müssen ihre eigenen Instanzen zur Themenwahl bilden und sie stärken – unabhängig vom politischen Klima.
IslamiQ: Aktuell hat die Menschheit viele Krisen zu überwinden. Vorwürfe gegenüber Muslime stehen nicht mehr so im Fokus wie vor einigen Jahren. Können sich Muslime nun auf ihre eigene Agenda konzentrieren? Wenn ja, um welche Themen handelt es sich dabei?
Gümüş: Obwohl in Europa negative Nachrichten über Muslime in Europa nicht mehr ganz oben auf der Tagesordnung stehen und die von Ihnen erwähnten Themen die Schlagzeilen nicht dominieren, zeigen dennoch die jüngsten Umfragen, dass die negative Wahrnehmung zum Islam und Muslimen weiter anhält. Mit anderen Worten: Es scheint, Vorurteile gegenüber Muslimen hätten sich langfristig in den Köpfen festgesetzt. Das bedeutet, dass sobald die Tagesordnung sich wieder ändert und Muslime wieder vermehrt mit negativer Konnotation in den Schlagzeilen dominieren, dass diese Schlagzeilen auch weiterhin eine große Abnehmerschaft haben. Das haben wir zwischenzeitlich in den Diskussionen um den Gebetsruf der Kölner DITIB-Zentralmoschee gesehen. Deshalb muss der Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung weitergehen, so wie auch die Bemühungen, mit Andersgläubigen zusammenzukommen und Dialogräume zu schaffen.
Des Weiteren sind innerhalb der muslimischen Gemeinschaft neue Bereiche entstanden, die gefördert werden müssen. Dazu gehören die Fürsorge und die Pflege der nun alternden ersten und zweiten Generation. Wir müssen die Bedürfnisse ihrer Familien und Betreuer ermitteln und zur Pflege der Senioren und der Unterstützung ihrer pflegenden Familien helfende, unterstützende und entlastende Maßnahmen ins Leben rufen. Das ist eigentlich eines der wichtigsten Themen und erfährt kaum Beachtung.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Ungleichbehandlung bzw. Diskriminierung, die junge Muslime immer wieder und insbesondere in Bewerbungsverfahren erfahren. Sie sind gut ausgebildet, ambitioniert, hoch motiviert, möchten, was aus sich machen. Sie können einen hervorragenden Beitrag in Wirtschaft, Wissenschaft und in Ämtern leisten. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele. Jedoch werden auch sie aus den Berufen herausgehalten, für die sie sich haben ausbilden lassen.
IslamiQ: Bald finden in der Türkei Wahlen statt. Auch innerhalb des KRM gibt es Religionsgemeinschaften, in denen türkeistämmige Muslime in großer Zahl organisiert sind. Es gibt viel Kritik, vorwiegend an Wahlkampfveranstaltungen, die in Moscheen stattfinden. Gibt es diesbezüglich Vorschriften oder Einschränkungen in den Moscheen des KRM?
Gümüş: Grundsätzlich sind alle unsere Moscheen für jedermann und -frau zugänglich, jeder bzw. jede kann sie besuchen. Das gilt natürlich auch für Politikerinnen und Politiker. Wenn sie in der Moschee beten und anschließend beim Verlassen der Moschee mit den Besuchern über Gott und die Welt plaudern wollen, dann können sie das tun. Gerade jetzt, während des Ramadan, kommen auch viele deutsche Lokalpolitiker in die Moscheen zum Iftar. Sie unterhalten sich dabei vor und nach dem Essen mit den Gemeindemitgliedern.
Was wir nicht wollen, ist, dass Wahlkampf in den Moscheen betrieben wird oder die Moscheen zu diesem Zweck aufgesucht werden, oder gar solche Situationen eintreten, wie wir sie vor einigen Wochen in Neuss hatten. Das darf natürlich nicht sein. Dieser Grundsatz gilt für alle Politiker und für alle Wahlen, egal wo sie stattfinden. Moscheen sind überparteiliche Orte, und das muss von allen Besuchern respektiert werden. Der KRM hat in dieser Angelegenheit keine Regeln aufgestellt. Das regeln die Mitgliedsorganisationen selbst. Ich kann jedoch sagen, dass sich alle Mitgliedsgemeinden des KRM in dieser Frage einig sind: Unsere Moscheen, in denen wir beten und deren Türen allen Menschen offenstehen, sind keine Orte, in der Parteipropaganda gemacht werden darf. Wenn aber hier oder da einige sich nicht daran halten sollten, einige Politiker sich nicht beherrschen und ein gutes Wort für die eigene Partei legen sollten, dann sollte das auch nicht gleich zum Politikum gemacht werden. Besucher der Moschee können solch ein Verhalten schon gut einordnen.